Samstag, 20. August 2016

424 Schreien

Eine dünne, hagere Frau geht auf der Straße und schreit in kurzen Abständen. Sie schaut zu Boden und alle dreißig Sekunden wird ihr die Haut zu dünn und sie hebt etwas den Kopf und schreit. Sie will auf den Zebrastreifen treten, zögert etwas mit einer ausweichenden Bewegung, weil ein Auto daherkommt, einbiegt und ihr prompt den Weg abschneidet, obwohl sie schon mit einem Fuß am Zebrastreifen steht. Sie schreit wieder. Ein kurzer gellender Schrei.

Oh, wie ich das verstehe! Sie erschreckt mich, aber ich verstehe sie. Sie schreit den inneren Film hinaus, der so innerlich nicht ist. Sie schreit etwas Zerbrochenes, vielleicht auch Verdrehtes hinaus - ihre Worte verstehe ich nicht - sinnlos, denn sie wird nicht wirklich gehört werden. Es wird ihr nicht viel bringen, kein Revier, kein Terrain, keinen Schutz. Sie wird noch gefährdeter sein. Jede kleine Rotzpipe wird sich auf sie hinabschauen trauen. Wie ich diese Frau verstehe - denen da mit den ausgefahrenen Ellenbogen, die einen den Weg abschneiden, aus der Bahn werfen, in den Straßengraben abdrängen, ausgeliefert. Sich nicht wehren können. Den Schmerz und die Verzweiflung hinausschreien.

Trotzdem – ihr Schreien macht mir Angst. Ich bin froh, daß ich in sicherem Abstand in ihrem Rücken stehe und sie mich nicht sieht, daß ich nicht in ihrem Fokus bin; als Mann ist man Frauen gegenüber fast immer etwas schuldig, allein schon wegen des Jahrtausende alten Energieraubes (ich verweise auf Taisha Abelar und Florinda Donner-Grau), ohne den man - hier darf ich das „man“ ganz unbefangen herschreiben – wahrscheinlich gar nicht existieren würde.

Ich fürchte mich vor ihr. Daß sie mich attackiert? Daß auch meine Dämme bald brechen und ich selber  zu schreien beginne? So etwas wie Grimassieren gehört schon zu meinem Repertoire.

Dieses Immer-im-besetzten-Land-Leben! Ehrlich, wenn wir uns umsehen, der offene Horror ist doch nur mehr gerade noch zurückgehalten. Aber er braut sich schon wieder zusammen. Diese eingebremste und benzinverstärkte Gewalttätigkeit des rücksichtslosen Autofahrens zum Beispiel wartet doch nur darauf, endlich offen losbrechen und agieren zu können. Die dünne Decke der  …  Zivilisation? Nein, das ist nicht der richtige Begriff, die hat ja direkt damit zu tun … ich sage jetzt trotzdem, weil mir nichts Besseres einfällt: die dünne Decke des zivilisierten, humanen und rechtsstaatlichen, auch höflichen Umgangs beginnt schon zu zerreissen. Durch die Lücken dringt doch schon der stumpfe Wahnsinn, die blinde, flammenwerfende Brutalität!

Wie heißt es im Barlachlied von Wolf Biermann? „Was soll aus uns noch werden, uns droht so große Not. Vom Himmel auf die Erden fallen sich die Engel tot.“













©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

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