428 Eine mühsame, schwerfällige Reflexion über ein schreckliches Video
Morgendämmerung. Ein starker Luftzug geht durch die Wohnung,
die offenen Fenster und Türen lassen die Morgenluft herein. Meine Gedanken
kreisen unkontrolliert herum, verharren ein wenig beim Traum, aus dem ich
gerade erwacht bin, dann sind sie bei einem Video einer Ermordung, das ich
gestern Nacht gesehen habe, und eine Aggressionswelle läuft durch mich hindurch
und läßt meine Muskel zucken. Wehren! Sich wehren! Unbedingt sich wehren! Im
Kampf sterben, wenn es schon unvermeidlich ist!
Mein Gott, wie soll ich das hinkriegen?! Ich trage doch das
Todesurteil schon seit meiner Geburt in mir. Die Inkarnation des eigenen
Todesurteiles. Bisher nur durch Schwindeln und Schummeln davongekommen. Werde
ich das Empfinden haben, mich wehren zu dürfen?
Ich habe Angst davor, daß der Rechtsstaat zusammenbricht,
egal ob von innen oder von außen, egal ob durch Chaos oder durch Diktatur. Ich
habe Angst vor der Lynchjustiz. Daß sie mich dann holen. Daß mir das Opfer-Sein
immer noch eingeschrieben ist. Daß mir immer noch auf der Stirne steht: „zur
Ermordung freigegeben!“ Und daß ich das selber richtig finde und mich nicht wehre.
Ja, diese Angst habe ich.
Es schaut ja nicht gut aus. Die Anzeichen sind furchtbar.
Und wohin könnten wir flüchten? („Und wäre das nicht feig?“ sagt mein inneres,
fremdinstalliertes Programm, „man darf nicht davonrennen! Und nicht petzen!“)
Das war an dem Video so schrecklich, zuerst schaut es so
aus, als würden ein paar Jugendliche einen ein paar Jahre Jüngeren, fast noch
ein Kind, „nur“ ein wenig traktieren, ein paar Ohrfeigen, Faustschläge, ein
paar Tritte. So, wie das zumindest meine Generation noch erlebt hat und wonach
damals kein Hahn gekräht hat. Das Opfer sitzt noch da, schreit kaum, redet noch
– vielleicht um sich zu rechtfertigen, auch das eher lahm und halbherzig. (Das
ist nur mein Eindruck, nachdem das Video aus China kommt, verstehe ich nichts.)
Die Älteren haben schon ihr Urteil gesprochen, fast scheint es, als habe es das
Opfer akzeptiert. Kein Kampf. (Oder er
unterschätzt seine Lage? Wiegt sich in falscher Sicherheit? Traut er denen
keinen Mord zu?) Das Opfer sitzt da und versucht gerade so ein wenig die
Schläge abzuwehren, indem er seine Arme vors Gesicht hält. Auch das nicht
immer. Er wehrt sich nicht. Nein, die Täter müssen irgendwie Definitionsmacht
über den armen Kerl haben. Denn sonst würde er doch die Mörder zu mehr
Anstrengung zwingen, er würde es ihnen sich so leicht machen. Er würde sich
wehren, kratzen, beißen, um sich schlagen, selber Steine werfen, es liegen
genug herum. Aber er tut es nicht. Es schaut aus, als würden die Mörder nur so
zum Spaß „spielen“.
Dann werden die Tritte heftiger. Das Opfer liegt am Boden.
Ein paar springen auf ihn, treten ins Gesicht. Dann kann er sich noch
aufsetzen. Dann kommen die Steine. Zuerst kleine. Dann ein großer Ziegelbrocken
mit Anlauf ins Genick. Und dann ist er tot. Die Täter täscheln ihn noch ab, um
zu schauen, ob er noch lebt. Dann pinkeln sie ihm ins Gesicht.
Beim Ablauf dieser Hinrichtung lachen und scherzen die Täter
untereinander, sie reden ganz „normal“ (soweit ich das beurteilen kann). Wenn
sie mit dem Opfer „schimpfen“ wirkt das fast ein wenig künstlich, als müßten
sie sich künstlich in eine Erregung reinsteigern. Als spielten sie das nur.
Wie gesagt, am Anfang schaut dieses Video für mich aus wie
etwas, das ich aus meiner Kindheit kenne; etwas, wo ich geneigt bin, es als
noch eher harmlos einzustufen. So ein Urteil fällt der angelernte,
fremdinstallierte Intellekt in mir; mein Empfinden weiß das besser, denn ich
selber war in solche Situationen immer in Panik.
Dennoch, ich konnte beim Anschauen des Videos (wieso habe
ich das angeschaut?) lange nicht glauben, daß es ernst wird. Aber das wird wohl
der Teil in mir sein, dem beigebracht wurde, wegen ein paar Schläge kein
Theater zu machen. Der andere, tiefere, empfindende Teil hat immer gewußt,
wohin das führt, wie schnell, ohne Übergang, daraus ein Mord werden kann. Darum
war ich ja als Kind in Panik. (Vgl. „Die Pachernegg-Szene“; Nr. 88 hier in der
Schublade)
Zurück zum Video. Die Jugendlichen waren offensichtlich
etwas abseits der Ortschaft, ob am Land oder in der Stadt war nicht zu erkennen.
Vielleicht eine verlassene Baustelle, ein leeres Lager. Sie selber haben ganz
„normal“ ausgeschaut, nicht heruntergekommen, eher im Gegenteil. Als sie den
Toten angepinkelt haben, haben sie noch darauf geachtet, daß der Penis nicht
ins Bild kommt und sich bewußt so hingestellt. Ich hatte überhaupt den
Eindruck, sie haben auch auf den unverstellten Blick der Kamera, nein, des
Filmenden geachtet.
Die ganze Szenerie zu
Beginn kommt mir so bekannt vor. Das Alles ist genauso bei uns möglich. Mein echtes, tieferes Bewußtsein,
wie ich da in der Teufelsgrube auf dem Baum war (vgl. wieder Nr. 88), hat das
mitbekommen. Ein paar Schritte weiter, die Spirale nur ein wenig weitergedreht,
und die zünden den Baum wirklich an. Meine Todesangst dort war nicht dumm oder
kindisch oder naiv und auch nicht weltfremd; nein, mein tieferes Bewußtsein hat
das Ausmaß der Aggression, ihr mörderisches Potential exakt erfaßt. Der Krieg
war ja gerade einmal fünfzehn Jahre her.
Und das „Flammenwerfer wären besser“ war nicht jugendliche
Dummheit, sondern es ist genauso gemeint. Das Potential für Massenmord ist da.
Und sie warten doch darauf, daß sie endlich losschlagen dürfen. Mitgefühl haben
sie keines, eher Selbstmitleid, daß sie nicht agieren dürfen, wie sie gern möchten.
©Peter Alois Rumpf August 2016
peteraloisrumpf@gmail.com
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