Dienstag, 31. Oktober 2023

3453 Nichts anzufangen

 



8:00 a.m. Ein nebelgrauer Morgen. Ich hocke warm zugedeckt im Bett. Nicht ungemütlich das Ganze, dennoch umschleicht mich ein Unbehagen. Das könnte mit Angst zu tun haben. Angst vor den Entwicklungen in der Welt und deren Auswirkungen auf mein Leben? Möglich. Hilfesuchend schaue ich auf die kleine Bilderwand am Fußende des Bettes. Mein Blick bleibt bei einer kleinen Zeichnung von mir hängen, wo ich mich als Vortragender vor einer kleinen, andächtig zuhörenden Runde dargestellt habe, der etwas auf einer Tafel erklärt (old school). Ein Wunschbild war das damals vor Jahren, als ich es gezeichnet habe. Jetzt kann ich mir eine solche Szene nicht einmal vorstellen. Also, was ist mit diesem Unbehagen? Mehrmals entkrampfe ich mein linke Hand. Nichts zieht. Alle meine Blicke: Nieten. Unter meiner Zeichnung hängt Modiglianis Prostituierte, dorthin sind meine Augen abgerutscht und weit weg vom Aufgeilen an der nackten Gestalt sehen sie die schier unglaubliche Masse an Traurigkeit in diesem Bild. Ich lasse meinen Blick nun leise über die ganze Bildwand gleiten und allmählich stellt sich so eine Art Empfinden ein. Dafür bleibt die große Bücherwand dahinter ganz leer. Jetzt lande ich bei meinem ständigen Selbstzweifel; ich meine, dass ich sie als Phänomen im Blick habe. Das Gift, das mein ganzes Leben, mein Tun vergiftet hat. Und jetzt? Jetzt ist meine Stimmung auf einem normalen Level für einen Morgen, mit dem ich aber noch immer nichts anzufangen weiß.


(31.10.2023)


Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3452 Zurück

 



22:54. Mir ist schwer ums Herz. Von der kleinen Reise zurückgekehrt, fällt es mir schwer, mich wieder einzufinden. So wirklich verstehe ich das nicht; ich weiß nicht wirklich, was mich so traurig macht. Fühle ich mich wieder an den Rand geschoben? Ich weiß es nicht. Ich lege mich jetzt schlafen; vielleicht spricht man im Traum zu mir.


(29.10.2023)


Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3451 Eigenartige Transaktion

 



„Ein eigenartiger Fall hat sich ereignet“ (Daniil Charms), eine eigenartige Transaktion: ich bin da irgendwo am flachen Stadtrand, schaut ein bisschen wie ein Strand aus, aber ich kann mich an kein Meer erinnern, jedenfalls ist dort ein Mann, der Kaffee ausschenkt. Keine Hütte, kein Kiosk oder ähnliches, nein, er steht einfach in der Landschaft und verkauft Kaffee. Ein paar andere Typen sind um ihn herum, so ein bisschen nach Gang, und warum ich als viel älterer Außenseiter auch dort bin, weiß ich nicht. Dieser Mann hat eine Idee für eine illegale Transaktion, die uns alle reich machen wird, nur braucht er dafür einen unschuldigen, polizeilich unbelasteten Strohmann. Weil alle anderen Typen schon kleinkriminell vorbelastet sind, wenden er sich an mich, meinen Namen herzugeben, dass ich irgendwo – er weiß genau wo – Geld ausborge, mit dem die Geldbeschaffungsmaschine gestartet wird. Er behauptet, dass nichts schief gehen kann und dass niemand geschädigt wird, denn fünf Minuten nach der Geldüberweisung auf mein Konto werden alle Schulden zurückgezahlt und es gibt keine offenen Rechnungen mehr und keine Geschädigten. Es geht nur um die Initialzündung. Ja, es ist diese Transaktion damit sofort nicht mehr illegal. Ich bin skeptisch und mißtrauisch, denn ich vermute, dass alle kriminellen Machenschaften, die im Gefängnis enden, mit solchen todsicheren euphorischen Ideen beginnen. (Allerdings auch alle Machenschaften, die zu übermäßigem Reichtum führen, vermutlich.) Ich kenne mich bei Geldangelegenheiten überhaupt nicht aus (weiß zum Beispiel nicht, wie man Sonderausgaben von der Steuer absetzen kann; etwa meine Psychotherapie) und bin für solche Aktionen viel zu naiv und weltfremd. Aber ich kann dem Druck nicht standhalten und stimme irgendwann dem Vorhaben zu und schon leitet der Ideengeber alles ein. „Geld schon auf deinem Konto“ sagt er, und: „Jetzt sind schon alle Schulden bezahlt! Es hat geklappt. Nichts mehr ist illegal.“ Ich bleibe unsicher und skeptisch. Da sehe ich ein Polizeiauto heranfahren. „Ich bin erledigt!“ denke ich, aber die Polizei ist nur gekommen, um Kaffee zu trinken.

Sollte es tatsächlich geklappt haben? Ich sehe schon – wie bei manchen Krimis im Fernsehen die SMS - in Zahlen vor mir eingeblendet, wie ein Betrag nach dem andern auf mein Konto eintrifft. Die Maschine funktioniert und läuft. Sollte es wirklich geklappt haben? Werde ich jetzt nicht verfolgt sondern reich? Vorsichtig traue ich dem Manöver, beginne zu hoffen und traue mich, mich schon ein wenig auf meinen Reichtum zu freuen.




(29.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 28. Oktober 2023

3450 Das Weiler-Bild

 

Am Himmel gleißt das schlecht verdeckte Sonnenlicht des Nachmittags. Die Scheiben der Fenster in der Hotellobby sind klar und fehlerfrei geputzt (nur ein Fensterflügel hat Feuchtigkeit zwischen den zwei Scheiben und die bildet die Form eines nach unten gerichteten Pfeils). Die Oberkörper der draußen vorbei Flanierenden sind ganz akkurat zu sehen. Die Sonne kommt nun durch und stellenweise herein in den Saal. Manchmal sehe ich den Glanz in den Augen der Passanten, manchmal das Suchende. Zwei stehen weiter drüben am diesseitigen Flußufer und blicken zur Mur hinunter. Manchmal ist der Glanz in den Augen ängstlich oder schüchtern oder schuldbewußt zurückgehalten. Der Besuch der Sonnenflecken erhellt den Raum. Die Uferbäume geben ihr Bestes. Die Sonne wird stärker. Die gelben Pappelblätter zittern wieder. Was für ein Leben! Die Sonne wird schwächer. Mein Blick rutscht vor Müdigkeit unter die Höhe der Fensterbretter und verläuft sich über Sitzmöbel und die Teppiche. Das Innenlicht, das Sonnenlicht und die hausinternen Spiegelungen gehen eine Emulsion ein. Das Universum führt mir vorm Fenster ganz unterschiedliche Typ:innen vor, ohne das die es merken. Wieder fällt mein Blick zu Boden. Draußen spuckt ein Mann aus, nachdem er aus dem Auto gestiegen ist. Die Sonne kommt leise wieder, ich merke es am Leuchten am Teppich. Auf der Halterung des Rückspiegels des soeben geparkten Autos explodiert eine kleine Sonne und stahlt rundherum ab. Die Kante des großen Couchtisches blendet in ihrer Abstrahlung. Selbst die grüne Vase der Pflanze vorm Spiegel glänzt vor lauter draufgeworfenen Abbildern irgendwelcher räumlicher Details, die in der Verzerrung von hier aus nicht erkennbar sind. Ein Spinnenfaden an der Säule der Straßenlaterne glitzert die zehn Meter bis hierher. Ich kann mir nicht helfen: mir scheint, fast alle Vorbeigehenden haben es nicht ganz getroffen; ich kann an dieser Parade nichts anderes sehen. Aber ich will vorsichtig sein: vielleicht bin ich es, der blind ist.

Schon ist es Nacht. Die Passanten sind durch die Fenster nur mehr schemenhaft zu sehen, wenn bei ihrem Vorbeigehen für den Bruchteil einer Sekunde etwas Licht aus der Hotellobby auf sie fällt. Dafür hört man den Verkehrslärm stärker. Nicht nur mein Handy düdelt, aber hier sind jetzt nur Leser. Ich lese neben dem Weiler-Bild von 1990 Isaak Steinbergs „Gewalt und Terror in der Revolution“ und die Gedichte von Christine Lavant habe ich auch noch am Tisch liegen. Ich kriege diese Ausdehnung schon hin; daran zerreißt meine Energiegestalt nicht. Ich drehe mich jetzt zum Weiler-Bild hin um es zu betrachten: Diese durchaus fröhliche, aber niemals kindische Farbigkeit, diese unglaubliche Leichtigkeit und diese – verwenden wir ruhig den in der Kunst schon fragwürdigen Begriff – erfrischende Transparenz (was ich alles nur schwer mit der Person des Künstlers in Übereinstimmung bringen kann) bewirken, dass mir das Herz aufgeht und sich mein Atem weitet. Diese Sorgfalt in der Arbeit, die so mühelos daherzukommen scheint, der genaue, geduldige Blick auf den Gegenstand, auf „die Natur“! Hell erleuchtet fährt die Straßenbahn vorbei und zieht meinen Blick ab. Dieses Weiler-Bild erhebt den ganzen großen Raum. Jemand geht nun unter ständigem Schuhgeklopfe nervös auf und ab. Ich greife jetzt zu den Gedichten.

(28.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 27. Oktober 2023

3449 Im Kunsthaus Graz

 

13:01.  Ich sitze an der offenen Seite der halbrunden künstlichen Mauer im Kunsthaus Graz. Die Fläche, die diese Mauer umfaßt, ist für drinnen groß. Die Menschen davor – jetzt sind gerade einige in das zentrale Halbrund hereingekommen – heben sich stark vom Grau der Mauer ab. Ich nehme an, die Mauer ist aus Ytongwürfel, ohne Kleber aufgeschlichtet. Natürlich macht auch die Halle des extravaganten Museumsbaus raumgestalterisch etwas aus, wobei diese Mauer deren aufgewirbelten Charakter beruhigt. Jetzt bin ich hier wieder allein. Ein wenig wirkt das wie eine Memorialmauer, nur namenlos. Die Menschen, die hier hereinkommen, werden hier – ob sie es wollen oder nicht – zu Darstellern. Jede ihrer Bewegungen, Haltungen, Posen bekommen Bedeutung (oder deren Bedeutung wird durch das Setting hervorgeholt). Ich bin von einer Besucherin fast unbemerkt photographiert worden – diese Bedeutungssache funktioniert wechselseitig). Jetzt  sitze ich nicht mehr allein auf der Bank; der junge Mann neben mir verwendet Parfum; eh dezent. Auch er photographiert die Mauer, die sich aus dem Halbrund heraus noch länger hinzieht, so wie ich es vorhin getan habe, und steht dann auf und geht ab. Die Geräusche der Lüftungsanlage wirken unter dem “Druck“ des Ambientes wie ein antiker, aber sprachloser, menschenleerer, abstrakter, anonymer Chor in diesem Theater. Jetzt schweigt der Chor und treibt nicht mehr das Geschehen weiter und man und frau hören einzelne Menschenstimmen, die jedoch schon wieder abgehen. Die Leuchtspiralen an den Deckenfenstern sind sehr stark. Die Lüftung (oder Klimaanlage) springt wieder zu ihrem monotonen Singsang an. Hat sie etwas zu sagen? Kommentiert sie das Stück? Ein akustisches Mene mene tekel upharsin? „Gewogen und zu leicht befunden“? Ich stehe jetzt auf und gehe ab.

Farblich bin ich jetzt via Pilotstift blauer geworden und ich blicke durch die ebenerdige Glasfront zur Muruferstraße hinaus. Mir ist heiß, ich bin zu warm angezogen. Ich lege mein Sakko nicht ab. Und immer wieder diese seriösen, ernsthaften Bäume; hier der Ufersaum. Vom vollen Café her der Schwall der vielen Gespräche; draußen die Karawane der Autos, die immer wieder an der Kreuzung von der Ampel eingebremst wird. Die hin und her gehenden Museumsbesucher:innen, manche zielgerichtet und in Eile, manche flanieren entspannt.

(27.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3448 Regen in Graz

 6:35 a.m.  Graz. Der Regen prasselt seit einer Viertelstunde. Ein stiller Morgen am Fuße des Schlossbergs. Ich betrachte aufmerksam die Altersflecken an meiner leicht verkrampften linken Hand. Ja schau nur genau hin, dass dein Geist und deine Psyche er sich abgewöhnen, dich dauernd jünger machen zu wollen (die Seele darf jung bleiben). Jetzt rinnt die Nase. Meine Frau hüpft und springt im Sonnengruß. Der Regen wird heftig. Ich freue mich schon aufs Hotelfrühstück: Hmmm! Kaffee, Käse, Schinken, Wurst, Speck, Ei … seltene Genüsse. Das Geräusch des Regens hüllt mich hier im Trockenen bergend, schützend und wohlwollend ein. Ich scheine viel Zeit zu haben. Draußen ist es noch ganz  finster. Der Regen läßt nach; es gluckern noch fröhlich die abfließenden Wässerlein. Ich glaube nicht, dass der Regen schon gänzlich aufhört. Meine Frau ist jetzt im Kopfstand. Ich überprüfe meinen Mundgeruch, indem ich in die vor meinem Mund zu einer Hohlform zusammengelegten Hände hauche und diese ausgeatmete Luft in die Nase aufziehe. Erstaunlich: es regnet nicht mehr. Kirchenglocken läuten, ich nehme an zur Morgenmesse. Mir notorischem Langschläfer tut diese frühe Zeit gut. Ich öffne das Fenster, beuge mich hinaus und sehe, wie sich der Schlossberg herunterwölbt; fast scheint es, als wollten seine herbstlichen Bäume hereingreifen. Der Regen wird wieder stärker.

10:53 a.m.  Nach dem Frühstück im schönen Aufenthaltsraum mit der alten Holzdecke (alt, nicht rustikal aufgemotzt) und neben dem Bild von Max Weiler (und neben meiner Frau) blicke ich durch die zwei Fenster über die Mur hinweg zur Minoritenkirche und die Bäume am Flußufer. Die Mur sehe ich von hier aus nicht, denn sie liegt tiefer, aber den heftigen Regen und das Zittern der letzten Blätter an der Pappel  (ist es der Wind? Ist es der Regen?). Weil ich sie darauf hingewiesen habe, erklärt meine Frau die dezente, weibliche Musik aus den Lautsprecherboxen zu ihrer Lieblingsmusik für den Moment. Meine Vermutung, wer da spielt und singt, wird falsch gewesen sein. Quietschende Schritte in der Hotellobby. Ich bin gar nicht so ein Lobbyist, aber heute schon. So viele Bilder hier im Hotel, viele Frühwerke von einheimischen Berühmtheiten sind dabei. Eine Straßenbahn im traditionellen Grün-Weiß (Steiermark! Nicht Rapid! Hier regiert der SK Sturm!). Menschen mit Schirmen gehen vorbei (gegehen habe ich – handschriftlich – geschrieben; mein Gehirn arbeitet fehlerhaft. Was will mir meine Seele sagen?). Die  Prozession der Schirmträger:innen hat etwas Melancholisches. Linie 5 nach Andritz fährt vorbei. Ich greife zu dem Buch mit den Gedichten (Christine Lavant). Nein, zuerst doch noch zu Isaak Steinbergs revolutionär-sozialistischer Revolutionskritik.

(27.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 25. Oktober 2023

3447 Als Verwalter

 



10:11 a.m. Die Katz’sche „Junge Frau“ hat heute einen Blaustich. Die Tauler-Predigten sind blau. Die Sentenzen des Heiligen Thomas von Aquin sind grün. Mein Augen müssen sich erst richtig einstellen. Mein Geist träumt noch ein wenig. Lauernde Anspannung, aber im Moment drifte ich in ruhigen Gewässern auf mein Lebensende zu. Ein tiefer Atemzug. Sprecht mit mir, ihr Gegenstände, wozu seid ihr sonst da? Sagt mir, wie meine Aktien stehen! Wann löst sich mein verstopftes Herz? Mit dem Tod fällt die Beschreibung, die wir zwischen uns und der Welt geschoben haben, und wir sehen. Schade, wenn wir dies nicht vorher, bei voller Lebenskraft geschafft haben (jetzt ist es zu spät). Das graue Licht am Fenster, seine Ableger all überall im Zimmer, vor allem an den Kanten der Gegenstände (es heißt ja, man muß Kante zeigen). Unten baut sich das Leben neu auf. Meines ist nur mehr schwer reformierbar; ich werde mehr zu einem müden, armen Verwalter meines armseligen Bestandes (armselig? Je nachdem, wie man es sieht). Als Verwalter nicht so wach, einfallsreich, flexibel, rücksichtslos und schlau wie der in Lukas 16, 1-8. Ich denke an den Neptun; beschützt er mich oder läßt er mich auflaufen?




(25.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3446 Den Tag abschließen

 



3:07 a.m. Jetzt erst das Buch beiseite gelegt und vorhin erst das Laptop zugeklappt, wo ich in meinen eigenen, alten Texten gewühlt habe. Und nun die laute Stille der tiefen Nacht: still, weil es keinen Laut gibt; laut, weil es in meinen Ohren schrill und heftig surrt. Verhalten schaue ich zu meinem Bücherregal, weil es halt da vor mir an der gegenüberliegenden Wand steht, aber sehen mag ich es nicht, nur vage wahrnehmen. Denn ich bin dabei, den Tag abzuschließen.




(25.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 24. Oktober 2023

3445 Graustich

 



Schwer fällt es mir, eine bequeme Sitzposition auf dem fragilen Sessel zu finden, wie ich da so in den grauen Tag hinausschaue. Grau sind die Hausfassaden, grau der Himmel, selbst das verhaltene Rot der Dachziegel und das müde Grün der Hofbäume haben einen leichten Graustich bekommen. Ich jedoch liebe die Melancholie. Ich spüre gern die Traurigkeit in der Welt, die noch viel tiefer geht, als wir denken. Ach und der Wind geht tanzend durch die Bäume – ich habe es schon oft beschrieben und unzählige Male betrachtet – und das rührt mich immer noch. Die schon längst getrocknete Wäsche hängt an den Wäscheleinen hier im ehemaligen Atelier und ich überlege gerade, ob ich sie gleich abnehmen soll.

Ich habe die Wäsche abgenommen und jetzt ist es heller hier. Im Nacken und im Hinterkopf haben sich Reste von Schwindel und Übelkeit gesammelt, möglicherweise von den Bewegungen beim Wäscheabnehmen. Ein Tageskind – zu früh vom Mittagsschlaf aufgewacht – weint und beruhigt sich nur schwer, aber dann doch unter dem melodiösen Summen seiner Betreuerin. Die Welt steht still, zittert nur ein wenig in diesem verhaltenen Zwischenstadium. Ein Fliege taucht plötzlich aus dem Nichts auf, fliegt surrend umher (ja, das Geräusch, das sie macht, klingt eher nach kargem, trockenen Surren als nach vollem, fetten Summen). Ich schaue auf die deutlichen Blätter der Monstera, dann auf die anderen Topfpflanzen und den Wäschestapel am niederen Kasten, den Stapel, den ich gerade aufgeschichtet habe. Ist das die Quintessenz meines Lebens? Der melancholische Blick auf und durch das Fenster? Ich suche den Raum von meinem Sessel aus nach irgendwelchen Hinweisen ab, ich versuche das Getänzel der Zweige im Hof zu verstehen; aus dem kurzen Flug einer Amsel will ich herauslesen. Jetzt werden die Tageskinder wach und das hiesige Leben wird stärker. Mein Blick bleibt an einem aus dieser Perspektive unmöglich erscheinendem Spinnengewebe hängen.




(24.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3444 Blick hinter meinen Kleiderstuhl

 



10:15 a.m. Hinter meinen Kleiderstuhl und hinter den Schreibtisch habe ich einen kleinen Durchblick unter das Fensterbrett auf ein Stück Heizkörper unter dem Fenster und dort tanzt ein weißes Spinnennetz in der Aufwärme und leuchtet aus der dunklen Ecke hervor. Eine aufgeregte Erwartung hat mich aus meiner Müdigkeit – immerhin habe ich mich gestern heute morgen erst gegen halb vier ins Bett gelegt – aufgescheucht. Passagen aus „Niandra LaDes and Usually Just A T-shirt“ spielen sich noch durch mein Inneres; dieser unglaublich schöne, zerrissene und traurige Gesang, dieses unglaublich schöne, zerrissene und traurige Gitarrengezupfe von John Frusciante, die CD, die ich mir gestern zweimal angehört habe. Ich liebe es, wenn sich Musik so bruchstückhaft auch immer in mir nachspielt.

Ganz gesund bin ich noch nicht, ich spüre noch – die innere Musik ist jetzt weg - ein Einknicken in mir und einen befremdelnden Sound im Gesurre. Auch die inneren Vibrationen fühlen sich leicht übertrieben an. Bei einem ganz leichten, ganz fernen Anklang von Übelkeit ein starkes Bedürfnis mich zu stärken und ordentlich zu essen.




(24.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3443 Der stille Herbst in Hof 3

 



13:26. Der stille Herbst in Hof 3 (der Herbst kann still sein, auch wenn es rundherum laut ist). Nicht weit vom Narrenturm (ich kann ihn durch das Tor sehen). Links von mir ein laut und lebhaft turtelndes Paar; sehr cooles Gerede („geil! geil! geil!“). Für Studenten scheinen sie mir zu überwutzelt (zu alt); Künstlerszene? (Musik?) („geil! geil! geil!“) Ich weiß nicht, warum mich das traurig macht. Neid? Mag sein. Bin mir nicht sicher.

Zurück zum Herbst. Die Sonne kommt soeben über den Dachfirst und hat zeitweise wolkenfrei. Der Dialog neben mir nimmt gegen meinen Willen meine Aufmerksamkeit in Beschlag; wirklich zuhören kann ich auch nicht. Platzwechsel? Aber wohin?

Im Hof 5. Baustellenlärm von irgendwo anders her. Hier ist die Sonne freundlich und friedlich gegen die alten Hausfassaden, die sie mit so schönen, elegischen Schatten bewirft. Was für eine Sehnsucht! Wo kommt diese alte, frühe Sehnsucht her? Ich verstehe das Gefühl nicht. Was kann an einer Fassade so anziehend sein? (Der Wind geht von rechts nach links und treibt viele Blätter.) Es ist ja nicht so, dass die früheren Zeiten gut waren. Das waren sie nicht. (Jetzt treibt der Wind die Blätter von links nach rechts.) (Und dreht sich wieder.) Auch hinter diesen Fassaden gibt es keinen Schutz und hat es auch nie einen gegeben. Warum dieses Gefühle angesichts der Sonne auf den alten Hausfassaden? Woran wollen sie mich erinnern?




(23.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 20. Oktober 2023

3442 J.S. Bach

 



13:11. Pierre-Laurent Aimard hämmert mich und meine Seele mit der „Kunst der Fuge“ zurecht und hilft mir so aus meiner Verwirrung und Auflösung. Bald werde ich den Krankenstand aufgeben können und mich den Alltagspflichten widmen. Die Struktur ist zurückgekommen und innere Festigkeit gewonnen. Mit festem und federndem Schritt will ich meinen Lebensweg zu Ende gehen und nicht dauernd verzagen. Noch hänge ich im Bett. Ich will das Stück zu Ende hören und meine Kräfte sammeln. Die Grenze zur Überladung sollte ich nicht verpassen. Darum jetzt wieder volle Konzentration auf die Musik (Überladung passiert nur, wenn man nicht richtig zuhört). (Runter vom Lehrstuhl! - der innere Kritiker).
Meine Konzentration beginnt nachzulassen. Ich bin doch noch etwas schwach.

So! Aufstehen! Baden! Bett abziehen! Wäsche waschen! (die Krankheit ist vorbei und ihr Schweiß gehört rausgewaschen). Küche und Geschirr. Wenn essen passt, dann essen. Die Texte eintippen. Staubsaugen morgen bei Tageslicht. (Warum diese Bürokratensprache? - der innere Kritiker). (Warum morgen? In meinem Zimmer wird es spät hell und früh dunkel.)

Mein Rasierapparat macht ein Geräusch wie ein Propellerflugzeug; meine Wahrnehmung ist noch nicht zur Gänze wiederhergestellt. Irgendwas manipuliert und zerrt daran herum.


(20.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3441 Speikübel

 



11:05 a.m. Mein Blick an der Bücherwand rauf und runter, hin und her, wie der eines Bergsteigers vor einer Felswand, um eine gute Aufstiegsroute zu finden. Noch ist es nicht vorbei, noch immer überkommen mich leichtere Anfälle von Übelkeit. Apropos Aufstieg: meinen gesellschaftlichen Aufstieg kann ich vergessen; von dem sollte ich nicht einmal mehr träumen. Das Geheule von unten zerrt an meinen momentan schwachen Nerven. Aber damit es kein Mißverständnis gibt: das ist alles auszuhalten. Auch wenn ich nicht weiter weiß. Baden? Bettwäsche waschen? Aber kann ich das Bett schon wirklich verlassen oder haut es mich nochmals nieder? Wenn ich aufstehe, müßte ich auch das Zimmer saugen, was in dem kleinen, verstellten und labil eingerichteten Raum volle Konzentration und Wachsamkeit braucht. Schaffe ich das Zähneputzen oder wird mir beim Vorbeugen über das Waschbecken wieder schlecht? Ich werde ein paar Schritte und Tätigkeiten der harmloseren Art probieren. Wenn ich mich nur nicht täusche. Vielleicht kann ich schon den Speikübel neben dem Bett weggeben – sein Anblick bereitet mir schon Unbehagen.


(20.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3440 Es schaut nach Schlaf aus

 



8:38 a.m. Während irgendwo in der Nachbarschaft geklopft und gehämmert wird, ist bei mir – so scheint es – der Übelkeitsanfall vorbei. Ich vertrage schon den Haferbrei, den mir meine liebe Frau vor einer guten halben Stunde ans Bett gebracht hat. Schwach bin ich noch und zittrig, aber es dreht sich nicht mehr alles. Ich entkrampfe leidlich meine linke Hand (so ganz gelingt es nicht: ich klammere mich schon ans Leben, an mein Ego und an meine Gewohnheiten). Geträumt habe ich von Wolfgang Döbereiner als Autobuschauffeur, der aber an der Haltestelle, wo ich aussteigen wollte, nicht stehen geblieben, sondern einfach weitergefahren ist und dann noch die Richtung gewechselt hat, zurück zu der, aus der ich gekommen bin (da war ich etwas hilflos im Bus).

Sagen wir so: so schlecht ist das nicht da in meinem Bett, ich erlaube mir weiterzuschlafen, wenn ich es will, bis ich ganz auskuriert bin. Die Morgendämmerung ist eine gute Zeit (in meinem Zimmer wird es früh finster und spät hell). Ruhe ist eingekehrt und in meinem Inneren spielt es noch „Andando el Tiempo“ und bin versucht, den CD-Player einzuschalten, aber eine Scheu vor zu viel dichter Realität hindert mich daran. Warum soll die Musik nicht in meinem Inneren spielen? Dort ist sie zwar unvollständig, aber sicherlich heilsam. Ich versuche wieder meine linke Hand zu entkrampfen, die sich so fanatisch ans Notizbuch klammert, als könnte einem das vorm Ertrinken retten. (Vielleicht kann es das wirklich. Schreiben rettet meinen Lebensabend, den ich nicht wahrhaben will.) Und schon wieder die linke Hand, ich schüttle sie aus. Ich lege sie sanft an den Oberschenkel und nur mein halbierter Daumen hält das Notizbuch nieder. Mein Bewußtsein beginnt schon wieder abzugleiten, das heißt, es schaut nach Schlaf aus, nach erholsamen Schlaf.


(20.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3439 Ohne Titel (und: R.I.P. Carla Bley)

 



23:18. Oh Gott! War mir schlecht! Nach Stunden schaffe ich es jetzt, im Bett aufrecht zu sitzen und sogar eine CD einzulegen und abspielen zu lassen (R.I.P. Carla Bley; „Andando el Tiempo“). Dieses momentane Gleichgewicht ist äußerst fragil und von Übelkeit und Schwindel bedroht (ich wundere mich, dass schreiben geht), jedes Neigen des Kopfes, jede Drehung kann der Auslöser für Drehschwindel und hemmungsloser Kotzerei sein. Auch dass ich die Musik anhören kann und nicht mehr jeden Ton und jedes Geräusch als Bedrohung empfinde, macht Hoffnung auf baldige Wiederherstellung (diese Musikstücke sind mir allerdings, als ich im Bett darniederlag, durch den Kopf gegangen, deswegen habe ich sie ausgewählt und es gewagt). Lesen: njet! Internet: njet! Ich habe nämlich den Eindruck, die Augen haben die Krankheit herbeigeholt und jede Anstrengung ruft sie, die am Abgehen ist, wieder zurück. Diese wunderbare Musik festigt mich und erfrischt mein erschrockenes Herz. Auch der Schüttelfrost ist nur mehr eine ferne Bedrohung am Rande des Geschehens.

Eine kleine Mücke läßt sich auf meiner Bettdecke nieder. Ja, und der erste tiefe Atemzug seit Stunden (ich hatte während des Höhepunkt der Übelkeit vergeblich versucht, kraftvoll in den Bauch zu atmen). Oh wie fröhlich der Bass von Steve Swallow gerade seinen Lebenslauf entlang hüpft, sanft und präzis in ermutigenden Schlägen. Und nun spielt das wundervolle Saxophon von Andy Sheppard sozusagen die Oberstimme und leiht dem Schmerz seine menschliche Stimme, während das Klavier ganz fein und tapfer die traurige Zerrissenheit der Welt beschreibt und die schüchterne Existenz des Menschen in diesem geistverlassenen und ausgeleertem Ambiente. Es ist der Bass, der das gesamte Geschehen zusammen hält.

(19./20.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 19. Oktober 2023

3438 Deal

 



9:28 a.m. Ich schaue ins Hologramm meines immer noch abgedunkelten Zimmers, wie in die überzeichnete Szenerie eines Computerspiels. Das, was ich sehe, wirkt unecht und unrealistisch. Aber ich träume nicht. Der Anblick hält dem Realitycheck stand. Ich bin aufgewacht und kann nicht mehr schlafen. Etwas drückt mir massiv auf Seele und Geist. Das Unbehagen läßt mich nicht los. Die Angst sitzt im Gedärm, der Bauch rumort. Aber ich habe gerade herausgefunden, wie ich auf Telegram bereits abgeschickte Botschaften wieder löschen kann. Das erleichtert mich etwas, denn ich manövriere dort ohne Führerschein, Sachkenntnis und ohne Beherrschung des Gerätes und der Tools (Das kann man übrigens von meinem ganzen Leben sagen). Aber das war eine Ablenkung. Eine Erinnerung ist es, die mich aufwühlt, lahm legt und Angst macht.

Es ist die Erinnerung daran, wie ich vor zirka 15 Jahren (genauer kann ich es nicht einordnen) als erwachsener Mann auf dem Klo einer Badeanstalt in einer Nachbarkabine einen Missbrauch an einem Knaben mitgehört habe. Ich war sehr ruhig, darum wußte der Steirer (Dialekt) nicht, dass noch jemand in der Kloanlage ist. Zuerst habe ich auf das Gerede nicht geachtet, dann war ich alarmiert. Heute bin ich mir zu 98 Prozent sicher, dass ich die Szene richtig gedeutet habe. Aber als ich den Täter abgepasst habe und stellen wollte, hatte ich ein Flashback meines fast identisch abgelaufenen Erlebnisses als naiver Dreizehnjähriger, und war plötzlich völlig gelähmt, so dass ich nicht mehr reagieren konnte und wie zu einer Salzsäule erstarrt dagestanden bin. Beim Herauskommen des Täters aus der Kabine war ich plötzlich von seiner Selbstverständlichkeit, mit der er den Gang die Kabinen entlang zum Ausgang gegangen ist, so verunsichert und verwirrt, dass ich an mir und meiner Wahrnehmung zweifelte. Das ist so weit gegangen, dass ich den Vorfall nicht gemeldet habe, verstärkt dadurch, dass das im Ausland war und ich wegen meiner schlechten Englischkenntnisse unsicher war und voller Skrupel, ob ich das nicht aus meiner Geschichte heraus projiziere und ob ich überhaupt in der Lage bin, die Realität wahrzunehmen, als jemand, der im Leben so daneben ist (was mir schon als Kind permanent und rundherum täglich bestätigt wurde). Das war damals ein Schock und das ist auch die Erinnerung, dass ich als erwachsener Mann noch so stark davon besetzt bin (und so meine Kinder nicht schützen hätte können). Und die Scham darüber, damals wehrlos und heute noch so involviert zu sein, ist riesengroß. Aber vielleicht hilft das den tüchtigen und coolen Maulaufreißern („dem hau ich doch ..“ „aber da gehe ich doch zur Polizei …“ etc.) (abgesehen davon, dass mir zu meiner Zeit niemand geglaubt hätte) zu verstehen, warum Opfer eines Missbrauch sich so schwer tun, den Täter anzuzeigen und überhaupt davon zu reden. Und nochmals: natürlich schockiert es mich auch heute, dass mich das als erwachsener Mann (der ich doch auch sein sollte und sein wollte) immer noch außer Gefecht setzen kann.

(Die Erinnerung wurde ausgelöst durch meine letzte Therapiestunde und den Film „Wir haben einen Deal“.)




(19.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3437 Ungelöstes Rätsel

 



3:18 a.m. Ach ja, das Internet, die politischen Nachrichten und Kommentare, die Krimis …

Die Staubflocken driften von links nach rechts durch den Lichtkegel der Schreibtischlampe am Nachtkästchen. Mir ist noch kalt und die Bettdecke beginnt erst damit, mich zu wärmen. Der Sound jetzt in der Nacht ist sehr interessant und auch geheimnisvoll: neben der üblichen Surrerei in meinen Ohren erlausche ich ein fernes Geräusch, das sich wie das eines Motors anhört. Nicht nach Straßenverkehr, sondern nach einer einzigen Megamaschine, die permanent, gleichmäßig und monoton arbeitet; kaum Unregelmäßigkeiten.

Jetzt kommt dieses Geräusch näher, wird variantenreicher und differenziert sich aus. Doch eine Baustelle? Tunnelbau? Wie kommt das näher? Oder hören jetzt meine Ohren besser? Die Augen fallen mir zu. Ich werde das Rätsel jetzt nicht lösen.

(19.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 18. Oktober 2023

3436 Freiheit für Krähen und Füße!

 



Albertina. Bei den Werefkins schaue ich zum ersten Mal in die Bildtiefe, in die Weite der Landschaft, in die Hoffnung, dass dort hinten sich die Verstelltheit des dualen Raumes aufgelöst hat. Ich wollte heute gar nicht unbedingt in die Batliner-Sammlung (die ich liebe), sondern in eine aktuelle Ausstellung, die aber noch gar nicht eröffnet ist. So blicke ich nun auf den Bunten Berg von Jawlensky und auf den Oberstdorfer Wald. Madame Boeckl hat etwas Kindchenhaftes, scheint mir, wie alt waren die bei der Hochzeit? (nein, nur vier Jahre ist er älter als sie; wenn das Bildnis wirklich seine Frau darstellt, war sie damals 22 Jahre alt; also nichts zu meckern, du rumpfiger Denunziant! - der vernünftige Eintipper.)
Ach Kokoschka! Meine Seele erholt sich beim Anblick deiner Städte. Und du weißt, dein London ist mir eine himmlische Stadt. Im Vorbeigehen wölbt sich das Bild zu mir her. Schöner als Venedig ist dieses London. Lange sitze ich davor. Woher eigentlich wußten die Genossen damals im Jahr des Herrn 1975, mit wem ich in London war? Die Dame war in unseren revolutionären Kreisen nicht so bekannt. Mein London war düster und ich war knapp bei Kasse und mit der Begleiterin … zerstritten wäre fast zu euphemistisch. (Stinke ich eigentlich? Ich bin nicht sicher.) Und „in Dresden, da steht ja die Elbe so still, und die Stadt fließt so träge vorbei …“ (Wolf Biermann).

Ich zwinge meinen Geist (und meine Vorstellung), mir zu erlauben, weiterzugehen. Den depperten Kardinal lasse ich links liegen; ein paar Andachtssekunden beim Klee. Ein wenig setze ich mich zum Arbeiter der Frau Motesiczky und nicke Beckmanns Selbstbildnis als Mann mit Hut zu. Ist der Arbeiter in seiner Welt auch so freundlich, wie auf dem Bild?

Jetzt habe ich mich draußen im Freien auf der Albertinarampe auf eine Bank gesetzt, bei den beschnittenen Bäumen und dem zugespitzten Dachl von diesem Dings, … dem Architekten, der ausgeschaut hat wie unter einem Stein hervorgeholt (Grüß dich, Brigitte!). Nicht sooo toll hier, der Wind ist kalt und lästig, aber es geht schon. Ich könnte diesmal anders abgehen, wirklich in den Burggarten hinunter; schaut von oben (und oben bin ich an sich ganz gern) ganz einladend aus. Eine Schulklasse stellt sich vor der Albertina an; brav in der Reihe, aber trotzdem unbekümmert lebhaft.

Ich gehe hinunter. Von der Terrasse des Albertina-Cafés tönt Musik – nicht die schlechteste – aber mich stören immens diese von Topfpflanzen verbarrikadierten Schanigärten. Freiheit für die Füße, den Ausblick, und die Kommunikation mit der Umgebung!

Der Burggarten, dieser hainartige Park, ohne Unterholz und mit gepflegtem Rasen – heute gefällt mir das (ich weiß auch nicht immer, was mit mir los ist). Trotz Rasenmäherlärm und schwindlichen Einzäunungen. Aber die Bäume, die retten diese kleine Landschaft mit den asphaltierten Wegen. Freilaufende Hunde (ist das erlaubt?) und wirklich viele Bänke. Taubenschwärme und Krähen. Mit einer Nebelkrähe rede ich. Sie kommt auf mich zu, ich vermute sie will etwas zum Fressen. Ich erkläre ihr, dass ich nichts dabeihabe. Sie versteht es und dreht gleich um und hüpft über den Rasen.
Der Lärm hier wird mir doch zu viel.

(18.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3435 Ab in die Albertina

 



So! Das ist jetzt eine Premiere: zum ersten Mal sitze ich zum Schreiben am Schreibtisch. Das Laptop bleibt zugeklappt. Freilich: das Notizbuch muß ich auf meine Oberschenkel legen, weil die Tischfläche mit ihrem Chaos und ihren Ablagerungen und dem Laptopaufbau einfach zu hoch ist. Durch das einzige Fenster im Zimmer blicke ich über den Lichtschacht bei den Gangfenstern der gegenüberliegenden Seite in den Gang hinein (Hausflur für Deutsch:innen).

So! Jetzt habe ich umgeräumt und mir auf dem Schreibtisch Platz verschafft und das Notizbuch dortselbst abgelegt. Meine Arme muß ich allerdings am Körper angelegt halten, weil für das Aufstützen der Arme am Schreibtisch nicht genug Platz ist. Das heißt, ich schreibe ungefähr ziemlich genau in der Körperhaltung, in der Glenn Gould Klavier spielt (und ähnlich virtuos, nehme ich an). Wenn ich den Kopf (eigentlich das Gesicht) hebe und die Augen ganz nach oben drehe, sehe ich ein winziges dreieckiges Stück vergitterter Himmel und rechts an der Hauswand einen Sonnenfleck. Jetzt kippt mein Geist plötzlich und unerwartet (in letzter Zeit öfters (Hamas läßt grüßen)) in eine Gewaltszene: ein Angreifer tötet mich mit Messerstichen, aber bevor ich tot bin, gelingt es mir noch, ihm die Augen auszustechen, sein Gehör zu zerstören und die Sehnen seiner Arme und Beine zu durchtrennen, sodass er völlig hilflos bleibt und ohne normalem Kontakt zur Umwelt seinen inneren Dämonen ausgeliefert ist; er kann sie nicht mehr abwehren, er kann sich nicht mehr ablenken.

Soweitsogut. Wieder zurück im Zimmer schaue ich nochmals auf das Stückchen Himmel hinter dem Taubengitter und den ebenfalls schattenvergitterten Sonnenfleck. Der schwarze Rabe, der vor meinem Fenster hängt, schaukelt leise und dezent in der Aufwärme des Heizkörpers.

Ich hatte am Tischkalender noch nicht auf die heutige Woche geblättert und hole das nun nach. Außer der schon absolvierten Therapiestunde keine Einträge. Na gut; ich würde sagen: ab in die Albertina.

(18.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3434 Hom!

 



2:48 a.m. „Hom!“ (kurzes o) sage ich halblaut vor mich hin und weiß nicht, was dieser unwillkürlich aus dem Mund entwichene Laut bedeuten soll. Ansonsten wie gehabt: Bett, Bettdecke, Lampe, dahinter des Zimmers finsterer Teil, mache Buchrücken glänzen zurück, die meisten Bilder und Kunstkarten im Dunklen, die im Lichtschein will ich auch nicht anschauen. Weil ich jedoch nicht mehr weiß, wohin mit meinen blickenden Augen, schaue ich doch der markant platzierten und auffällig aus der kleinen Ikonostase hervorstechenden „Jungen Frau“ von Alex Katz ins spöttische Gesicht. Dann wird das Gesicht angstvoll, dann die Augen ganz weich. Jetzt starre ich voll und absichtlich hin, denn ich will der Sache auf den Grund gehen. Und wieder durchläuft das Gesicht der Frau unter meinem neuerlich angesetzten Blick diese drei Stadien. Die Milde liegt in den Augen und das Gesicht beginnt zu oszillieren. Da kommt einiges in Bewegung. Die Flächen verschwimmen, aber manchmal erschient wieder alles ganz scharf, überscharf sogar. Auch die Farben (weiß und schwarz) werden scharf und überleuchtet. Meine Füße sind kalt. Ein Gähnanfall nach dem andern. 3:07 a.m. Zeit, sich schlafen zu legen.

(18.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3433 Rot und Grau

 



17:16. Von unten höre ich aus einem Gerät eine englische Stimme einen indischen Roman vorlesen (ich habe mich erkundigt), während im Hof der Wind die Bäume freundlich schüttelt und eine melancholische Fadesse mein literarisches Wirken fördert. Damit ich es nicht vergesse: ich verstehe kein Wort vom Vorgelesenen; erstens bin ich zu weit weg und wäre ich nah genug: zweitens verstehe ich kein Englisch. Dem Himmel da vor mir über den Bäumen und den Häusern im Hof und den Bäumen und den Häusern dahinter scheint das wurscht zu sein; und der Wind wird nicht zornig, weder wegen meiner schlechten Englischkenntnisse noch wegen meiner Lamentiererei darüber, sondern bleibt ruhig und auch den Bäumen friedlich gesonnen.

Dieser flache, graue Belag auf dem weitgehend verdeckten Blau des Firmaments scheint sich ein wenig zu bewegen – zuerst habe ich das nicht bemerkt, aber er bewegt sich doch! Jetzt kommt etwas Aufregung ins Geäst, die Weide hinter dem Nachbarhaus zappelt hin und her. Sie greift sogar zu den Essigbäumen rüber, die sich schon sehr stark ausgebreitet haben und die fast zu Tode gestutzte Robinie überdecken. Und der Holunder – und das tut mir weh – scheint von den Arbeitern wirklich schon zu Tode geschnitten worden zu sein; ich sehe auch aus der Nähe keinen Trieb mehr.

Der graue Himmelsbelag beginnt nun zu glänzen und die Zweige und Äste tanzen vor diesem Licht. Das Rot der Ziegeldächer wäre auch einer Erwähnung wert, wenn ich wüßte, wie ich dieses stumpfe Rot beschreiben könnte und seine melancholisch-sentimentalische Auswirkung auf meine Seele. Wer frißt die Blätter unseres Zitronenbaumes im Blumentopf? Ich sehe kein Insekt, aber die Spuren des Fraßes. Jetzt höre ich von unten unfreiwillig ein Telephongespräch mit. Ein Vogel stürzt sich hoch von der Weide in die Tiefe. Auch dieses bläuliche Grau der Dachrinnen, Schneezäune am Dach und der blechernen Kaminaufsätze wäre beschreibungswürdig, aber ich stierle in den Erinnerungen meiner Kindheit herum und kann genauso wenig finden wie beim Ziegelrot. Mich überkommt eine große Unlust, ein Überdruß, eine Frustration darüber steckengeblieben zu sein.

Der Wind hat im Moment fast völlig aufgehört, das Gleißen in der dünnen Wolkendecke hat sich auf eine Fläche zusammengezogen und dehnt sich gleich wieder aus, das Blattwerk hebt sich deutlich von grauen Hintergrund ab. Unten höre ich den Geschirrspüler rotieren (dafür bin ich zuständig). Das ist eine Stimmung zum Aufhören. Ich will aber noch standhalten. Das Gleißen in den Wolken hat sich in ein stumpfes, schwaches Leuchten verwandelt. Auch die Bewegungen der Bäume kommen mir lustlos vor. Der alte Kondensstreifen leuchtet noch am hellsten und ist auch schon sehr aufgelöst. Manchmal versucht der Wind noch, die Bäume etwas aufzuscheuchen, aber auch er selbst wirkt müde und ausgelaugt. Mir beginnt jetzt diese Wolkendecke zu gefallen: die Verteilung von Licht und Grau ist graphisch-malerisch schön. Aber auch dieses Wolkengeschehen macht mich traurig und kommt mir vergeblich vor.

Und auf der Straßenseite? Von den drei Säulenkleditschien wird die größte gelb. Ein schönes Gelb, herbstlich, schwermütig und tröstlich wie das Licht in den Fenstern von außen gesehen.

(17.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 17. Oktober 2023

3432 Doonnng!

 



11:06 a.m. Was sagt mein Smartphone? Nichts Wichtiges. Den schönen Rückenakt im Garten dort auf meinem Regal muß ich richten, denn jetzt steht die Karte so schief, dass sich das Licht, das beim Fenster hereinkommt, auf ihr spiegelt und ich die Abbildung nicht sehen kann. Ich werfe schwungvoll die Bettdecke zurück, springe - erstaunlich - ebenso so schwungvoll aus dem Bett, gehe zum Bücherregal, richte die Karte ein, trinke den am Schreibtisch noch von gestern Nacht abgestellten kalten Kräutertee, gehe aufs Klo, brauch daselbst etwas länger und entwerfe dabei in Gedanken die Fortsetzung dieses Textes, verwerfe sowohl die Bedenken, schon wieder einen Text über die Entstehung eines Textes zu schreiben – ein literarisches No-Go! Absolut! Gilt auch für Vortragende und Prediger! - als auch die Vorwürfe darüber, nochmals ins Bett zurückkriechen zu wollen. Ich sage mir: meine Arbeit ist das Schreiben, und ob ich die am Schreibtisch, im Kaffeehaus, am Klo, im Schwimmbad, im Freien, auf einem Berggipfel, im Bett oder sonstwo erledige, ist zunächst irrelevant. Ich schreibe gern im Bett, also gibt es zunächst nichts dagegen zu sagen. Unten spielen die Tageskinder. Auf einem Berggipfel schreiben wär schon was, denke ich mir, von Wind und Wetter umtost, der Sturm reißt einem das Notizbuch aus der Hand, der Regen verwäscht einem die Schrift, der Schriftsteller tapfer dagegen ankämpfend, oder von gleißenden Sonne und der dünnen Luft angedörrt (oder angetörnt) … ein Schreiberling ist kein Naturmaler, wende ich selber ein, und die Sprache gedeiht in festeren, leidlich geschlossenen Räumen, die natürlich Türen und Fenster haben und die man oder frau auch öffnen können, um ordentlich durchzulüften, aber die ein bergendes Ambiente darstellen wie die Sprache selbst. So sage ich es mir und mein Geist kehrt aus den Bergen wieder in mein Zimmer zurück und begnügt sich (vergnügt sich?) mit dieser meiner kleinen Welt. Was fällt ihm da auf? Nichts, was ich aufschreiben will. (Die zur Eingewöhnung noch Teilzeit anwesenden Tageskinder werden schon abgeholt; es schaut gut aus, dass ich schon bald zum Frühstücken runtergehen kann.) Mein Geist ist wieder abgehauen und streitet vor einem Vorarlberger Gericht in einem Prozess wegen übler Nachrede – ich bin der Angeklagte – den er sich gerade ausgedacht hat. Und ich mache mir Sorgen wegen der Fahrkosten so weit in den Westen. (Ach! Ist es herrlich, im Bett unter der Decke zu hocken und zu schreiben! Dass das auch einmal gesagt ist.) Ich atme tief durch, horche nach innen, höre etwas wie „Frühstück!“ und werde diesem inneren Ruf nicht mehr lange widerstehen. „Doonnng!“ macht das Metall des Lampenschirms der noch vom Schreiben herbeigedrehten Leselampe, als ich beim Weglegen des Notizbuches mit selbem daran gestoßen bin.

(17.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3431 Nein, ich kann nicht

 



1:45 a.m. Fast hätte ich ein Thema für einen Text gehabt; in dem Strom aus Gedanken, Erinnerungsbruchstücken, Bildern etc hat sich ein Thema schon abgezeichnet, ist mir jedoch, bevor es sich in seiner ganzen Gestalt zeigen konnte, wieder entglitten. Ich sitze nun schon 15 Minuten im Bett und warte auf einen Einfall, eine Idee, eine Inspiration, einen ersten Satz, einen Türöffner. Der Druck in den Ohren – ich habe ihn als von außen kommend empfunden, so wie ich das Surren als außen an den Ohren montiert empfinde – hat nachgelassen. Meine Augen wollen jetzt keine Kunstkarten an den Wänden anschauen und keinem Blick irgendwelcher abgebildeter Damen oder Herren begegnen. Der französische Chef arbeitet gegen uns. Die goldene Schrift im Notizbuch – heute Nachmittag habe ich mit dem goldenen Pilotstift geschrieben – blendet mich. Kann ich irgendetwas in meinem Geist festhalten? Kann ich mich auf irgendetwas konzentrieren? Nein, ich kann nicht.

(17.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3430 Ich sage niiiicht!

 



Der Springbrunnen plätschert, die Linden beginnen, ihre Blätter zu vergilben, die Krähen rufen, die Sonne scheint und die Studenten pausieren (natürlich kann ich das nur von denen sagen, die sich zurzeit im Hof 8 aufhalten), die Sonne wärmt noch, ein alter Mann steht mir jetzt in der Sonne und zappelt und händelt direkt und nahe vor mir in ein Gespräch vertieft und fängt meine Sonnenwärme ab, bevor er sich auf die Bank setzt, auf der auch ich sitze (unangenehme Nähe), und sich laut und ausführlich schnäuzt und mit seinem weißen Stofftaschentuch, das er aus seiner linken Hosentasche holt, fanatisch und ausgiebig in seinen Nasenlöchern bohrt und putzt. Ein schöner, kühler Herbsttag also, diese Aufbruchsstimmung in einen arbeitsreichen Herbst, Semesterbeginn hier am Campus, der Sommer ist vorbei, voller Bereitschaft zu lernen und Liebe zum Wissen, voller Optimismus, das Leben noch vor sich, jetzt startet es so richtig, voller (illusorischem) Realitätssinn. Das Wasser rinnt und rinnt („springen“ wäre ein wenig übertrieben, wenn der Wasserstrahl auch gezwungen wird, seinen ersten Meter nach oben gen Himmel zurückzulegen). Der leichte Wind spielt auch mit den Fontänen und ihren Ablegern. In und über meiner Brille haben sich zwei kleine Lichtsäulen gebildet: die auf dem Brillenglas rot, die darüber weiß. Bei denen wirbelt es ordentlich; Lichtpünktchen umtanzen die Säulchen aus Licht (geschätzt ein Zentimeter groß), die rote weitet sich um ihre Achse zu einer Kugel und verdoppelt sich links als ein weiteres Säulchen. Oh! Jetzt verdoppelt sich auch die weiße, intensivere, lichtstärkere Säule und der Zwilling ist ein paar Millimeter größer. Die rote ist jetzt eine Scheibe. Soll ich verraten, wie diese Lichteffekte zustandekommen? Soll ich sagen? Ich sage niiiicht!

(16.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 13. Oktober 2023

3429 Rettenschoess bekommt die Pocken

 



8:27 a.m. Mali Lošinj tut sich auf; mein traumverhangener Blick gleitet tief ins Bild, denn die Oberfläche hält nicht; die untergründigen energetischen Strukturen und Bewegungen werden sichtbar; man sieht, wie die Energiefasern wirbeln und strudeln und sich wölben. In Rettenschoess dreht sich sogar die Landschaft, kippt um neunzig Grad und springt wieder zurück. Ich habe Scheu, meinen Blick weiter nach rechts zur Riesneralm und nach Veli Lošinj zu schicken. Einen kurzen Blick riskiere ich dann doch: in Veli Lošinj ist mir der Energieandrang zu massiv, zu total, verschlingt alles wie ätherische Lava. Dieser Anblick ist so aufregend, dass sich die gerade erst entkrampfte linke Hand neuerlich verkrampft. In Rettenschoess kommt es zu einer Minimalapotheose eines unterdurchschnittlichen Berges. Am stabilsten bleibt die Riesneralm (kein Wunder, sie ist ein Photo). Veli Lošinj verändert sich von einer Stadt am Meer zu einer Landschaft im Salzkammergut, die sich wiederum in eine Stadt am Strome verwandelt. Für den Bruchteil einer Sekunde war Mali Lošinj ein aufgerissenes Maul, das auch noch nach mir schnappt. Mir wird fast schlecht von diesen Betrachtungen (oder sind das noch die Auswirkungen vom Traum vorhin oder des mißglückten Blumenstraußes?)

Ich lasse nun meinen Blick von oben direkt unter dem Plafond herabrieseln über das Bücherregal und die vielen Kunstkarten, aber mein Speicher scheint voll zu sein, der Blick rutscht von allem ab; nichteinmal die (halb)nackten Weiber können ihn festhalten.

Ich riskiere es wieder, auf Mali Lošinj zu schauen, diesmal aufs Meer, das – ich gebe es zu – recht ungeschickt gemalt ist, und die Dynamik dort erreicht kosmische Dimensionen. Ich sehe meine Bilder als energiearcheologische Arbeiten; die Ausgrabungen sind noch am Laufen und die Fundstätten sind noch nicht gänzlich freigelegt und ausgewertet. Also eine unfertige Zwischenbilanz.

Die Bilder an der Wand werden wieder zurückhaltender und fester; mein Gemüt beruhigt sich ein wenig. Rettenschoess bekommt die Pocken und im rechten Vordergrund von Mali Lošinj beginnt die Wühlarbeit schon wieder von Neuem. Ich werde jetzt damit aufhören.

(13.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 12. Oktober 2023

3428 Kleine Wolkenverschiebung

 



Ein warmer, heftiger Windstoß kommt durch das offene Atelierfenster, während am Himmel graue Wolken herangezogen sind und eine düstere Stimmung erzeugen. Eine kleine Wolkenverschiebung und der Anblick wird wieder heller. Der Brunnen im Hof plätschert (auch an diesem Geräusch kann man die kraftvollen Windstöße erkennen). Die Bäume zappeln. Läutet eine ferne Kirchenglocke? Jetzt? Um diese Zeit? Die Bäume haben sich beruhigt, aber die aufgehängte Wäsche hier im Atelier wachelt hin und her. Die Wolkendecke wird weißer und bekommt jetzt eine gleißende Stelle. Die kann ich nicht anschauen, obwohl die Sonne bedeckt bleibt. Es ist schon etwas Sommerliches in der Luft, gerade jetzt, wo es nochmals heller geworden ist. Autosirenen heulen und jemand im Nachbarhaus hustet. Nun trifft mich das Sonnenlicht mitten im Gesicht; ich senke den Kopf und betrachte den Lichtfleck auf meiner Brust. Ein Windstoß schiebt die Baumkronen auseinander und läßt sie dann wieder zurücktanzen. Das macht der Wind mehrmals, immer wieder. Die Düsternis von vorhin ist verschwunden. Die Sonne kommt immer öfter hervor.

(12.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3427 Stop!

 



8:41 a.m. Die Luft ist frisch, denn ich habe bei offenem Fenster geschlafen, und so bin ich auch aufgewacht. Nur um meine Brust fühle ich eine Anspannung und leichte Beklemmung („Heinrich, der Wagen bricht!“) und meine linke Hand muß ich wiedereinmal entkrampfen. Im Kopf plane ich meinen Tag und glaube, für die erwarteten Herausforderungen gute Lösungen gefunden zu haben. Mein Sprachzentrum ist noch verschlafen, denn ich mache beim Schreiben viele Fehler (oder ist es beginnende Demenz? Ich mache auch beim Eintippen viele Fehler – der Tipper). Ich schaue auf die „Zwei Visionäre“ (Neuvalis) und meine Gedanken wandern weit, weit zurück in der Zeit und die Phantasie weit voraus (oder daneben). Ich gerate dabei in schaurige Regionen. Ich stoppe jetzt diesen Vorgang. Ich werde aufstehen. Heute kein unnötiges Risiko. Ich will meinen Plan durchziehen.

(12.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3426 Ich lache

 

2:02 a.m. Ich bin alt, müde und lustig aufgelegt. Ich lache vor mich hin, aber so genau weiß ich auch nicht warum; mein innerer Monolog geht schneller als meine Auffassungskapazität; ich weiß schon nicht mehr, was gerade dran war, aber ich lache noch darüber (still natürlich; es ist spät in der Nacht).

Ach! Es könnte wegen „dickes, fettes Walross“ sein, als welches mich meine Kinder, als sie noch Kinder waren, beim Schwimmen und Tauchen tituliert haben; die Erinnerung jetzt ausgelöst von einem Video, das ich … egal! Oder war es wegen Georges Hyvernauds „Comité d’erection“ in seinem Roman „Der Viehwagon“ (es geht dabei um ein Committee zur Errichtung eines Denkmals für die Resistance in Frankreich der Fünfzigerjahre in … egal!)? Ja, jetzt muß ich mich beherrschen, dass ich nicht laut herauslache und meine erholungsbedürftige Frau und das halbe Haus aufwecke. Mein Gott! Die „Junge Frau“ schaut wieder so streng! Fast habe ich Mitleid mit ihr und ihrem beschränkten Repertoire. Nun aber bin ich bei diesem säbelzahntigerartigen Raubtier oder Höhlenlöwen von Kokoschka gleich rechts an der Wand knapp über Augenhöhe. Ach! Und die „Zwei Visionäre“! Sie hängen im dunkleren Bereich, aber glurren schon ordentlich her (dabei bin ich keine Vision, oder?). Ich lache die „Junge Frau“ mit ihrem Geschau aus (innerlich). Und jetzt? Jetzt lasse ich das ausklingen. Die Dunkelheit hinter der Leselampe mit ihren Schein, direkt vor meiner Stirn platziert, erscheint wirklich recht finster. Zwei Lichtreflexionen im Bücherregal geraten in meinen Fokus und ich starre auch ausführlich hin: die eine bläulich, die andere rot. Dann wird mir fad, aber schlafen will ich immer noch nicht. Wenn ich meine Beine ausstrecke, wird es im Bereich hinter dem Leselichtkegel eine Spur heller.

Ich habe jedoch dieses Rätsel gelöst: bei angezogenen Beinen habe ich in dieser meiner üblichen Lese- und Schreibposition im Bett vor mir die in weiß gehaltene Bettdecke über meinen Knien und das weiße Papier des aufgeschlagenen Notizbuches darauf, und diese hellen Flächen werfen das Licht der Leselampe direkt darüber und davor stärker zurück, also habe ich direkt vor meinen Augen eine relativ helle Situation, wodurch der Bereich hinter dem Lichtkegel im Kontrast dunkler erscheint. Strecke ich meine Beine aus, ist dieser weiße Hügel mit seiner Auswirkung auf meinen Sehapparat weg.

(12.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 11. Oktober 2023

3425 Mit einer Art von

 



7:57 a.m. Im Traum war ich auf einem Fest gut betrunken, habe Vorträge gehalten, mit einer Frau geflirtet (die sich dann einen jungen Gigolo geangelt hat) und war darauf im Stephansdom zu Wien bei so einer Art Synode ganz vorne im Altarbereich, als hätte ich mir illegitim eine kirchliche Funktion erschlichen oder wie ein Hochstapler sie einfach vorgetäuscht. Schönborn war auch anwesend, aber in priesterlicher Zivilkleidung. Wir (wer waren meine Gefährten? Keine Ahnung, schätze drei Leute) sind dann - gerade noch bevor diese „Synode“ ernst und liturgisch geworden ist – trotz Peinlichkeit aus der Runde vorne beim Altar aufgestanden und hinausgegangen.

So und mit einer Art Verstopfung hat hat dieser Tag begonnen. Die Katz’sche „Junge Frau“ starrt mich wieder so streng, gnadenlos und arrogant an. Ich konzentriere meinen Blick nun auf ihren etwas verkniffenen, deutlich mit rotem Lippenstift bemalten Mund (deutlich, obwohl es eine schwarz - weiße Graphik ist), um zu untersuchen, ob er sich unter meinem Blick verselbständigt und verändert. Zuerst entsteht der Eindruck, der Mund wäre durch den dick aufgetragenen Lippenstift verschlossen ähnlich wie bei einem Kidnapping mit einem Klebeband, doch dann beginnt um diese Lippen und überhaupt entlang der Konturen der Zeichnung ein weißliches Licht zu tanzen. Ich kann meinen Blick nicht daran hindern, zu den Augen zurückzugleiten (das Starren nur auf den Mund scheint zu anstrengend gewesen zu sein). Unter meinem Blick beginnt sich das Gesicht permanent zu verändern, es wechselt den Ausdruck, wird breiter, wird schmäler, das weißliche Licht erscheint ständig an anderen Stellen, verstärkt eine Kontur, löst eine andere, indem sie den Strich überlagert, fast auf, geht mehr in die Fläche (als würde ein unsichtbarer Maler das Bild mit Lichtfarbe bearbeiten, die nach dem Auftrag wieder verschwindet und der kosmische Maler diese neuerlich an anderer Stelle auftragen, wie um die optimale Bildgestaltung herauszufinden). Ich kann allerdings keine optimale Gestaltung erkennen; mir gefallen alle Varianten und die Lebendigkeit des Bildes, die durch den schnellen Wechsel entsteht. Jetzt wirkt das Gesicht der Lady verkleinert und geradezu zusammengedrückt. Das Spiel des weißlichen Lichtes beginnt sich jetzt jedoch auf alle Bilder der kleinen Ikonostase auszudehnen und sie einer ungewöhnlichen Dynamik auszusetzen. Ob das den Bildern recht ist, weiß ich nicht. Ich vermute ja und auch ich finde es spannend wie einen tollen Film, einen tollen Tanz, eine fremdartige Oper (wie zum Beispiel Peking Oper). Das Licht konzentriert sich nun vor allem in der Krone der von einer meiner Töchter gezeichneten Platane und bringt sie so zu einer Art Leben. Zwischendurch verschwindet das weißliche Licht völlig und es gelingt meinen Augen nicht gleich, es wieder herbeizuwinken.

Von diesen Bildbetrachtungen bin ich jetzt ganz munter geworden, obwohl ich eindeutig noch nicht ausgeschlafen bin und die Müdigkeit im Hintergrund auf ihre Chance lauert.

(11.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 10. Oktober 2023

3424 Ärger mit Kokoschka

 



17:20. „Tödliche Schüsse aus einem Betriebsgewehr!“ - so schlagzeilen es mir die Traumnews aus dem Mittagsschlaf am Nachmittag. Davon erschrocken aufgewacht blicke ich – liebe Leserin, lieber Leser, Sie werden er schon erraten haben – in meinem Zimmer herum. Vage habe ich noch das Betriebsgebäude des besagten Betriebes da im Grünen am Rande eines Waldes vor Augen – liebloser, neutraler, rationeller Baustil, billiges modern aus dem vorigen Jahrhundert – und den mannshohen Maschendrahtzaun, der das Gelände umschließt und über den geschossen und getroffen wurde. Die Katz’sche „Junge Frau“ blickt wieder in alter Arroganz, die nackten Weiber auf den Kunstkarten – ich lege Wert auf eine gewisses – meinetwegen auch ungewisses – Niveau – drehen sich, räckeln sich und heben auffällig oft einen ihrer Arme über oder hinter den Kopf. Nur die frankophone Schweizerin legt ihren rechten Arm vor ihren Busen und hält so ihr Leibchen fest, auf dass es nicht herabrutsche und den Busen freigebe. Ich drehe meinen Kopf weiter als üblich nach rechts und entdecke an der Längswand Kunstkarten, die ich schon vergessen habe, und ebenso die Titel und die Maler. Nur Kokoschkas Linz finde ich nicht. Das müßte doch irgendwo hier hängen! Ist es heruntergefallen? Da ist eine verräterische Lücke in der Ikonostase. Ist sie mir nicht aufgefallen? Oder habe ich mir einfach nichts gedacht dabei? Ich werde das verschwundene Linz suchen müssen. Ach! Der trefflichste Kubin! Und der Moholy-Nagy! Und die Zeichnungen meiner Töchter (beides: von ihnen gezeichnet und sie gezeichnet). Aber wo ist Kokoschka? (Von dem von mir Verehrten habe ich kürzlich auch Böses gelesen (Bilderdiebstahl und als eigenes ausgegeben).)

Ja, wo ist der Kokoschka? Ich erhebe mich vom Bett und schaue unter dasselbe. Dabei muß ich mich geschickt zwischen Bett und Bücherstapel hinablassen. Nein, ich sehe nichts. Ich nehme die Taschenlampe – als Notfallmaßnahme immer eine neben dem Bett – zu Hilfe und sehe, wie die Kunstkarte auf der – und das ist unerwartet! - Stirnseite des Bettes nah an der Wand mit der Bildseite nach unten im Staub liegt. Jetzt erhebe ich mich (schon wieder!) in die aufrechte Körperposition und gehe irgendein längliches Ding suchen, mit dem ich die Karte herausfischen kann. Weil ich zu faul bin, hinunter zu gehen um mir den Besen zu holen, suche ich nur heroben und hole schließlich aus dem oberen Badezimmer den Ausgußpömpel – das ist der, um dessen Stiel ich immer diese Licht/Auraerscheinungen habe. Um mein Manöver durchzuführen, muß ich in den schmalen Canion zwischen Bett und Bücherstapel abtauchen, mich zwischen Bett und Bücherstapel quetschen, aber vorsichtig und sensibel, dass ich letzteren nicht umstoße und mich nicht an ersterem. Aber der Pömpel bringt nichts als Staub hervor, wiewohl ich damit tatsächlich bis zur verlorenen Karte hingelange, wenn ich mich ein wenig unter das Bett schiebe. Der Pömpel kann trotz Gummi (oder ist das schon Plastik?) die Karte nicht mitnehmen. Ich richte mich wieder auf und trage ihn ins Bad zurück. Jetzt versuche ich es an der Stirnseite des Bettes von oben. Und wirklich, ich kann die Karte erwischen und aus dem staubigen Abgrund holen. Ich reinige sie mit ein paar Wischern meiner rechten Hand (ich bin eigentlich Linkshänder) und will sie wieder an derselben Stelle an die Wand tackern, obwohl ich weiß, dass da der Verputz sehr hart ist. Es gelingt auch nicht, die Klammern dringen nicht in die Wand ein. Also wähle ich eine neue Stelle, gut einen halben Meter weiter rechts, und es gelingt mir, die Karte so einigermaßen, aber nicht wirklich gut anzutackern. Sie hält jetzt, aber ich fürchte, beim nächstenmal Bettmachen fliegt sie wieder herunter. Also will ich die Karte an einer Ecke zusätzlich antackern. Aber der Tacker streikt. Da ich annehme, dass die Klammern aus sind, öffne ich die dafür vorgesehene Kammer am Gerät, schiebe eine Klammernreihe hinein und bevor ich sie mit diesem Schieber verschließen kann, fallen mir alle Klammern wieder heraus. Endlich gelingt sowohl das Arretieren dieses Schieberverschlusses als auch ein – ich betone: nur ein – fachgerechter Tackerer und jetzt sollte das Bildchen halten. Ich bin’s zufrieden, wenn ich nun auch den Kopf stärker drehen muß, um Kokoschkas Linz betrachten zu können, was bei meinem radiusreduzuertem Nacken auch nicht so einfach ist.

(10.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3423 Halbschlaf, stumpf und traumbelegt

 



10:29 a.m. Lange bin ich im Halbschlaf gelegen, habe stumpf in mein Zimmer gestarrt, aus einem traumbelegten Bewußtsein heraus, habe mich endlich hochgewuchtet, die Pölster für den Rücken an die Bettwand gelehnt und die am Nachtkästchen montierte Schreibtischlampe auf- und hergedreht. Jetzt drehe ich sie allerdings wieder ab, um die morgendlichen Lichtverhältnisse in meinem abgelegenen Zimmer in Augenschein zu nehmen. Man könnte den Eindruck haben, dass dem Licht, das sich hier so schwerfällig ausbreitet und nur mühsam behauptet, auch Dunkelheit beigemischt ist, die sich wie ein klebriger Belag über die Gegenstände legt. Neben meinem noch vom Träumen hochgefahrenen Surren und der unverständlichen Gesprächsakustik von unten (Kontrollbesuch der MA 11), unterlegt noch von Gesängen, Rufen und Geplauder der Tageskinder, höre ich vereinzelte Regentropfen auf die äußere Fensterbank stürzen. Das Ganze hat eine unglaubliche, aber stille Intensität. Meine gestrige Therapiestunde (Affektdurchbruch) kreist noch undeutlich in meinem Kopf, zieht manchmal meine Aufmerksamkeit auf sich und verliert sie dann wieder. Allmählich werde ich aufstehbereit und bekomme Hunger, sodass ich ans Frühstücken denke, aber die Dame von der MA 11 ist noch da und ich will mich in meinem noch recht labilen Zustand nicht konfrontieren. Vielleicht geht sie bald. Die Tageskinder essen schon ihr Mittagessen. Ich werde hier noch ausharren. Das Besteck klirrt in den Glasschüsselchen. Aus – ganz willkommener – Langeweile heraus schaue ich jetzt auf meine Bilder oben unter dem Plafond. Mali Lošinj wirkt heute sehr aufgewirbelt, Rettenschoess hat sich beruhigt, und Veli Lošinj versinkt menschenleer, lautlos und stumm in dieser weißen nebelartigen Substanz, die von hinten wie eine alles verschlingende und alles kalt verglühende Wand an die Stadt herankommt. Im Photo von der Riesneralm bleibt das Licht verhalten und leuchtet aus dem Winternebel in die Schneise im Wald herein. Ich denke an meine Tochter, die dieses Photo gemacht und mir geschenkt hat. Und dann denke ich an meine andere Tochter, die vor Jahren in Tel Aviv war. Nun kommt der Schrecken in mein stilles Elfenbeinzimmer (Elfenbein ist mir ein unsympathisches Wort, vor allem, wenn man sich vor Augen hält, welche Substanz damit gemeint ist).

Jetzt werde ich aufstehen und frühstücken gehen, egal, was unten gerade läuft. Schließlich wohne ich hier und habe das Recht auf Anwesenheit.

(10.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3422 Nachmittag im Zimmer

 



Diese „junge Frau“ von Alex Katz hat eindeutig abgebaut (übrigens auch ich: ich mußte vier Mal am Lesezeichenbändchen des Notizbuches zupfen, um es endlich zu fassen zu kriegen und das Büchlein heranziehen zu können): sie wirkt bei weitem nicht mehr so hübsch, elegant, solide und upperclass; im Gegenteil: verbittert, unsicher, fast vulgär. Die frankophone Schweizerin trifft eine Lichtspiegelung und ich kann sie kaum erkennen. Die nackte Frau im Bett neben mir – ich meine die Kunstkarte dieses Gemäldes von – ich habe den Namen vergessen (MAK oder Belvedere) – wirkt zugleich zeitgemäß und antiquiert. Antiquiert eher die Frisur, zeitgenössisch eher ihre Nacktheit inklusive ihres primären Geschlechtsmerkmals und ihrer sekundären (wiewohl der fehlende Haarschnitt bei ersterem nicht mehr up-to-date sein könnte, aber ich bin in meinem Sinnhorizont im vorigen Jahrhundert stecken geblieben, weswegen mir das nicht so auffällt). Und die Brüste der Munch-Geliebten sind heute irgendwie unrealistisch, wie nicht von dieser Welt, sie wirken in ihrem ätherischem Schimmern fast aufgesetzt. Sonst sehe ich nichts, das auf mich so auftrifft, dass es etwas auslöst. Die Bilder von Basquiat, na und? Soll ich sie wieder von der Wand reißen? (Was heißt „die Bilder“! Die Kunstkartenphotos der Bilder.) Aber Veli Lošinj: das hat heute einen hintergründigen Grünstich. Und Rettenschoess (es war eine gute Idee, auf meine eigenen Bilder zu schauen!), Rettenschoess also wölbt, wurlt und wirbelt sich fast barock. Und Mali Lošinj? Da ist die Leselampe davor. Wenn ich den Kopf neige und drehe, sehe ich dort eine unglaublich weißliche Dynamik festgehalten. Jetzt, wo ich allmählich in den Schreibrausch gerate, muß ich aufs Klo. Und die ZiB ist auch bald.

(9./10.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 9. Oktober 2023

3421 Unter der Linde

 



Ich sitze im Nieselregen unter einer Linde in Hof 9. Das Laub ist herbstlich und nicht bloß krank. Der schwache Nieselregen reicht aus, dass man ein Rauschen hört und das Tropfen auf die Blätter. Bald wird der Regen durch das Blätterdach kommen, unter dem ich sitze. Ich werde dann zu schreiben aufhören, wenn die ersten Tropfen ins Notizbuch fallen.

Sie fallen jetzt ins Notizbuch und lösen meine Schrift auf. Das will ich nicht zulassen.

(9.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3420 Nichts für ungut

 



1:03 a.m. Ich befinde mich in meinem Bett in der Lese-Schreib-Position und habe gerade Georges Hyvernauds „Der Viehwagon“ angefangen und bin ganz begeistert. Erstens einmal das Zitat von Albert Thibaurdet, mit dem er ein Kapitel überschreibt: „Der kleine Schriftsteller erzählt sein kleines Leben“, in einem Roman, in dem der Icherzähler sein Nachkriegsleben beschreibt. Und dann der Satz: „Man muß sich nur auf sein Bett setzen, muß nur sitzen bleiben. Und dem unablässigen kleinen Geräusch lauschen, das das Leben macht.“ Na?! Ist doch ein toller Satz, nicht wahr? Und er stimmt!

Wie ich vom Bett aus so zum Schreibtisch rüberschaue, sehe ich ein Licht über dem Papierhaufen, der dort abgelagert ist, schweben. Naja, nur so ein schwaches Leuchten. Es könnte auch bloß eine Verschmutzung, eine Trübung, ein Beschlag auf meinem Brillenglas sein, die/der im Licht der Leselampe irgendwie lichtreflektorisch … was weiß ich … .

Aber jetzt will ich wieder den Roman weiterlesen. Nichts für ungut!

(9.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 6. Oktober 2023

3419 Die Albertina-Sphinxen

 



Albertina bei den fetten, großkopferten Sphinxen. Das heißt also: ich sitze in der Fensternische dort, wo alle vorbeigehen. Mein Durchmarsch war flott und photoreich. Was soll ich sagen? Der Mensch … auf allen Vieren etc. … . Ich sitze hier zu nahe an der „Straße“. Um genußvoll gaffen zu können, bräuchte ich mehr Abstand. Auf meiner Armbanduhr ist es immer drei vor zwölf (die geht gar nicht; heute trage ich wieder einmal all meinen Schmuck). Die Passanten erschrecken, wenn sie mich in der Fensternische entdecken. Michelangelo interessiert mich überhaupt nicht. Überhaupt die Rennaissance. Im Barock kann es wieder interessanter werden. Kann! Muß nicht. Ich sollte den Ort wechseln. Aber ich sitze gerade recht gut. Ich bin nicht der einzige hier, der in den Riesenspiegeln Selfies macht. Nun geht niemand vorbei und ich atme tief auf. Musik hören? Soll ich mir die musikalischen Stöpseln in die Ohren stecken? John Frusciante und Omar Rodriguez-Lopez? Ja. Ein wenig lausche ich vorher noch auf das hallende Stimmengewirr. Jetzt starte ich die wunderbare Musik. Ich rücke in der Fensternische ganz auf die linke Seite, um nicht die ganze Bank zu besetzen. Ich komme mir nun ein wenig wie auf einem Armen-Sünder-Bankerl vor. Ein armer Sünder in feudalem Ambiente. Einfach nur vom Platz in der Mitte auf die Seite gerückt – und schon hat sich die Welt komplett verändert, komplett! Lautes Geschrei übertönt die schöne Musik. Eigentlich halte ich meinen Blick nun gesenkt und schaue nur in mein aufgeschlagenes Notizbuch. Ich bin gschamig, weil sich jetzt – aber nur kurz – eine Frau ganz rechts auf die Bank gesetzt hat. Jünglinge gehen vorbei: sie könnten aus der Zeit des ersten Weltkrieges kommen. Die Musik macht eine lange Pause. Mit diesem akustischen Puffer kann ich hier bei den Sphinxen sitzen bleiben. Leichtfüßige junge Frauen hüpfen die Stiegen hinunter. Spieglein, Spieglein an der Wand, ich trage ein Alt-Proleten-Gewand (Jeans, eine dieser unmöglichen ärmellosen Jacken mit den vielen Taschen). Dreiteiliger Anzug, das wär’s! Meine shebby Elegance aus den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts (aber damals war es nicht so heiß). Selbstbewußte Männer in den besten Jahren kommen die Stufen herunter ohne sich dabei etwas zu vergeben. (Ich vergebe mir auch nichts.) Manche Miniröcke sind unglaublich (kurz). Ich krümme mich an die Nischenwand gelehnt und mir kommen die Tränen (wenn ich mich so im Spiegel gegenüber sehe). Die Tränen sind gar nicht gekommen, sie haben sich nur angedeutet. Was kann ich tun? Ich bleibe sitzen, die Gitarren jaulen so schön. Zum ersten Mal – und ich bin schon oft hier gesessen – fällt mir dieses Gesichtsrelief oben zwischen den zwei verspiegelten Fensterbögen auf. Unheimlich, dieses Gesicht; da können auch die Blätterranken rundherum nichts daran ändern. Im ersten Moment dachte ich, es wäre Medusa, deren Blick einem das Blut gefrieren läßt und einen versteinert. Dann kam mir vor, das Gesicht hätte eine Ähnlichkeit mit dem meiner Mutter. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob dieses Gesicht überhaupt weiblich ist. Doch eher ein keuscher, romantischer Neunzehntesjahrhundertjüngling mit lockigem Haar? Momentan ziehen an mir, recte den Sphinxen ganze Karawanen vorbei. Ein Mann lächelt glücklich in sein Handy. Selfie mit Sphinx (Dreiergruppe; ein Mann, zwei Frauen; möglicherweise Mutter, Sohn, Freundin). Ich werde mich jetzt von der hart gewordenen Holzbank erheben und weitergehen; die Musik ist feierlich genug zum Schreiten. Immer wenn ich aufstehe, bin ich ein alter Mann. Und die Maske an der Wand ist doch weiblich – ich bin jetzt näher dran.

(6.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3418 Genug jetzt

 



2:48 a.m. Jetzt, wo ich das Buch, das ich lese („Asche und Diamant“), weggelegt habe, überlege ich : mich gleich hinlegen oder noch etwas schreiben? Ich denke mir einen ersten Satz aus, aber verwerfe ihn („Die stillen Nächte, gehören die überhaupt mir oder den fremden Geschichten? Und sind mir diese Geschichten wirklich fremd? …“). Zugegeben: zwei Sätze. Ich verwerfe sie aus Kitschverdacht und will mich hinlegen, aber es geht nicht! Ich lege die Pölster, die ich zum Lesen und Schreiben im Rücken als Stütze brauche, nicht zur Seite und drehe die Lampe her, setze meine Brille auf, nehme Pilotstift und Notizbuch, und schaue auf die Uhr.

Siehst du! Ich habe es gleich gewußt! Dir fällt nichts ein. Naja ich stocke halt, weil ich gar nichts zu schreiben habe, kein Thema, keine Idee. Worauf warte ich noch? Ich bin müde! Ich schaue herum. Das Übliche: ein paar Bücherrücken werfen Licht der Leselampe zurück, die Ohren surren, nichts Neues unter dem Mond. Und innen? Auch das Übliche. Die übl(ich)e Mischung aus Eigendünkel, Verzweiflung und Resignation. Genug jetzt? Ja, genug. Ich bin wirklich müde.

(6.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3417 Literaturnebelpreis

 



Liebe Leute! Auch ich habe einen Literaturpreis gewonnen! Nämlich den XX-Literaturnebelpreis (die Spenderin will anonym bleiben). Das Preisgeld: Kost und Logis inklusive WG-plus (bis auf Widerruf). Die Jury: meine Frau. Die Bedingung: am Wochenende alle Texte der Woche vorlegen. Ja, das hat was! Der Preis wird laut Spenderin nur ein einziges Mal ausgelobt. Nicht so wie dieser Nobelpreis, der jedes Jahr an irgendwelche Hanseln vergeben wird. Nur einmal! Und der Preisträger bin ich! Ich schnaufe vor und voller Begeisterung auf. Die Wohnung, in der ich ein Zimmer zur Verfügung gestellt bekomme, liegt ziemlich zentral in der Hauptstadt, zentrumsnahe, ein großer Park in der Nähe (vom Kaiser Josef II spendiert). Die Präsentation der literarischen Wochenarbeit darf auch im Bett stattfinden, aber es muß am Morgen sein.

(5.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 5. Oktober 2023

3416 Mein Bewußtsein ist wie ein riesiger See

 



11:52 a.m. Mein Bewußtsein ist jetzt wie ein riesiger See, in dem Erinnerungen aus der Kindheit – beschämende und schreckliche – schwimmen, und Traumelemente aus was-weiß-ich-welchen Dimensionen, vermischt mit halbwachen Phantasien, die es sich aktuell zusammengebastelt hat. Ein eigenartiges Maschinengeräusch aus der Nachbarschaft drängt sich herein und von unten die Spiele, Ausrufe und Gespräche der Tageskinder. Endlich steigt mein Alltagsbewußtsein an die Oberfläche und beginnt, die Chose zu ordnen: das ist Licht und das ist dunkel; das ist Traum und das ist Erinnerung, das ist erlebt und das ist ausgedacht, das ist Schlaf und das ist mein Zimmer, das ist ein Geräusch aus dem Nachbarhaus und das sind die Äußerungen der Tageskinder. Es beginnt sich für die Uhrzeit zu interessieren und registriert, dass die Blase entleert werden will. Es entwirft einen Plan: zuerst aufs Klo gehen (Plan 1) und dann entscheiden, ob gleich aufstehen (Plan A) oder wieder zurück ins Bett um zu lesen (Plan B) oder zu schreiben (Plan C). Es initiiert die Ausführung der Pläne 1 und C und danach registriert es das Klopfen an der nicht benützten oberen Wohnungstür und bewirkt, dass ich hingehe und aufmache. Der Arbeitersamariterbund bettelt um Spenden. Vor Jahren habe ich die wutentbrannt angeschrien, dass sie es nie mehr wagen sollen, an meiner Tür zu klopfen. Das ging auf eine Begebenheit wiederum einige Monate davor zurück, wo ich in einem Gasthaus die Rettung habe rufen lassen, um meinen Neffen, der völlig überraschend zusammengebrochen war, ins Krankenhaus bringen. Der vom Wirten herbeigerufene Arbeitersamariterbund war derartig unhöflich und unverschämt, dass ich mit denen nie mehr etwas zu tun haben wollte. Mein Neffe ist inzwischen an dieser Krankheit, die sich damals zum ersten Mal offen bemerkbar gemacht hat, verstorben – nur damit das klar ist, dass das damals im Gasthaus keine besoffene Geschichte war, was aber die Proleten vom Arbeitersamariterbund unterstellt hatten. Und die ärztlichen Götter in Weiß in den Spitälern haben auch Jahre gebraucht, um herauszufinden, dass das Herzinsuffizienz – der Herzmuskel bildet sich zurück – war. Heute jedoch lehnte ich das „Spendenangebot“ des Arbeitersamariterbundes höflich ab. Die müden Tageskinder sind soeben schlafen gegangen, was heißt, dass ich unten in der Küche ohne Gebiss frühstücken kann, weil – jetzt in der Gewöhnungsphase - um diese Uhrzeit keine Eltern mehr kommen, um ihre zur Eingewöhnung noch „Teilzeit“ anwesenden Kinder abzuholen und ich keine Scheu davor zu haben brauche, mit den Zahnlücken anwesend zu sein und zu essen. Das deswegen, weil ich zum Frühstück die von den Broten der Tageskinder abgeschnittenen Rindenstücke verzehre mit viel rohem Gemüse und Früchten und dabei jeden Bissen mindestens dreißig Mal kaue, was mit Gebiss kein Vergnügen ist, da dann der Gaumen vor dieser elenden Plastikplatte bedeckt ist und sich im Mundraum der Geschmack des Nahrungsbreis nicht voll entfalten kann und das Gebiss an den Auflagestellen schmerzhaft drückt und ständig Speisereste unter das Gebiss gelangen und stören. Ja gut, ich gehe jetzt gleich frühstücken.

(5.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3415 Zentralspeicher

 



2:41 a.m. Ich baue spürbar ab: mein Gedächtnis wird immer schwächer, ich suche immer öfter und länger nach Namen und Begriffen, ich mache beim Schreiben immer groteskere Fehler, schreibe ein völlig anderes Wort hin, als ich gedacht habe, und dennoch: die Liebe zum Wissen ist noch da. Heute zum Beispiel habe ich einen Artikel zur Besiedlung Polynesiens gelesen, und weil der auf Englisch war und ich kein Englisch kann, habe ich bei weitem nicht alles verstanden, aber etwas habe ich doch mitbekommen und in den Zentralspeicher, den ich mir wie so eine Art ständig vor sich hin köchelnden Suppenkessel vorstelle, in den alles einfach rücksichtslos und unbekümmert zusammengeschmissen wird, abgelagert. (Selbst Buchstaben lasse ich immer öfter auch beim händischen Schreiben aus; wie soeben.) Und ich lese nicht nur im Internet, sondern auch Bücher. Und an den Füßen ist mir kalt. Und etwas Undeutliches beunruhigt mich. Und ich muß aufs Klo. Und mein Kopf juckt. Und die Zähne knirschen.

(5.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 4. Oktober 2023

3414 Ich schäme mich so

 



Im Votivpark der in einem weißlichen Glanz neu erstrahlten Verlogenheit gegenüber. Als Kirche eine Versagerin, meinetwegen soll sie als Touristenbauwerk durchgehen (verdienen die was besseres?). Der Park davor ist durchaus einladend mit seiner großen Wiese und den vielen Bäumen. Der Kircheneingang lädt auch ein, aber die Durchzugsstraße, die knapp vor dem großen Portal den Park quert, macht das Annehmen der Einladung unmöglich, wenn man nicht bereit ist, sich umständlich und auf Umwegen von der Seite über inferiore Dienstbotenwege von Fußgängerampeln ausgebremst anzuschleichen. Nein! Wenn schon, denn schon! Wenn schon ein großes Portal, dann braucht es auch genügend freien Platz davor, auf dass man angemessen als freies Kind Gottes und sogar feierlich sich dem angeblichen Gotteshaus nähern kann. Alles andere ist eine Farce. Dann können sie gleich die Fassade zumauern und ein Garagentor einsetzen. Ich verteidige sogar die schieche Votivkirche gegen die pöbelige Allmacht des Autoverkehrs.

Der Park ist wegen seiner Uninähe sehr belebt; viele junge Menschen lagern in der strassenzerteilten Wiese, sitzen auf den Rohrleitungen der U-Bahnbaustelle und auf den vielen Bänken. Die zahlreichen Bäume wölben sich schöner als sich die Neogotik spitzt (sie kann nicht zum Himmel weiterleiten – die Leitung ist tot, sie tut nur so als könnte sie es. Auch die echte Gotik ist fragwürdig). Aber ich halte es hier aus. Beim Kunsthändler vorhin habe ich mich nicht ins Geschäft getraut – ich wollte die Weilerbilder anschauen. Ich schäme mich so, dass ich kein Geld habe und empfinde, dass ich deshalb an solchen Orten nichts verloren habe (vor Jahren habe ich mich noch hineingetraut, auch wenn der Erwerb eines Kunstwerkes auch damals weit außerhalb meiner Möglichkeiten gelegen ist). Nein, ich schäme mich so. Kein Wunder, dass ich meine Kemenate nur schwer verlasse. Und wenn ich von so einem Ausflug zurückkomme, bin ich völlig erschöpft. Es ist so ein Stress, als Dalit herumzugehen und zu hoffen, dass es niemand bemerkt. Wobei ich durchaus tapfer um meine Anwesenheit kämpfe. So habe ich mich zum Beispiel vorhin getraut – weil alle Bänke mit Blick auf die Votivkirche – und die wollte ich in Augenschein nehmen – besetzt waren – eine Dame (bei Frauen geht es leichter) zu fragen, ob ich mich auch auf die Bank setzen darf. Und es ausgehalten, dass sie sofort ihren Rucksack von der Bank gegeben hat, obwohl auch mit Rucksack genug Platz auf der Bank gewesen wäre (und mit dieser Barriere zwischen uns hätte ich mich wohler gefühlt). Ich hätte es wahrscheinlich genau so wie diese Frau gemacht, auch ich bin mißtrauisch.

Eine Riesenwolke bedenkt jetzt die Sonne. Sie ist sehr schön und eindrucksvoll; wie ein Riesenzeppelin zieht sie über den Himmel ungefähr nach Süden. Übrigens sitze ich Richtung 282° West. Ich hatte das völlig falsch eingeschätzt! Dann wandern die Wolken eher Richtung Osten. Ich überprüfe auch das: nein, es hat gestimmt! Die Wolken schweben Richtung 176° Süd.

(4.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3413 Viel zu schnell

 



9:28 a.m. Meine Wahrnehmung „klumpt“ noch, mein Geist ist noch ganz verschlafen, mein Herz klopft aufgeregt (wieso? Traum? Oder weil ein Tageskind weint?). In meinem Zimmer ist es düster, das Licht, das über den Lichtschacht hereinkommt, schwächelt. Irgendein Entsetzen kriecht in meinen Eingeweiden umher, meine Atmung zittert. Ich bin noch nicht ausgeschlafen. Das Geschehen einen Stock tiefer zieht alle meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Presslufthammer in der Nachbarschaft mischt sich auch ein. Meine Unruhe wird so groß, dass ich werde aufstehen müssen. Ein Schwächeanfall – mehr innerlich – läßt mich zögern. Vielleicht bleibe ich doch noch zum Lesen im Bett. Wenn sich mein Herz nur ein wenig beruhigen könnte! Es herrscht eine verwirrende Pattsituation, auch wenn es sich unten beruhigt hat. Jetzt kommt die Müdigkeit voll an die Oberfläche. In meinem Kopf dreht sich ein irres Gedanken- und Erinnerungskarussell, viel zu schnell zum Mitschreiben. Kann ich nochmals einschlafen?

(4.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3412 Tolle Romane

 



1:39 a.m. Als ich noch vor Mitternacht aus dem Fenster des Musikzimmers auf die Straße und den kleinen Platz mit den drei Säulengleditschien geschaut habe, hat der Wind noch an den Bäumen gerissen und in meinem Zimmer hat das Fenster gescheppert, aber jetzt ist es still. Ich lese und lese und immer nur Geschichten von Krieg und Terror: Frankreich (Georges Hyvernaud), Polen (Jerzy Andrzejewski) unter den Nazis, ein Dorf in Algerien der Neunzigerjahre unter der Herrschaft der Islamisten (Yasmina Khadra). Tolle Romane alle drei, aber ich weiß nicht, dieses ewige Kriegs- und Terrorthema, auf das ich immer anspringe; immer geht es darum, wie eine „normale“ Gesellschaft in Wahnsinn und Horror kippt oder gekippt wird. Geht das auf die ererbte Schuld der Nazizeit zurück? Oder bereite ich mich innerlich schon auf die kommenden Zustände vor? Seit meiner Kindheit habe ich kein Vertrauen in die Normalität der Gesellschaft.

Wer weiß, wie lange ich noch die stillen Nächte in meinem geliebten Zimmer inmitten der Bücher und Bilder und meiner Gedanken und Gefühle genießen kann. Alt bin ich auch schon, obwohl ich mich immer jünger denke als ich bin. Die Nacht ist meine Zeit. Da atme ich auf, da trudeln Gedanken und Empfindungen ein, wenn alle schlafen und ich das Laptop abgedreht und das Buch weggelegt habe. Aber jetzt will ich noch weiter lesen.

(4.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com