Mittwoch, 31. August 2016

431 „Saus rauf!“

Morgendämmerung. Stille. Das Surren in meinen Ohren wird immer lauter. Es öffnet sich zur Panik hin, zunächst unterschwellig, dann immer offener. Aber ich beherrsche mich und lasse mich auf dieses Panikangebot nicht ein.
Das Herz vielleicht? Ist irgendetwas mit dem Herzen? Ich versuche den Puls zu fühlen, aber ich finde zuerst keinen. Endlich. Ist der Herzschlag etwas zu schnell? Mein Herz, vom Traum noch erschrocken? Meine Kinder in Gefahr durch Kriminelle? Der Chef von denen ist ein Typ aus meiner Kindheit; sein Bruder ist auch dabei.
Ruuuhig! Peter, es war ja nur ein Traum! Der Traum hat nur mit dir zu tun, nicht mit den Kindern! Die Lüftungsmusik aus dem Lichtschacht begleitet diese Beruhigungsphase, aber mein Herz beruhigt sich nur langsam.

Kurz stehe ich in einem fast ausgestorbenen italienischen Städtchen, nicht weit vom Meer, und ich schaue mich um, diese schönen, dicht stehenden Steinhäuser, die schöne Gassen und Plätze bilden, und ich überlege, welches Haus ich mir nehmen könnte und ob sich hier eine Künstlerkolonie aufbauen ließe. Dann wird die Szene wieder weggezogen. Ja, das wird viel Geld kosten, aber das werde ich bald haben.

Die Lüftung verstummt und die Stille jetzt ist wieder leicht von Panik infiziert. Sie lauert am Rand auf ihre Chance. Ich bin jedoch ein Meister im Standhalten. Die Augen fallen mir zu.
Mit geschlossenen Augen schaue ich an meinem Körper hinunter und sehe das Skelett, vor allem die beiden Oberschenkelknochen. Genauer gesagt, eher fühle ich sie mit den Augen, als daß ich sie sehe. Ich selber als mein eigener Gevatter Tod, der sich ausruht.

Mit dem Druckknopf zur Regulierung der Mine des Kugelschreibers reinige ich traumgedankenverloren meine Ohren. Also, jetzt bin ich schon sehr im profanen Bereich. Gottseidank! Es ist ja schon hell geworden draußen. Ich werde noch ein letztes Stündlein schlafen.


„Saus rauf!“ ruft eine Stimme aus dem Lichtschacht und mein Bewußtsein fliegt aus dem Reich der Traumsplitter nach oben in die Alltagswelt. Viele Bilder, Halbsätze, Gedankentrümmer hat es dort gegeben, aber davon ist nur eine Stimmungswolke mitgekommen; alles andere blieb unten liegen. Zu schwer zum Mitfliegen. Oder umgekehrt, zu leicht für die Schwerkraft, für die Anziehungskraft der Erde.

Bei der Nasenwurzel oben zieht es, fast schmerzhaft, es strahlt bis zu den Ohren aus. Die sind weiterhin mit surren beschäftigt. Jetzt ist das Ziehen wieder vorbei. Jetzt zieht es unten bei meiner kaputten Bandscheibe; ich werde nicht mehr lange in dieser Haltung im Bett hocken dürfen, ohne wirkliche Schmerzen zu riskieren. Aber auch das beruhigt sich wieder.
Ich lehne meinen Kopf nach links, lehne ihn bei nichts an, und wirklich, das Nichts spendet etwas Trost.

Im Übrigen: es ist bei mir alles genauso, wie es gut ist. Diese Erkenntnis ist mir vor drei oder sieben oder elf Minuten gekommen. Alles ist an seinem richtigen Platz. Jede andere Konstellation wäre für meine Mitmenschen zu unerträglich.













©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com


Dienstag, 30. August 2016

430 Vielleicht

Der Wind schlägt mir einen Flügel des offenen Fensters zu, der Krach weckt mich auf, gerade erst eingeschlafen reißt es mich wieder aus dem Schlaf.
Jetzt warte ich auf eine Schreibeingabe, aber nichts kommt. Es ist komplett ruhig draußen. Kein Wind. Dennoch hat die Nacht nichts Anheimelndes. Ich fühle eine unangenehme Hitze im Kopf – nicht weiter schlimm, aber störend.
Dabei liege ich wie in Versenkung; keine mystische, sondern wie am Grunde eines Schwimmbeckens ohne Wasser, in dem ich mich provisorisch eingerichtet habe. Gefangen. Der Heilige Geist kommt nicht. Wahrscheinlich alles zu voll hier. Alles verstellt. Nur ein schwaches rotes Leuchten am Rande des Schattens meines halbierten Daumens könnte von woanders kommen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht. Ich spiele mich nur herum.

Vielleicht kann ich doch schlafen. Ich werde das Fenster wieder öffnen, die Luft hier ist schon zu stickig.


Irgendetwas stimmt nicht mit meinem System. Eine leichte Übelkeit. Wie nach einer zu großen Anstrengung. Und unbeweglich bin ich, jede Bewegung fällt schwer.
Ich empfinde nichts, oder nichts Deutliches. Horch ich im mich hinein, ist nur Unlust und frustrierte Empfindungslosigkeit zu spüren, die aus dem manövrierunfähigen Suchapparat kommen.
Auch der Schrei eines Mannes aus dem Lichtschacht kann mich zu nichts anregen oder inspirieren.

Meine Sünden meinen Kindern gegenüber fallen mir ein. Wie sich doch die Muster wiederholen! Langsam löst ein deutlicher Schmerz die frustrierende Empfindungslosigkeit auf. An einer kleinen Stelle fängt er an und breitet sich über die ganze Seele aus. Jetzt kann ich durchatmen und seufzen! Jetzt geht es mir besser!

Jetzt wandere ich im Geist Richtung Stallaalm. Kurz, dann ist das Bild wieder weg. Bei diesem Wandern ist es um etwas ganz Entscheidendes gegangen; was, das konnte ich bei der Schnelligkeit des vorbeiziehenden Bildes nicht erfassen.

Das Bild eines Gefangenen taucht vor mir auf. Sein ganzer Körper, auch sein Gesicht ist mit Tüchern bedeckt. Er ist gefesselt und er kann nichts sehen. Vielleicht ganz undeutlich durch den Stoff. Er wirkt schicksalsergeben. Er sieht für sich keinen Fluchtweg. Vielleicht kommt ihm Flucht auch unehrenhaft vor, obwohl er es besser weiß. Er hat die Definitionsmacht über sich verloren und resigniert aufgegeben. „Da wird nichts mehr!“ denkt er.

Der Wind öffnet die angelehnte Tür und schleicht unsichtbar herein. Er bringt einen Hauch Veränderung. Das bleibt jedoch weit unter der kritischen Masse.       Vielleicht summiert es sich doch!












©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com


Freitag, 26. August 2016

429 Und die Glagoliza?

Mein verschlafener, aber zu Aufmerksamkeit ermunterter Geist sucht herum. Was war das gerade für ein Satz? Schon wieder weg. Vorher war noch irgendein Gedanke über Drogen. Ungefähr: die Auswirkungen von Krieg sind Drogen, Naja! Eine ziemlich schiefe Hypothese. Such was anders!

Ich liebe diesen Zustand nach dem Aufwachen wirklich. Der Tag hat noch nicht richtig zugebissen, der Geist ist noch traumverloren, die Kontrolle noch nicht auf vollen Touren, die Gedanken taumeln – einfach herrlich! Vor allem: durch die Lücken des noch lahmen inneren Zensors rutscht einiges durch. Und die Wahrnehmung ist noch nicht alltagsfest. Es geistern noch dunkle und helle Farbflecken herum, an ungewöhnlichen Stellen, oder ein Leuchten an der Spitze von gewöhnlichen Gegenständen.

Ich suhle mich fast bewegungslos in diesem Zustand, von den Zimmerwänden eingehüllt und vom Surren um meinen Kopf. Lange kann ich so verweilen. Fast jeder Gedanke verstolpert sich bei seiner Hälfte und verflüchtigt sich verschämt. Jetzt bin ich plötzlich bei Jesus von Nazareth und daß er aufrecht und souverän in den Tod gegangen ist. (Ich weiß schon, Kreuzweg: „Jesus fällt das erstemal unter dem Kreuz; Jesus fällt das zweitemal unter dem Kreuz, Jesus fällt das drittemal unter dem Kreuz ...“ Trotzdem.)
Eine gewisse Schadenfreude darüber, meinen LeserInnen dieses Thema serviert zu haben, läßt mich innerlich kichern. Und dann tief durchatmen. Wie wenn man an eine verlorene oder verpasste Liebe denkt. Ein unwillkürlicher, tiefer Seufzer.

So! Jetzt wird das ein wenig zu viel! Anderes Thema suchen! Wir bewegen uns im aufgeklärten Umfeld! (Guten Morgen, Zensor! Haben gut geruht? Was wollen Sie denn schützen? Mich vor einer großen Traurigkeit? Der Text soll lustiger sein? Aha! Gehts nicht doch um Vermeiden von möglichen Peinlichkeiten? „So präsentiert man sich nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert!“? Eigentlich müßte es „im zwanzigsten Jahrhundert“ heißen; Moderne, Aufklärung, Intellekt. Wohin das Einundzwanzigste geht, weiß noch kein Mensch. - Okay! Schau'ma mal!)

Ja, jetzt wird es langsam Zeit für mein Tagewerk. Zuerst der Hombre que corre, dann anziehen, ausnahmsweise gleich frühstücken? Und dann die anderen Übungen und den Text schreiben? Sonst mache ich: schreiben, üben oder üben, schreiben, Frühstück erst gegen zwölf. Ich bin heute aber schon ziemlich hungrig. (Zensur: schreib nicht, daß du nach dem Essen meistens zu träge zum Üben bist. Niemand braucht wissen, wie viel du … ißt! Gut, aber die nächste Mahlzeit ist erst gegen siebzehn Uhr.)

Und die Glagoliza? Kann ich mit der punkten? Nein? Nein, mit der Glagoliza kannst du hier und jetzt überhaupt nicht punkten.













©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 25. August 2016

428 Eine mühsame, schwerfällige Reflexion über ein schreckliches Video

Morgendämmerung. Ein starker Luftzug geht durch die Wohnung, die offenen Fenster und Türen lassen die Morgenluft herein. Meine Gedanken kreisen unkontrolliert herum, verharren ein wenig beim Traum, aus dem ich gerade erwacht bin, dann sind sie bei einem Video einer Ermordung, das ich gestern Nacht gesehen habe, und eine Aggressionswelle läuft durch mich hindurch und läßt meine Muskel zucken. Wehren! Sich wehren! Unbedingt sich wehren! Im Kampf sterben, wenn es schon unvermeidlich ist!

Mein Gott, wie soll ich das hinkriegen?! Ich trage doch das Todesurteil schon seit meiner Geburt in mir. Die Inkarnation des eigenen Todesurteiles. Bisher nur durch Schwindeln und Schummeln davongekommen. Werde ich das Empfinden haben, mich wehren zu dürfen?

Ich habe Angst davor, daß der Rechtsstaat zusammenbricht, egal ob von innen oder von außen, egal ob durch Chaos oder durch Diktatur. Ich habe Angst vor der Lynchjustiz. Daß sie mich dann holen. Daß mir das Opfer-Sein immer noch eingeschrieben ist. Daß mir immer noch auf der Stirne steht: „zur Ermordung freigegeben!“ Und daß ich das selber richtig finde und mich nicht wehre. Ja, diese Angst habe ich.

Es schaut ja nicht gut aus. Die Anzeichen sind furchtbar. Und wohin könnten wir flüchten? („Und wäre das nicht feig?“ sagt mein inneres, fremdinstalliertes Programm, „man darf nicht davonrennen! Und nicht petzen!“)

Das war an dem Video so schrecklich, zuerst schaut es so aus, als würden ein paar Jugendliche einen ein paar Jahre Jüngeren, fast noch ein Kind, „nur“ ein wenig traktieren, ein paar Ohrfeigen, Faustschläge, ein paar Tritte. So, wie das zumindest meine Generation noch erlebt hat und wonach damals kein Hahn gekräht hat. Das Opfer sitzt noch da, schreit kaum, redet noch – vielleicht um sich zu rechtfertigen, auch das eher lahm und halbherzig. (Das ist nur mein Eindruck, nachdem das Video aus China kommt, verstehe ich nichts.) Die Älteren haben schon ihr Urteil gesprochen, fast scheint es, als habe es das Opfer akzeptiert.  Kein Kampf. (Oder er unterschätzt seine Lage? Wiegt sich in falscher Sicherheit? Traut er denen keinen Mord zu?) Das Opfer sitzt da und versucht gerade so ein wenig die Schläge abzuwehren, indem er seine Arme vors Gesicht hält. Auch das nicht immer. Er wehrt sich nicht. Nein, die Täter müssen irgendwie Definitionsmacht über den armen Kerl haben. Denn sonst würde er doch die Mörder zu mehr Anstrengung zwingen, er würde es ihnen sich so leicht machen. Er würde sich wehren, kratzen, beißen, um sich schlagen, selber Steine werfen, es liegen genug herum. Aber er tut es nicht. Es schaut aus, als würden die Mörder nur so zum Spaß „spielen“.

Dann werden die Tritte heftiger. Das Opfer liegt am Boden. Ein paar springen auf ihn, treten ins Gesicht. Dann kann er sich noch aufsetzen. Dann kommen die Steine. Zuerst kleine. Dann ein großer Ziegelbrocken mit Anlauf ins Genick. Und dann ist er tot. Die Täter täscheln ihn noch ab, um zu schauen, ob er noch lebt. Dann pinkeln sie ihm ins Gesicht.

Beim Ablauf dieser Hinrichtung lachen und scherzen die Täter untereinander, sie reden ganz „normal“ (soweit ich das beurteilen kann). Wenn sie mit dem Opfer „schimpfen“ wirkt das fast ein wenig künstlich, als müßten sie sich künstlich in eine Erregung reinsteigern. Als spielten sie das nur.

Wie gesagt, am Anfang schaut dieses Video für mich aus wie etwas, das ich aus meiner Kindheit kenne; etwas, wo ich geneigt bin, es als noch eher harmlos einzustufen. So ein Urteil fällt der angelernte, fremdinstallierte Intellekt in mir; mein Empfinden weiß das besser, denn ich selber war in solche Situationen immer in Panik.

Dennoch, ich konnte beim Anschauen des Videos (wieso habe ich das angeschaut?) lange nicht glauben, daß es ernst wird. Aber das wird wohl der Teil in mir sein, dem beigebracht wurde, wegen ein paar Schläge kein Theater zu machen. Der andere, tiefere, empfindende Teil hat immer gewußt, wohin das führt, wie schnell, ohne Übergang, daraus ein Mord werden kann. Darum war ich ja als Kind in Panik. (Vgl. „Die Pachernegg-Szene“; Nr. 88 hier in der Schublade)

Zurück zum Video. Die Jugendlichen waren offensichtlich etwas abseits der Ortschaft, ob am Land oder in der Stadt war nicht zu erkennen. Vielleicht eine verlassene Baustelle, ein leeres Lager. Sie selber haben ganz „normal“ ausgeschaut, nicht heruntergekommen, eher im Gegenteil. Als sie den Toten angepinkelt haben, haben sie noch darauf geachtet, daß der Penis nicht ins Bild kommt und sich bewußt so hingestellt. Ich hatte überhaupt den Eindruck, sie haben auch auf den unverstellten Blick der Kamera, nein, des Filmenden geachtet.

Die ganze Szenerie zu Beginn kommt mir so bekannt vor. Das Alles ist genauso bei uns möglich. Mein echtes, tieferes Bewußtsein, wie ich da in der Teufelsgrube auf dem Baum war (vgl. wieder Nr. 88), hat das mitbekommen. Ein paar Schritte weiter, die Spirale nur ein wenig weitergedreht, und die zünden den Baum wirklich an. Meine Todesangst dort war nicht dumm oder kindisch oder naiv und auch nicht weltfremd; nein, mein tieferes Bewußtsein hat das Ausmaß der Aggression, ihr mörderisches Potential exakt erfaßt. Der Krieg war ja gerade einmal fünfzehn Jahre her.

Und das „Flammenwerfer wären besser“ war nicht jugendliche Dummheit, sondern es ist genauso gemeint. Das Potential für Massenmord ist da. Und sie warten doch darauf, daß sie endlich losschlagen dürfen. Mitgefühl haben sie keines, eher Selbstmitleid, daß sie nicht agieren dürfen, wie sie gern möchten.














©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com


Mittwoch, 24. August 2016

427 Mangelnde Kontrolle

Ich kann mich nicht erinnern. Das ist das eine. Das andere ist: denke ich an alle die Versuche, mein Leben in Ordnung zu bringen, beginnt wieder dieses leicht schmerzliche Ziehen in der Körpermitte, Herzklopfen, ein kurzer Schwall von Weinerlichkeit. Soll ich diesem Faden überhaupt folgen?

Im Lichtschacht ein Geräusch wie von einem riesigen, lauten Kühlschrank.

Ich liege, lehne noch traumverwirrt da, auch dort hätte ich irgendetwas in Ordnung bringen sollen. Ich kann mich aber nicht erinnern. Gelungen ist es jedenfalls nicht. Mangelnde Kontrolle über Leben und Träumen.

Ich mag nicht mehr vom Lichtschacht schreiben und was ich da alles höre, obwohl es heute viel interessantere Geräusche gibt als sonst; ganz fremde, die ich noch nie gehört habe.

Von meiner linken Achsel aus läuft ein wellenförmiges Vibrieren über meinen Brustkorb.

Das wird nichts mehr heute mit diesem Text. Das Gewebe zerfleddert, unpräzise, ohne kraftvolle Trägersubstanz. Ich stoppe das ganze jetzt. Stop!

Ich stelle die Milch in den Traumkühlschrank.
Schluß! Aus! habe ich gesagt!

Tief unter mir sammelt sich die Lava aus geschmolzenem Schmerz und bereitet sich auf den Ausbruch vor; bald oder in den nächsten Jahrhunderten. Jetzt ganz stark das Ziehen von der Körpermitte aus.

Das Läuten meines Handys reißt mich heraus. Der Anruf eines verwirrt klingenden alten Mannes. Offensichtlich wollte er nicht mich anrufen. Er erzählt von einem Erdbeben in Italien und von seinem Sudoku. Die  Quadrate sind  voll, obwohl sie noch leer sein sollten.
Was ist die Botschaft, die er mir zu überbringen hat? Was wollen mir die Götter ausrichten? Mein Gefühl ist, jetzt wird es ernst. Ich bin alarmiert. Im Moment erfüllt mich Konzentration und Bereitschaft.

Ich schalte den Computer ein, um mir die Nachrichten anzuschauen. Das Erdbeben hat heute Nacht wirklich stattgefunden.













©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 23. August 2016

426 Die Mauern meines Zimmers

Die Mauern meines Zimmers sind noch nicht ganz fest; es laufen manchmal leichte Wellen durch sie hindurch. Der Vulkanstein oben am Regal gibt seinen Schatten nach hinten an die Wand. Das schaut jedoch ganz normal aus. Das Zimmer ist noch nicht stark genug mit der Realität verankert, denn es sinkt nach unten. In meinen Innereien und Gedärmen vibriert noch ein starker, schwieriger Traum, schwer zu erzählen. Jedenfalls hatte ich mich in tendenziell feindseliger Umgebung verirrt und den Ausgang gesucht.

Die Kirchenglocken läutet zu Achtuhrmesse. Es erstaunt mich immer noch, welche Sehnsucht dieses Geläute in mir wachruft! Ich spüre sie als beinah schmerzhaftes, aber freudiges Ziehen in der Körpermitte. War da die Welt noch in Ordnung? Ist es das?
Ich glaube nicht. Es ist die andere Dimension, die ich spüre. Das Verwandeln von Realität in Wirklichkeit.

Jetzt hebt es mich, der ich in meinem Bett kauere, von unten in die Höhe. Ich spüre von unten eine starke, aber sanft und leicht wirkende Kraft mich samt der Matraze in die Höhe schieben. Wobei der sanfte Druck auch durch mich hindurchwandert. Der Hauptdruckpunkt dieser Kraft scheint in meiner kaputten Bandscheibe zu liegen.
Jetzt zieht es das ganze Zimmer wieder nach oben. Anscheinend tauchen wir wieder auf. Ticken, Surren und Schnurren sind die Begleitmusik dieses Vorgangs.

Soeben ist etwas Dunkles durchs offene Fenster hereingeflogen; von den Augen kaum zu erhaschen hat es wie eine etwas kompaktere, kleine, schwarze Wolke ausgesehen, aber die Bewegung war sehr schnell, überhaupt nicht wolkengemäß; nur kurz war dieses Etwas im Frequenzbereich meiner Wahrnehmung sichtbar.
Jetzt bekommt alles einen Zug nach links, nur für einen Moment, dann wieder einen eher leicht nach rechts oben.
Unter und auf meinen Fußsohlen beginnt ein ganz leichtes Vibrieren, gleichzeitig mit dem eines fernen Bohrers draußen.

Ich weiß von meinem Gang ins Badezimmer vorhin vom sonnenhellen und lichtdurchfluteten Tag jenseits der Mauern. Der lockt mich aus dieser schattigen, dunkleren Lichtschachthelligkeit. Ich stehe auf und gehe walken.













©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 22. August 2016

425 Katzenscheiße

Ich kauere innen am Rand einer Kugel und schaue in sie hinein. Links hat die Kugel ein Fenster nach draußen, in einen Verbindungsschacht in die Außenwelt. Eine scharfe, laute, großteils unverständliche Frauenstimme sagt eine Telefonnummer an. Ich liege auf der Lauer, aber wonach halte ich Ausschau? Um welche Beute geht es? Was suche ich in meinem Leben? Weiß ich das wirklich nicht? Oder bin ich zu träge, müde, erschöpft zum Nachdenken? Mir kommt es komisch vor, daß ich da nachdenken muß.
Mir fallen die Augen zu, mein Lauern ist nur mehr akustisch und fängt sich gleich das Surren ein. Und? Sagt es etwas? Kann man daraus irgendwas ablesen? Weiß man dann, daß da etwas näherkommt oder sich entfernt? Ein Anzeichen für irgendwas? Für eine Anwesenheit oder Abwesenheit?
Etwas Scharfes ist heute in den Geräuschen draußen. Auch der Wecker redet fast, ich höre etwas wie „du hast keine Zeit!“ heraus. Trotzdem bleibe ich am Rand dieser Blase hocken. Bin ich noch nicht in die Welt geboren? Eine in der Gebärmutter lebende Totgeburt? Bestellt und nicht abgeholt, vergessen? Ein ekliges Bild! Jetzt kommt Wind auf und bläst bis zu mir herein. Ahne ich die Unendlichkeit, die mich umgibt? Oder sitze ich in Platons Höhle? Der Gestank von Katzenscheiße dringt mir in die Nase. Ich springe auf und schaue nach.

Die Katzen als Geburtshelferinnen für den neuen Tag? Oder zumindest als Unterstützerinnen beim Aus-dem-Bett-Kommen? Was wollen die nur sagen? „Raus aus dem Bett!“? Oder „uns ist so fad!“? Ein Katzenflüsterer oder eine Katzenflüsterin müssen her. Einen Menschenflüsterer, eine Menschenflüsterin könnte ich auch brauchen, die mich mir selber erklären.

Die Blase ist aufgelöst. Das Zimmer ist nicht mehr rund, sondern eckig. Ich denke an einen Rechtsanwalt. An einen konkreten. Wie geschickt der agiert hat! Wie selbstverständlich. Machte nicht den Eindruck, als müßte es sich Recht-fertigen. Das kann auch eine gewisse Großzügigkeit ergeben, und jedenfalls Souveränität. Möglicherweise aber auch ein wenig Blindheit.

Jetzt weiß ich, was ich suche: Rechtfertigung! Und dafür einen Beistand vor Gericht gegen die Anklage einer ungerechtfertigten Existenz. Gegen die Anklage, daß ich nicht existieren soll. Beim Aussortieren übersehen.

Jetzt weiß ich es: wenn ich es aufgeben könnte, meine Existenz rechtfertigen, erklären oder entschuldigen zu müssen, dann hätte ich mehr Energie zum Leben.
















©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 20. August 2016

424 Schreien

Eine dünne, hagere Frau geht auf der Straße und schreit in kurzen Abständen. Sie schaut zu Boden und alle dreißig Sekunden wird ihr die Haut zu dünn und sie hebt etwas den Kopf und schreit. Sie will auf den Zebrastreifen treten, zögert etwas mit einer ausweichenden Bewegung, weil ein Auto daherkommt, einbiegt und ihr prompt den Weg abschneidet, obwohl sie schon mit einem Fuß am Zebrastreifen steht. Sie schreit wieder. Ein kurzer gellender Schrei.

Oh, wie ich das verstehe! Sie erschreckt mich, aber ich verstehe sie. Sie schreit den inneren Film hinaus, der so innerlich nicht ist. Sie schreit etwas Zerbrochenes, vielleicht auch Verdrehtes hinaus - ihre Worte verstehe ich nicht - sinnlos, denn sie wird nicht wirklich gehört werden. Es wird ihr nicht viel bringen, kein Revier, kein Terrain, keinen Schutz. Sie wird noch gefährdeter sein. Jede kleine Rotzpipe wird sich auf sie hinabschauen trauen. Wie ich diese Frau verstehe - denen da mit den ausgefahrenen Ellenbogen, die einen den Weg abschneiden, aus der Bahn werfen, in den Straßengraben abdrängen, ausgeliefert. Sich nicht wehren können. Den Schmerz und die Verzweiflung hinausschreien.

Trotzdem – ihr Schreien macht mir Angst. Ich bin froh, daß ich in sicherem Abstand in ihrem Rücken stehe und sie mich nicht sieht, daß ich nicht in ihrem Fokus bin; als Mann ist man Frauen gegenüber fast immer etwas schuldig, allein schon wegen des Jahrtausende alten Energieraubes (ich verweise auf Taisha Abelar und Florinda Donner-Grau), ohne den man - hier darf ich das „man“ ganz unbefangen herschreiben – wahrscheinlich gar nicht existieren würde.

Ich fürchte mich vor ihr. Daß sie mich attackiert? Daß auch meine Dämme bald brechen und ich selber  zu schreien beginne? So etwas wie Grimassieren gehört schon zu meinem Repertoire.

Dieses Immer-im-besetzten-Land-Leben! Ehrlich, wenn wir uns umsehen, der offene Horror ist doch nur mehr gerade noch zurückgehalten. Aber er braut sich schon wieder zusammen. Diese eingebremste und benzinverstärkte Gewalttätigkeit des rücksichtslosen Autofahrens zum Beispiel wartet doch nur darauf, endlich offen losbrechen und agieren zu können. Die dünne Decke der  …  Zivilisation? Nein, das ist nicht der richtige Begriff, die hat ja direkt damit zu tun … ich sage jetzt trotzdem, weil mir nichts Besseres einfällt: die dünne Decke des zivilisierten, humanen und rechtsstaatlichen, auch höflichen Umgangs beginnt schon zu zerreissen. Durch die Lücken dringt doch schon der stumpfe Wahnsinn, die blinde, flammenwerfende Brutalität!

Wie heißt es im Barlachlied von Wolf Biermann? „Was soll aus uns noch werden, uns droht so große Not. Vom Himmel auf die Erden fallen sich die Engel tot.“













©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

423 El Hombre que corre oder Guter Mond, du gehst so stille ...

Ich gehe heute aus der Arbeit, Wochenende, trete müde und fröhlich vor den Eingang und schaue zum klaren, dunkelnden Himmel hinauf. Herunten ist es schon finster, eine warme, schöne Spätsommernacht.
Ich denke mir: ich gehe ein Stück zu Fuß; meine Familie ist nicht zu Hause, ich lasse mir Zeit.
Ich schlendere dahin, da fällt mir ein: ich könnte mir die Ohrenstöpsel reingeben und Musik hören. Kurz habe ich Bedenken, weil ich das erst vor vierzehn Tagen gemacht habe und ich meine Ohren schonen will. Aber dann sage ich mir: ach was! Meine Ohren werden in der Arbeit über das Head-Set mit den Telefonier- und Telefonsignallärm zugedröhnt, wenn mein Gehör sowieso schon geschädigt wird, dann wenigstens auch ein wenig mit schöner Musik.

Mit der geliebten Musik von John Frusciante, die mich einhüllt, fühle ich mich geborgen und geschützt. Ich wandere mit meinem Rucksack dahin, ich atme auf, ich schaue mich um, ich bin glücklich, fast erfüllt sich mein Traum vom stillen Wanderer durch die Unendlichkeit. Ich genieße die schöne Nacht.
Unterwegs esse ich an einem Würstlstand Frankfurter, dann gehe ich weiter.
Ich sehe, schaue, erlebe alles mit ruhiger Intensität. Nur das letzte Stück fahre ich mit der U-Bahn. Denn ginge ich zu Fuß, müßte ich eine Brücke überqueren, wo eine Menge Dealer herumschleichen. Ich will mir aber mein Stimmungskokon nicht zerstören lassen; ich will mich heute diesem Angestarrt- und Beobachtet-Werden, dem Zugeflüstere und der Anquatsche nicht aussetzen, obwohl auch die U-Bahn in ihrer Grellheit und ihrem Lärm ein mittleres Säureattentat auf meine schöne, gehobene und friedliche Stimmung ist. (Mir fällt schon der Widerspruch meiner Liebe zur Musik von John Frusciante zum Angewidertsein von der Dealerszene auf.)

Als ich dann oben bei der Herminengasse aus dem Lift steige, drehe ich mich – wie ich es immer mache – Richtung Westen zum Donaukanal, um mir den Himmel anzuschauen auf der Suche nach Sternen. Hier ist das Gelände offen und man hat einen weiten Himmel über sich. Die Ausbeute ist mager, kaum ein Stern ist zu sehen, die Straßenlaternen sind zu hell, darum will ich über die Straße gehen, wo es auf der Donaukanalseite abseits etwas dunkler ist. Weil ich Zeit habe und mich weder belasten noch anstrengen will, warte ich brav, bis die Fußgängerampel grün ist. Dann überquere ich die Straße und betrachte den Himmel. Es ist wenig, was man da sieht, aber Arktur und seinen helleren Begleiter finde ich gleich, ein paar Sterne vom Schwan und vom Adler, natürlich den großen Wagen, den ich seit meiner Kindheit kenne (wahrscheinlich aus dem Jungscharbubenbüchlein „Bubenweisheit“) und immer etwas vernachlässige, weil er für mich nichts Neues ist, ja, und die Wega in der Lyra. Ich grüße sie alle, verneige mich unauffällig, und bald drehe ich mich wieder um und gehe in die Richtung meines Zuhauses.

Die Ampel des Fußgängerüberganges springt erstaunlich schnell auf grün und ich überquere die Straße. Von rechts kommt ein Radfahrer mit Karacho (von Spanisch caracho, carajo „erigierter Penis“) aus der Dunkelheit herangeschossen und fährt mich beinah nieder. Keine Entschuldigung, Fahrerflucht, so ein Sportfreak mit Super! Ausrüstung. Sofort geht mein innerer Film los:
Er streift mich tatsächlich, stürzt, ich kann aber noch hingehen und trete ihm ins Gesicht und in den Bauch. Er ist benommen; ich nehme ihn bei den Gurten des Fahrradhelmes (keine Ahnung, ob die soetwas aushalten) und schleudere sein Gesicht mehrmals gegen die Stange eines Verkehrszeichens. Als er sich aufzurappeln versucht, bekommt er noch einen Tritt in die Eingeweide. Er fällt wieder, sein rechtes Bein kommt so zu liegen, daß der Fuß oben auf dem Gehsteig (oder sonst einer Erhöhung) zu liegen kommt, sein Rumpf aber auf dem Rücken herunten auf der Straße. Dadurch kann ich ihm sein Knie durchtreten und ihm seinen Unterschenkel vorne auf den Oberschenkel pressen. Zum  Abschluß bekommt er noch einen voll konzentrierten Tritt in die Eier. Das reicht. Ich klopfe mir den Staub ab, schüttle meine Kleider aus, mache diese typische Handbewegung nach getaner Arbeit – die Handflächen dreimal leicht schlagend aneinander reiben indem ich die Hände abwechselnd von oben und unten zueinander führe – und gehe weiter.

Ich gehe tatsächlich weiter, höre die wunderschönen Lieder des Trios Omar Rodriguez Lopez mit der Sängerin Ximena Sariňana Rivera und gehe langsam nach Hause. Mehr als fünf Minuten brauche ich für dieses Stück Weg nicht.
Vor unserer Wohnungstür steht das Sackerl mit unserem Biomüll. Ich mag das gar nicht, wenn der Biomüll dort abgestellt und nicht gleich entsorgt wird. Ich finde, der Anblick und der Geruch sind für Nachbarn und Stiegenhausbenützer eine Zumutung. Ich denke mir: ich will sowieso noch musikhören, da kann ich das Zeug ruhig zum Biomüllcontainer tragen. Ich stelle meinen Arbeitsrucksack ab und gehe mit dem Biomüll zum Container. Der Weg führt Richtung Nordosten und als ich an den Rand des Augartens komme, habe ich wieder einen weiten Ausblick auf den Himmel und sehe den fast noch vollen Mond und begrüße ihn freudig.
Mein Weg führt an einem Lokal vorbei und da fällt mir eine Szene ein:

Es könnten zwei Jahre her sein, ich suche damals ein Lokal, um ein Fußballmatch anschauen zu können. Ich irre herum, bin schon spät dran, und wirklich, in diesem Lokal haben sie einen Fernseher und es läuft das richtige Programm. Ich gehe hinein, bestelle ein alkoholfreies Bier und suche einen Platz. Da ist wirklich ein Tisch vorm Fernseher leer, zwar ist er noch nicht abgeräumt und auf der Karte steht „reserviert ab 16h“, nachdem es aber schon weit nach zwanzig Uhr ist, denke ich mir, die sind schon gegangen. Also setze ich mich hin und nehme einen kräftigen Schluck vom Bier und freue mich auf das Fußballspiel, das bald beginnt. Da kommt einer daher und fährt mich an, ob ich nicht lesen könne, daß da reserviert sei. Ich vermute, es ist der Chef des Lokals, aber vielleicht auch nur der Chef einer Säuferpartie – er wirkt nämlich schon betrunken.
Nun ist es so: nie käme ich auf die Idee, diesen Platz behaupten zu wollen, mir ist ja gleich klar, daß diese Clique bloß eine Zigaretten- oder Brunzpause gemacht hat und jetzt zum Spielbeginn wieder zurückkommt. Also packe ich meine Sachen wieder zusammen und will mich vom Platz erheben, entschuldige mich noch und will mein Mißverständnis erklären, aber dieser Kerl und Häuptling von was auch immer schimpft weiter in seinem äußerst westösterreichischen Dialekt (genaugenommen nur dialektal gefärbte Umgangssprache) auf mich ein. Und das kränkt mich. Für diese Beschimpfung habe ich keinen Anlaß gegeben, noch dazu wo ich nur eine Sekunde dämlichen Dreinschauens gebraucht habe, um dann gleich den Platz zu räumen. Denn das kann auch ein besoffener Vorarlberger verstehen, daß man, wenn man um zwanziguhrvierzig auf einen leeren Tisch trifft, auf dem eine Reservierungskarte „ab 16h“ steht, daß man diese Situation mißverstehen kann. Das habe ich einfach nicht verdient.
Ich stelle das bezahlte Bier weg und verlasse das Lokal.

Beim Hinweg zum Biomüll am Lokal vorbei ist mir die Geschichte wieder eingefallen, beim Rückweg am Lokal vorbei läuft im mir folgender Film an:
Ich nehme das Krügerl beim Henkel, schlage es gegen die Tischkante, daß es zerspringt und fahre mit dem scharfkantigen Glas mehrmals über diese Rauschfresse. (Au! Weh! Stop! Fehler im Film! Es war ein Glas ohne Henkel!) Auch gut: ich nehme das Glas bei seinem Fuß, schlage an der Tischkante den oberen Teil ab, und fahre …  siehe oben.

Wundert sich wer über meine und solche Filme? Ich nicht. Das hat man davon, wenn man sich nie wehren und behaupten konnte.

Guter Mond, du gehst so stille …
Wahrscheinlich ist es nicht erlaubt, dich zu beneiden. Und außerdem haben sie dich ja auch nicht in Ruhe gelassen.












©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com


Freitag, 19. August 2016

422 Vollmondnacht

Ich bin neugierig, was heute Nacht aufs Papier kommt. Ich habe nämlich keine Idee. Es ist fast schon zu spät zum Schreiben, denn morgen Vormittag habe ich einiges zu erledigen und einiges vor. Ich bin ein wenig nervös deswegen. Werde ich rechtzeitig aufwachen? Diese Unruhe stört mein Horchen und Schauen. Auf den Samstag kann ich auch nichts verschieben. Der ist schon voll.
Keine gute Stimmung fürs Schreiben.
Die beiden Visionäre kommen mir momentan wie zwei in die Aurakamera lachende alte Krauterer vor. So habe ich sie noch nie gesehen.
Wegen dieser Unruhe fehlt mir bei allem der Untergrund; jeder Satz rutscht aus und wieder den Hang hinunter. Wenn ich einfach weitermache, muß etwas herauskommen. Meine LeserInnen kennen das schon: Surren, Ticken. Mein Hinhören verändert den Ton. Das Surren ist sehr schrill und sehr laut, aber auch das Ticken kommt manchmal näher und entfernt sich wieder. Nur Promille davon sind echt. Wieviele Promille meiner Schreiberei sind „echt“? Ich lebe in einer eigenartigen Stadt: sie hat weltbewegende Menschen beherbergt und hervorgebracht – wie Freud, Mesmer – und sie alle so gut, nein, so schlecht wie vertrieben.



Obwohl ich schon wach bin, wälze ich mich noch im Bett hin und her und versuche die Traumfetzen glatt zu bügeln. Die Katze kratzt an der Tür und als ich sie öffne, kommt sie zuerst nicht herein, dann doch, dann geht sie wieder.
Ich weiß überhaupt nicht, was sich in diesem Haus abspielt, vorallem wer um sechs Uhr in der Früh im Lichtschacht arbeitet. Zumindest klingt es so, als würde jemand – von der Geräuschkulisse her weiblich – im Lichtschacht für eine Fußballmannschaft kochen oder das Frühstück bereiten. (Tagsüber hört man davon nichts.) An manchen Tagen gesellt sich auch männlicher Lärm dazu, auch der rätselhaften, aber handwerklichen Ursprungs. Ich erinnere mich auch an Dialoge Frau – Mann (die tonangebende, dialogführende Stimme war die der Frau). Ich gehe im Geist die Stockwerke durch und wer mit Fenster zum Lichtschacht wohnt; nur das Erdgeschoß ist mir ein Rätsel, das habe ich überhaupt keine Ahnung. Gerade das wird es aber sein.

„Jetzt antworte ich nichts!“ stellt eine innere Stimme fest; keine Ahnung, wer sie was gefragt hat und wer sie überhaupt ist.

Ich bringe ein junge Frau auf einem Lastwagen, hinten unter der Plane, unter und frage nach der Matura.

An einem Knie – was? Was ist damit?

Ich spritze Wasser auf den Fußboden, bereite ihn so fürs Aufwaschen vor. Der Fußboden jedoch ist nicht von dieser Welt.

Ich werde noch ein wenig schlafen.

Die Katze kommt und geht.

Meine Tochter geht mit einer Gebetsmappe aus meinem Traum und kommt beim Aufwachen wieder.

Gott segne diesen Tag. Möge die Macht mit dir sein.












©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 18. August 2016

421 Welche Bilder kommen

Welche Bilder kommen? Ich frage das nach innen. Das Zimmer um Mitternacht bei offenem Fenster habe ich schon genug beschrieben. Die Gegenstände und Farben, mit Brille verschwommen, ohne Brille klar – schon beschrieben. Die Geräusche draußen im Lichtschacht – schon oft beschrieben. Mein Surren und Ticken ebenso. Lichtreflexe etcetera etcetera. …
Also: welche Bilder kommen?     Nichts.     Nichts? Das gibt’s nicht!

Gut. Welche Gedanken kommen?       Nur undeutlich leserliche, in bereits verblaßter Schrift.
Ein Hund bellt irgendwo weiter weg.
Es hilft nichts. Im Vordergrund bleiben Surren und Weckerticken. Das Türenschlagen an verschiedenen Stellen im Haus suggeriert eine Abfolge, eine Dramaturgie, fast ein Drama.
Schritte auf der Stiege. Kurze, unverständliche Stimmen. Öffnen eines Türschlosses regulär mit Schlüssel.
Habe ich wirklich meine inneren Bilder verloren? Alles herausgeschrieben? Meine Seele geleert und entlastet? Das glaub' ich nicht! Ist das Werkzeug kaputt und ich kann deshalb nichts mehr fassen?
Ich werde wieder verstärkt andere Schreiborte aufsuchen, aber wann? Die Nacht und der Morgen sind meine ruhige Zeit.
Eine Tür wird versperrt, modernes Schloss. Ich werde regelrecht zappelig und wippe mit den Füßen hin und her. El hombre que corre. Ich gehe täglich zu Fuß in die Arbeit. Eine gute halbe Stunde. Dabei übe ich den Vorhof zur Inneren Stille. Mehr verrate ich nicht. Ich denke an meine erste Zeit. Wie ich zum erstenmal versucht habe, mein Leben in die Hand zu bekommen. Für die miserablen Voraussetzungen gar nicht so schlecht. Das ist lange her. Ich lächle milde über mein Leben. Altersmilde? Nein, ich habe mir nichts vorzuwerfen.





Die Frau geht mit dem kleinen Kind die Stiegen hinunter. Sie reden. Ich verstehe hier heroben kein Wort, aber dem Sound nach klingt es nach einem ernsthaften Gespräch. Ernst, seriös und innig. Es enthält die ganze Welt. Jetzt kann ich sie nicht mehr hören. Dafür höre ich einen Mann quasseln. Auch ihn kann ich von hier aus nicht verstehen, aber gottseidank redet er nur kurz, denn seine platzergreifende und raumerobernde Stimme hätte fast den Nachhall des innigen Gesprächs vorher zerstört.
Jetzt schlagen noch ein paar Türen – dann ist es still. Ein elegisches Flugzeug kaum hörbar. Ich versuche, mir die Stimmung des Gesprächs der Frau mit dem Kind zu vergegenwärtigen und in mir steigen Trauer und Schmerz auf. Ich verstehe diese Trauer und den Schmerz zuerst selbst nicht ganz, aber sie sind nicht unangenehm, es ist nichts falsch daran, sie sind angemessen, sie entsprechen der Wahrheit, der Stellung des Menschen in dieser Welt des verlorenen Paradieses. Das Kind, so tapfer den Anforderungen dieser Welt gegenüber! Ich mache einen tiefen Atemzug, wie Kinder ihn nach dem Weinen machen. …

Jetzt bin ich wieder bei Ticken und Surren angelangt. Natürlich waren die schon die ganze Zeit seit dem Aufwachen da, aber an den Rand des Aufmerksamkeitsfeldes gedrängt. Jetzt aber hüllen sie mich ganz ein und erschaffen mir akustisch einen tranceartigen Schwebezustand.

Jetzt fällt mir durch meinen brillenverschwommenen Blick eine kleine Holzfigur am Regal ins Auge. Sie stellt ein Schaf dar, das mein Bruder in der Volksschule verfertigt und mir geschenkt hat. Da überfallen mich heftige Trauer und heftiger Schmerz, und die haben mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, damit, wie ich meinen kleinen Bruder als Kind behandelt habe.
Ich atme ein, während ich mit geschlossenen Augen den Kopf von rechts nach links drehe, und atme in die andere Richtung aus. Ich verweile eine zeitlang bei diesem Schmerz und in dieser Atmung. Dann beende ich diese Betrachtung und gehe mein Tagewerk an. Ein bißchen voreilig, denn die Erschütterung vibriert noch leise, aber deutlich in meinem Inneren.


















©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 17. August 2016

420 Ich sitze im Zentrum

Ich sitze im Zentrum und wenn ich nicht aufpasse, dreht sich das Zimmer um mich. Nicht schnell, nein, ganz langsam. Ganz langsam ziehen die Wände vorbei. Wenn ich aufpasse, merke ich nichts davon, da bleibt das Zimmer ruhig.
Die Lüftung draußen geht an wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Dann verliert sich das Pathos und es wird ein bloß technisches Geräusch mit untergründigen Schwingungen.
Kühle Nachtluft strömt herein, leise, unsichtbar, kaum spürbar.
In mir ist ein angenehmes Nichts. Kein Schmerz. Keine Wünsche. Keine Ziele. Kaum Gedanken.
Jetzt bewegt sich das Zimmer durchs Weltall, aber drinnen ist es gut angenehm schön. Diese Reise gefällt mir. Ich glaube, sie führt in den Schlaf.



Eigenartige Geräusche kommen aus dem Lichtschacht herauf und wecken mich. Am einfachsten ist noch das Kehren eines Besen auf nassem Boden erkennbar. Türenknallen, Klospülung, Hantieren mit Geschirr oder Glas, etwa eine Kiste mit Gläsern. Dann eigenartige Stimmen wie Röcheln und Ujjayi-Atmen. Rotzaufziehen und Ausspucken, männlich. Hechelndes Atmen. Flaches Atmen. Dann Atmen...  Atmen in sexueller Erregung? Kurz heult die Entlüftung auf, wirklich kurz, höchstens eine Sekunde, dann ist es still.
Dann hört man von ferne Tauben gurren. Ab und zu, sehr selten, trägt ein Windhauch etwas vom Rauschen der Straßen herein. Kaum hörbar, so leise, daß es gerade noch mein Surren durchdringt. Jetzt das kurze Pinkeln einer Frau.

Das war der Lichtschacht. Und innen? Innen schwimmen noch ein paar verwirrende Traumelemente herum, aber ich selber bin nicht verwirrt. Überhaupt nicht. Es fühlt sich an, als hätte ich keine Gefühle; nichts, das mich anzieht oder abstößt. Ich finde auch sonst nichts in mir. Auch die Traumelemente bewegen sich schon aus dem inneren Gesichtsfeld hinaus.
Habe ich es geschafft? Bin ich in einem „höheren“ Stadium? Ein abgehobener „Weiser“, leer, ohne menschliche Form? Normalerweise würde ich mich wegen solcher Gedanken auslachen, aber ich finde es weder lächerlich, noch schlimm, sie vorbeiwandern zu lassen, sondern eher belanglos. Oder ist bloß mein Geist noch verschlafen und träge und arbeitet noch nicht? Ich will über die anscheinend vorhandene Skepsis nachdenken und darüber, was mich jetzt narrt, aber es geht nicht. Ich ziehe mir das Surren wie eine Nachthaube über und gehe in einen vorschlaflichen Zustand. Aus dem rutsche ich bald wieder heraus und schaue und lausche in die schon hell gewordene Realität, aber gleichgültig; wie bestellt und nicht abgeholt.















©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 15. August 2016

419 Was wäre gewesen, wenn...

Ich gehe heute (3.8.) runter zum Hafen. Ich will im Kiosk dort den Kurier und die Kleine Zeitung kaufen. Normalerweise lese ich nicht täglich Zeitungen, aber hier, im Urlaub, habe ich es mir angewöhnt und will es nicht missen. Ich wandere also hinunter zum Hafen, die Sonne nähert sich schon dem Untergehen, über den MP3-Player höre ich ein paar heißgeliebte Musikstücke, von den Gitarristen John Frusciante und Omar Rodriguez Lopez komponiert und gespielt – auf diese Art und Weise Musik zu hören ist auch etwas, was ich nur ganz selten mache. Umso schöner ist es jetzt. Viele Menschen tummeln sich noch an den Stränden oder flanieren schon durch den kleinen Hafenort. Ich schwebe aber musikgestützt in meiner eigenen Welt dahin; ich nehme das Meer, den Himmel, die Wolken, die Berge drüben, den  unspektakulär charmanten Ort, die liegenden, gehenden, wandelnden, handelnden Menschen wahr, aber durch meine – wie kann ich sagen? - innige akustische Abschottung fühle ich mich in meinem Innersten geschützt.

Nachdem ich die Zeitungen erworben habe, setzte ich mich auf eine niedere Mauer am Meerufer und blättere die Kleine Zeitung durch. Da sticht mir die Todesanzeige von Univ.Prof. K. ins Auge.
Bei diesem Universitätsprofessor habe ich im ersten Studienjahr sowohl mein erstes Proseminar gemacht als auch meine erste Seminararbeit geschrieben.
Ich denke an diese Zeit zurück und eine Wehmut, ja Trauer erfaßt mich. Ich kann sie durchaus verstehen, denn dieser Professor war mir freundlich gesonnen. Bei Meetings habe ich manchmal mit ihm geredet und sogar zu einer Vorlesung zu einem speziellen Thema (das freilich ganz im Trend der Zeit lag) angeregt.
Nur habe ich diese dann bloß einmal besucht, weil ich inzwischen bereits unter die „radikalen“ - damals noch kritisch-rationalistischen -  Studenten gefallen war und jetzt von deren Kritik beeinflußt meinte, diesen Professor ablehnen zu müssen. Ich habe den Kontakt zu ihm aufgegeben und irgendwann bei einer Prüfung habe ich ihn auch verbal angegriffen.

Und da kommt mir unweigerlich die Frage in den Sinn: „was wäre gewesen, wenn...“.
Was wäre gewesen, wenn ich nicht unter diese „radikalen“ Studenten geraten wäre, sondern weiter den Professor verehrt und mein Studium brav und fleißig weiterstudiert hätte? Hätte ich unter Anleitung des Professors mein Spezialgebiet gefunden? Hätte ich dort Fuß gefaßt? Hätte ich begonnen, interessante Artikel zu schreiben? Vielleicht auch mit Hilfe des Professors veröffentlicht? Wäre daraus eine akademische Karriere geworden? Hätte er mir geholfen, an der Uni oder in der Kirche einen Platz zu finden? (Und ich hätte - verunsichert, weltfremd und verloren wie ich auch auf der Uni war - dringend jemand gebraucht, der mich in diese Welt einführt.) Hätte sich daraus irgendein tragfähiger Lebensweg, ein Beruf ergeben?

Niemand kann das wissen, aber möglich wäre es. Das glaube ich, deshalb trauere ich beim Lesen der Todesanzeige. Ich denke, da habe ich eine Chance verpasst, einen „Kubikzentimeter Möglichkeit“ (C. Castaneda) nicht ergriffen. Da war ein Potential, das ich nicht entfaltet habe. Und ich habe einen mir freundlich gesonnenen Menschen zurückgestoßen.

Meine Umgebung hat kein Verständnis für diese meine Trauer und ich ernte, als ich darüber rede, eher Belehrung und Spott als Verständnis. Ich stürze in Verzweiflung und verhaltene Wut und ziehe mich in mein Inneres zurück. Mir dämmert auch, daß meine Ablehnung des Professors – sie kommt nicht aus eigener Erfahrung und nicht aus eigener seelischer und geistiger Entwicklung – hochmütig war, auch dann, wenn ich nach einiger Zeit zum selben Ergebnis gekommen wäre.

Ich meine, Trauer gehört zum Menschenleben wie alles andere auch. Und was mich betrifft: ich bin schließlich irgendwie am Abschiednehmen. Ich muß mich doch von allen nicht erfüllten Hoffnungen und nicht angenommenen Möglichkeiten verabschieden, wenn ich meinen Lebensabend nur irgendwie aushalten will. Das Nicht-Erlebte verursacht dabei die größten Schmerzen.



Es ist Nacht geworden und eine leichte, angenehme Brise kommt vom Meer her. Wenn ich das Licht abdrehe, ist der Sternenhimmel über mir ausgebreitet. Mit Taschenlampe und Sternenkarte versuche ich, das eine oder andere mir noch unbekannte Sternbild zu finden und mir einzuprägen. Ihr seht, noch habe ich nicht aufgegeben.





„Was wäre gewesen, wenn...“. Das ist eine Frage, die sowohl in psychologisierten, als auch in esoterischen Kreisen äußerst verpönt ist. Auch in Therapien machte ich öfters die Erfahrung, daß ich in der Erzählung des Erlebten und Verpaßten eingebremst und in eine in meinen Augen vorschnelle Lösung, ein vorschnelles Resümee  gedrängt wurde. Und es ist richtig, daß es wenig Sinn macht, über die getroffenen Entscheidungen herumzujammern, denn man kann sie nicht mehr ändern. Ich fühle mich aber oft vor den Trümmern meines Lebens stehend und frage mich, wo ich die falschen Abzweigungen genommen habe. Nicht in der Illusion, es ändern zu können, sondern um das Geschehene zu verstehen. Gerade jemand wie ich, mit so wenig „Ich-Substanz“ (nennen wir es einmal so – und damit meine ich nicht das Ego), der wegen seiner Abwehrschwäche unter ständigem Bombardement der Ansprüche, Erwartungen, Einmischungen, Übergriffen, Bearbeitungen von außen verwirrt und meist orientierungslos, halb oder ganz bewußtlos in seine Entscheidungen taumelt oder gestoßen wird, ich muß mir anschauen: was ist da eigentlich passiert? Warum habe ich es so gemacht? Oder anders gemacht, oder gar nichts gemacht? In meiner Verwirrung und Angst war ich oft gar nicht in der Lage, überhaupt meine Alternativen zu sehen beziehungsweise die Entscheidung in ihrer Tragweite wahrzunehmen. Sicher muß ich meine Entscheidungen und deren Folgen akzeptieren, aber ich will wissen, begreifen, erkennen, welche Entscheidungen ich wann, wo, in welchem Zusammenhängen, aus welcher Haltung heraus, wegen welcher Bedürfnisse, in welche Richtung getroffen habe. Ich will mir dessen bewußt werden. Manchmal kann ich erst jetzt wahrnehmen, was damals eigentlich passiert ist, so groß ist die Entfremdung.

Nehmen wir zum Beispiel die Entscheidung Geige oder Gitarre. Meine Mutter war immer sehr auf bürgerliche Erziehung bedacht, so wie sie es verstand. Dazu gehörte auch das Erlernen eines Musikinstrumentes. Nach dem üblichen Flötenunterricht war dann die Frage, welches Instrument kommt jetzt. Ich wollte Gitarre lernen. Die Musiklehrerin aber redete das meinen Eltern aus. Alle würden Gitarre lernen, es wäre wichtig, auch andere Instrumente zu pflegen, wie etwa die Geige. Mein Vater meinte noch, Gitarre wäre ja auch so leise. (Wir sind Anfang der Sechzigerjahre, weit draußen am Land.) Nicht, daß meine Eltern Geige geliebt hätten, wie ja auch der Musikunterricht  bloß ein Projekt war und nichts mit Entfaltung von Begabungen oder mit der Chance, Erfahrungen zu machen oder mit der eigenen Freude an Musik zu tun hatte.
Mich zog es zur Gitarre hin, ich war enttäuscht, daß ich jetzt Geige lernen mußte, aber ich war nicht stark genug, mich durchzusetzen. Und den Eltern gegenüber viel zu rücksichtsvoll, ich wollte ihnen die Peinlichkeit ersparen, sich gegenüber der Musiklehrerin behaupten zu müssen, wo sich möglicherweise herausgestellt hätte, daß sie das gar nicht können. Der Geigenunterricht wurde zur Katastrophe. Die letzte Geigenlehrerin, die ich hatte, war eine aus Ostpreußen vertriebene Adelige, der man mit vier Jahren die Geige wegsperren mußte, damit sie auch etwas anderes machte als Geigenspielen. Sie hatte all ihren Besitz und Vermögen verloren und mußte jetzt für ihren Lebensunterhalt Geigenunterricht geben. Sie hatte kein Verständnis dafür, wie ich mich abquälte; ihre manchmal offensichtliche, sonst aber unterschwellige Wut war immer spürbar. Oft ging ich weinend in den Geigenunterricht. (Eines verdanke ich dem Geigenunterricht: ich habe Bela Bartok kennen gelernt.)
Eine kleine Episode noch dazu: Wir waren – ungefähr zur Anfangszeit meines Geigenunterrichts - als Familie einmal bei unseren ehemaligen Wohnungsvermietern in Admont auf Besuch; der Mann  gab offensichtlich Gitarrenunterricht, denn wir hören ein paar junge Burschen in einem Zimmer Gitarre spielen, und zwar laut! Das war für mich wie auch für meinen Vater die erste Begegnung mit der E-Gitarre. Mein Vater fragte den Mann dort, was denn das sei. Und der erklärte es ihm und fügte hinzu, daß das nichts für ihre Generation sei, sondern für die Jungen.
Ich bin so aufgewachsen, daß man gehorsam ist und unter Erwachsenen nur redet, wenn man gefragt wird, und erst beim Hinausgehen sagte ich schüchtern zum Vater, daß Gitarre also doch nicht nur leise sein muß. Aber er verstand gar nicht, worauf ich anspielte; was er damals bei der Geigenentscheidung zu mir gesagt hatte, hatte er längst vergessen. Ich hatte kurz eine Chance gesehen, doch noch zur Gitarre zu kommen, aber sie war schneller vorbei, als ich reagieren konnte. Und möglicherweise hatte ich gar keine Chance.
Aber: was wäre gewesen, wenn ich Gitarre gelernt hätte? Ich glaube ja nicht, daß ich ein guter Gitarrist geworden wäre – denn dann hätte ich wahrscheinlich nicht nachgegeben und man hätte mir die Gitarre wegsperren müssen -, aber spätestens mit dreizehn, als ich die Popmusik für mich entdeckte, wäre ein anderes Feuer in mein Musikspielen gekommen. Vielleicht hätte ich mit irgendwelchen anderen Burschen eine Band gegründet, wie es damals viele gab, mit unterschiedlichen Ablaufdaten, und mein Standing unter den Jugendlichen wäre ein anderes gewesen. Ich hätte vielleicht unter dem „Schutz“ der Gitarre meine Soziopathie etwas abbauen können und eine normalere Entwicklung eingeschlagen. Vielleicht, niemand kann das wissen. Es hätte auf diesem Weg auch alles mögliche schief gehen können bis hin zum Untergang als Junkie. Das sind natürlich alles Spekulationen, und ich verstehe, daß man solche Spekulationen als sinnlos einstuft, aber für mich ist es wichtig, zu sehen und zu begreifen, daß die Entscheidung Gitarre oder Geige eine Lebensentscheidung mit unabänderlichen Konsequenzen war (die ich mir aus der Hand habe nehmen lassen), und nicht nur – „naja, nehmen wir halt dies oder das“.
Und um mich von diesen nicht verwirklichten Lebensträumen verabschieden zu können, muß das ganze Paket auf den Tisch; ich muß mich von allen Möglichkeiten verabschieden. Deshalb muß ich das „was wäre gewesen, wenn“ durchspielen.

Und wie war das bei meinem Schwenk gegen Prof. K.? Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, vielleicht waren das auch drei oder vier Szenen, bis es endgültig soweit war, aber die Schlüsselszene weiß ich noch genau: am Tag meines ersten Referates an der Uni, im Seminar dieses Professors, hatte auch einer dieser älteren, „radikalen“ Studenten sein Referat zu halten und Prof. K. ließ sich wegen Terminschwierigkeiten entschuldigen und sich von seinem Assistenten vertreten. Dieser Student war an der Uni bekannt für seine kritische Haltung und sein furchtloses Auftreten Autoritäten gegenüber. Er hat dann meinem Beitrag applaudiert und nachher zu mir gesagt, daß das ein tolles Referat war und er es mir „ehrlich gesagt“ gar nicht zugetraut hätte. Und: daß der Prof. K. ein Feigling sei, weil er sich vor der Diskussion mit ihm fürchte und sich deshalb am Tag seines Referates nicht hertraue.

Um es kurz zu sagen: ich bin sofort übergelaufen. Von der väterlichen Autorität des Professors zur „antiautoritären“ Autorität des großen Bruders. (großer Bruder? Anführer der Rebellenbande? Genau weiß ich es nicht, wie ich dieses Verhältnis bestimmen soll.) Ich habe nicht mehr hinterfragt, ob die Behauptung des Studenten überhaupt stimmt und ich habe auch keine Argumente für und wider abgewogen.





Jetzt, nach einigen Tagen Abstand, es fällt mir immer noch nicht leicht, meine Erfahrungen von damals richtig einzuordnen. Dieser Student hat mich wirklich sehr beeindruckt und er war auch eine ungewöhnliche, faszinierende und wirklich starke Persönlichkeit mit oft, aber nicht immer unglaublichem Gespür für echt und unecht und Verlogenheit. Überhaupt, diese Gruppe von Studenten, alle älter als ich, die ich hier etwas hilflos als „radikale“ Studenten bezeichne, das war schon eine Ansammlung interessanter Persönlichkeiten. Wir sind in den Jahren ab 1973, die Ausläufer der Achtundsechziger waren noch deutlich spürbar, aber diese lose Studentenrunde, hauptsächlich, aber nicht nur Männer, die sich oft unabgesprochen in der Mensa traf, mehr informell als organisiert, war eher ein  Freundeskreis und einige von ihnen in mancher Hinsicht gar keine typischen Achtundsechziger. Der Kern der Ursprungsgruppe war geschult im kritischen Rationalismus und keine echten Marxisten. Einer von ihnen zum Beispiel konnte Hölderlin auswendig rezitieren und war ein klandestiner Hölderlinexperte. Der konnte auch fließend Latein und Altgriechisch lesen, alle Klassiker im Original, ein ungewöhnlicher, hochgebildeter, hinter der manchmal hervorgekehrten „kritischen“ Maske ein äußerst höflicher, zurückhaltender, sensibler Mensch von gepflegtesten Umgangsformen, der mit seinem Wissen und Können nie angegeben hat. Ein anderer war von einer geradezu „barocken“ geistigen Breite, unglaublich belesen, der von katholoiden Sinnhorizonten bis zum romantischen Anarchismus alles unter seinen Hut brachte. Alle Frauen dieser Truppe waren Vorkämpferinnen des Feminismus, was viele Diskussionen und Streitgespräche auslöste. Mit ein paar dieser losen Gruppe habe ich zum Beispiel außerhalb des Unibetriebes einiges von Wittgenstein durchstudiert, nur für uns, aus eigenem Interesse. Wir haben immer wieder interessante Diskussionen und Gespräche (das ist nicht das gleiche!) geführt und ich solchen beigewohnt und ich habe dabei viele Denkschulen und Theorien kennengelernt. Muß ich meine damalige Entscheidung doch nicht bereuen? Es gab auch tragische Figuren, aber viele von diesen Leuten wurden später Universitätsprofessoren oder spielten dann in regionalen oder internationalen „Ambientes“ wichtige Rollen.

Momentan bin ich von der Stimmung getragen, daß mir einige gute Texte geglückt sind und das würde mir für ein gelungenes Leben genügen. Deshalb muß ich jetzt die ganzen vorbereitenden Umwege nicht verdammen und kann Prof. K. eine gute Reise in die Unendlichkeit wünschen. Und den bereits Verstorbenen „meiner“ Studentenrunde auch. Und auch meinen Flöten-, Geigen- und potentiellen Gitarrelehrerinnen.

Und ich weiß, ich muß meine Entscheidungen und ihre Konsequenzen akzeptieren.
















©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 10. August 2016

418 Gestern Abend und heute Früh

Abend:
Das innere Heulen geht schon wieder los, aber die Müdigkeit ist gnädig.


Morgen:
Jetzt heult es draußen, aus dem Lichtschacht, aber es tropft auch Regen, was dem Ganzen eine versöhnliche Note gibt. Langsam finde ich – bereits etwas widerwillig - in den Tag.














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417 Mein eigener Film (1.8.)

Gestern hat mich eine Gruppe betrunkener Jugendlicher in Panik versetzt. Zunächst konnte ich noch zwischen ihnen und meinem eigenen Film unterscheiden, dann nicht mehr. Die Aussage „Die wollen auch nur das Leben feiern“ habe ich als Verrat empfunden und ich fühlte mich allein gelassen auf der Welt. Ich stürzte in diesen meinen altbekannten Verzweiflungsfilm, wo ich mir dann vorsage, nicht mehr leben zu wollen. Wo ich keinen Ausgang weiß, mich als Gefangenen empfinde, eingesperrt in ein inneres Gefängnis, unfähig mich zu befreien, handlungsohnmächtig, ich habe alles vergessen, was ich weiß, nichts stimmt, ich bin gelähmt. Ich will handeln, aber es gibt in mir nichts, das handeln kann, kein Ich, ich bin nichts, das niederhaltenden Kräften ausgesetzt ist, ein Bündel irgendwas, das von einem enormen anonymen Druck - wie in den Tiefen des tiefsten Ozeans – zu Boden gepresst wird. Irgendetwas ist jedoch da, das sich der Auflösung widersetzt; also ein Etwas-Nichts, ein Nichts-Etwas.















©Peter Alois Rumpf    August 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

416 Tauchgänge an der Wasseroberfläche (30.7.)

Der weite Sternenhimmel in der Nacht, der sich – für mich – bis zur Unkenntlichkeit dreht. Ich brauche lange, um die Sternbilder wiederzufinden. Am Tag die auflösende Hitze, das sommergefühlige Brennen auf der Haut, Meerwasser.

Tauchgänge an der Wasseroberfläche.










©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

415 Die Fichtencreme (27.7.)

Ein kleiner Punkt wird zu einem winzigen Quadrat, in dem sich sozusagen ein Fenster öffnet, ein Kopf erscheint und etwas zu mir sagt.

Die Frau liegt vor mir und schläft, ich höre sie jedoch mir etwas von hinten zuflüstern.
Ich finde es nicht erwähnenswert, daß ich die Botschaften nie verstehe.

Und ich suche die Fichtencreme. Ich selber habe sie im Kühlschrank versteckt.

Hitze und Wind. Eine Ameise krabbelt über meine Schrift, kurz, dann wendet sie sich entsetzt ab, unerlebte Handschrift. Zweiter Versuch. Sie wirkt wie in Panik.

Auflösungserscheinungen. Mein Notizbuch als Zeitungsrätselunterlage mißbraucht.











©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

414 Ich gehe schwimmen (26.7.)

Ein Windstoß massiert kribbelnd meinen verschwitzten Rücken. Mein Bewußtsein kippt weg. Stimmen und Baß geraten in den Vordergrund, während sich das Musikstück auflöst. Im Zentrum meines Gesichtsfeldes explodiert eine Ladung Luftblasen und verteilt sich schnell. Jetzt blinkt hinter meinen sonnendurchfluteten Lidern ein schwarzes Licht auf, wie ein umgekehrtes S.O.S. aus Dunkelheit. Das Piepsen meines Handys reißt mich hoch, Waschmaschinenbotschaften; den Polster dürfte ich im Schlaf mit offenen Mund angesabbert haben, oder es ist der Schweißfleck meiner den Kopf stützenden Hand.
Die Musikanlage dröhnt dezent – also: das Potential zum Dröhnen ist groß und spürbar, aber sie haben das Ganze nicht laut aufgedreht. Dieser Satz beweist: ich bin wieder halbwegs wach. Ich gehe Schwimmen.











©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com