Dienstag, 30. April 2024

3646 Die Mücke

 



1:53 a.m. Ich schaue meine Hände an; zuerst die inneren Handflächen mit der Lebens- und weiß-Gott-was-alles-für Linien, den kleinen Narben, den halben Daumen links und den Ehering rechts; dann drehe ich die Hände um, betrachte die bereits schrumpeligen Handrücken mit den vielen Altersflecken, die neun wirklich schönen Fingernägel, beim rechten Mittelfinger diese gepolsterte Delle vom Schreibstifthalten, die ansatzweisen Schwimmhäute zwischen den Fingern.

Das war es dann im Großen und Ganzen. Ein wenig schaue ich noch unkonzentriert im Zimmer herum, registriere die hauptsächlich innere Geräuschkulisse, die momentan sehr lebhaft und variabel klingt, bemerke eine kleine Mücke auf meiner Bettdecke, wo sie aber nicht bleibt und ich verliere sie aus den Augen. Ganz kurz tanzt sie von meinem linken Auge, dann ist sie verschwunden, dass ich schon überlege, ob sie nicht eine Halluzination aus Müdigkeit war. Aber akkurat fliegt sie nun vor mir im Kreis, mir zu beweisen, dass sie echt und lebendig ist und ich sie ernst nehmen soll.


(30.4.2024)


©Peter Alois Rumpf April 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3645 Am Fenster

 



Das Revolutionary Ensemble spielt Clear Spring. Das schöne, dezente Bild hängt schief an der Wand des Musikzimmers. Ich stehe auf und richte es gerade. Die Schallplatte hat schon zu viele Kratzer. Auf der Straße unten der spärliche Nachmittagsverkehr; in dieser Ecke der Stadt wirklich nicht arg. Nach dem geflöteten Vogelgezwitscher und den eindrucksvollen Basstrommelschlägen in gekonnt großen Abständen, spielt jetzt Sirone ein kurzes, intensives, kunstvolles Basssolo. Und dann spielt wieder der Jenkins Geige, und der Cooper sein wirklich umwerfendes Schlagzeug, mit dem er so langsam aus einzelnen, eher chaotischen Schlägen und Rhythmuselementen einen kompakten, stringenten dahinrasenden Rhythmus aufbaut, der das Stück zusammenhält, zentriert und mit seiner Dynamik und seinem Tempo mitreißt, bis das Stück an seinem Ende klassisch und feinfühlig verklingt.

March 4-1. Geige, Bassgeige gestrichen, Klavier (Cooper), eine Posaune (Sirone) taucht auf, dann statt Klavier wieder das Schlagzeug (Cooper), das alles mitnimmt, was da klingt… Sonne und Hitze sind zurückgekehrt, die drei Säulengleditschien spenden schon ihre lichten Schatten, heißer, föhniger Wind streicht in die Bäume.

Chicago heißt das nächste Stück, nachdem ich die Platte umgedreht habe, von besonderer Schönheit und schlichter Intensität. Ich war ja bei der Aufnahme dieses Konzertes dabei und dachte damals: das ist der Höhepunkt der Musik; es kann in der Musik keiner Weiterentwicklung mehr geben; das ist das Ende der Geschichte.

Revolutionary Ensemble heißt das nächste Stück und vermutlich das letzte vor der Auflösung des Ensembles. Das in braunen, gelben, ocker und orangen Tönen gehaltene Bild – ein kleines Meisterwerk meiner Frau Daniela Hantsch – hängt jetzt gerade über dem Plattenspieler. Aus Verlegenheit über das schöne Bild, die wunderbare musikalische Fülle und meine Wenigkeit zupfe ich das Preispickerl vom Pilotstift, mit dem ich schreibe. Das Geigenspiel wird jetzt für diese Passage ganz leicht und zart, bis es wieder lauter, eindringlicher, fester und schmerzhafter wird. Sirone zupft einen irren Bass und Cooper klopft seine Rhythmuscluster, die sich bald zu einem rhythmischen Strom zusammenfügen werden (ich habe diese LP schon hunderte Male angehört), und Jenkins Geigenspiel wird noch aggressiver, schreit den Schmerz hinaus, während der Drive von Schlagzeug und Bass immer drängender wird. Die ersten Schatten kriechen schon am Erdgeschoss des Hauses drüben hinauf. Die Musik ist aus, der Platz unten wird etwas belebter. Das Fußgängeraufkommen hat sich mindestens verdoppelt. Eine Ameise klettert in mein Notizbuch und rennt flott über meine Notizen. Ich streife die Ameise herunter, bevor ich das Buch zuklappe. Eine junge Frau auf einer der Bänke unten kämmt sich, richtet sich her, zieht die Lippen nach, zupft an ihrem Gewand, steht auf und geht langsam, ganz langsam weiter.


(29.4.2024)


©Peter Alois Rumpf April 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3644 Ein Rasenmäher

 



15:19. Die Plane über dem weit aufgerissenen Erdhang der abgerissenen Flotowvilla bewegt sich regelrecht elegant im Wind: rollte sich sachte ein, breitet sich wieder aus, läßt Wellen durch ihren dünnen Plastikkörper laufen und schlägt manchmal hin und her. Ein Rasenmäher heult verzweifelt in der Nachbarschaft, dass ein Auto und ein Motorrad mit einstimmen. Als die vorbei sind, stirbt der Rasenmäher mit einem enttäuschten Schnaufer ab. Der Betreiber kennt jedoch keine Gnade und startet ihn von Neuem und zwingt ihn, wieder hoch aufzuheulen. Der Wind läßt die Schatten auf der Wiese hüpfen und wenn ich meinen zu Boden gesenkten Kopf hebe, sehe ich den Wind auch in den Bäumen und Büschen. Ich liebe dieses nachmittägliche Licht, obwohl es mir immer eine schwere Melancholie verpasst: der Tag beginnt sich zu neigen – und was habe ich erreicht, bevor die Finsternis kommt? Das Blau des Himmels ist so wunderschön vor dem sonnenlichtgelben Grün der Bäume, auch das scheint eine unerreichbare Schönheit zu versprechen, die mir fast das Herz zerreißt. Könnte es sein, dass es der ständige Lärm des Autoverkehrs ist, der mich hier festnagelt und mich nicht davondriften läßt? Das Rauschen in den Bäumen – so kommt mir vor – könnte ich mit hinüber nehmen. Aber nix genaues weiß man nicht. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, ein Hund bellt kurz auf, ich werde hineingehen.


(27.4.2024)


©Peter Alois Rumpf April 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 26. April 2024

3643 Drei Meister

 



16:40. Die drei Säulengleditschien leuchten in jungem Grün und die gegenüber liegenden Hausfassaden strahlen blendend im wieder erstarkten, tief stehenden Sonnenlicht. Hubschrauber fliegen lärmend und in rotierender Wichtigtuerei über die Häuser. Es gibt den inneren - oder bloß innen deponierten - Impuls, hinaus in die Sonne zu gehen, aber ich bleibe im Musikzimmer und blicke aus dem Fenster auf den kleinen Platz unten mit den zwei Bänken und lege mir The Psyche vom Revolutionary Ensemble auf. Der Wind bewegt leise die Zweige und Jerome Cooper trommelt, Sirone basst und Leroy Jenkins zieht über die Geige. Ich kenne nicht viel, aber ich kenne keinen Schlagzeuger, der verrücktere Rhythmen klopft. Der junge Mann unten verläßt die junge Frau auf der Bank und fährt mit dem Fahrrad davon. Ich glaube nicht, dass es für immer ist, aber glauben heißt nichts wissen. Das Bassspiel von Sirone aka Norris Jones erzeugt eine eindringliche Intensität, wie ich sie selten erfahren habe (immerhin bin wegen der Drei 1977 nach Moosham gereist, um sie zu hören und zu sehen und habe ihnen mein herzübergelaufenes Bravo allerdings verhalten und etwas zaghaft in die Liveaufnahme geschrien). Und das Bassspiel wird jetzt von Leroy Jenkins Sologeige abgelöst – eigentlich abstrahierte Spititualmusik. (Natürlich kommen jetzt wieder die depperten Hubschrauber.) Der Schmerz ist noch deutlich spürbar. Während ich stehend am Fensterbrett schreibe und dabei hin und her wanke – Spielbein – Standbein – knackst mein linkes Knie. Nun spielt Jerome Cooper eine Art Klaviersolo, während Sirone hineinbasst. Alle drei sind Meister im langsamen Spannungsaufbau und Meister der versteckten und verhaltenen Melodiösität. Und Meister des absolut konzentrierten Dichte. Und Meister der hinausgezögerten Übergänge – was nichts mit Zögerlichkeit zu tun hat. Die Passanten unten habe ich jetzt nicht beachtet, aber nun schleppt sich eine müde, alte, beladene Frau vorbei, während sich die scheinchaotische musikalische Invasion – Cooper wieder am Schlagzeug – in minimalen Schritten zu einem rockigen Jazz zu ordnen und zusammen zu fügen beginnt. Wirklich mit kaum wahrnehmbaren Übergängen. Die Abendschatten haben das Erdgeschoß schon erreicht.




(26.4.2024)




©Peter Alois Rumpf April 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3642 Wechselrahmen

 



8:23 a.m. Bis jetzt um 11 Uhr 59 ante meridiem ist mir nichts zu schreiben eingefallen und das jetzt noch mit dem billigen Trick, zu schreiben, dass einem nichts eingefallen ist; ein Trick, den ich sowieso schon viel zu oft angewendet habe. Ich gebe zu: ich habe inzwischen auch gelesen und im Sitzen geschlafen. Aber trotzdem: vielleicht sind diese Sätze die Öffner; die Öffner für ein neues Kapitel sozusagen. Und richtig: im Glas des billigen Wechselrahmens dieses schlichten Liebespaarbildes dort im Regal spiegelt sich eine Gestalt, die ich nicht identifizieren kann. Vielleicht ist es der Holzrabe mit dem fälschlicherweise grellgelben Schnabel innen vorm Fenster, aber hinter diesem Glas wirkt er anders, mächtiger und – obwohl er sich nicht bewegt – lebendig.

Ich stehe auf, ziehe am Schnürchen des Rabenmobile, gehe ins Bett zurück und tatsächlich: die befremdende Gestalt ist die verfremdende Spiegelung des Holzspielzeugs. Eine mittägliche Geisterstunde ist es nicht, denn wir haben Sommerzeit. Der Geisterrabe schaukelt immer noch leicht hin und her. Tja, das kommt davon, wenn man kein anders Thema hat, als seine bewohnte Umgebung zu beschreiben.

Der Rabe schaukelt immer noch ein wenig, aber jetzt dürften es nicht mehr die Ausläufer meines Bewegungsimpulses sein, die das verursachen, sondern die Aufwärme über dem Heizkörper beim Fenster. Aber dann müßte er sich doch auch schon vorher bewegt haben!?


(25.4.2024)


©Peter Alois Rumpf April 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3641 Heimliche Feierlichkeit

 



1:31 a.m. Es ist dunkel und still jetzt. Und leer im vollgestopften Zimmer. Staub schwebt durch den Lichtkegel der Leselampe, weil ich gerade erst die Bettdecke auf und dann zugeschlagen habe. Verschwommen nehmen meine Augen die Buchrücken und Bildchen im Bücherregal wahr. Abgelegene Erinnerungen tauchen bildhaft auf meinem inneren Bildschirm auf, gefolgt von befremdenden Gedanken, die jedoch gleich wieder verlöschen. Ich bin müde, aber eine heimliche Feierlichkeit hindert mich, mich hinzulegen.


(25.4.2024)


©Peter Alois Rumpf April 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 24. April 2024

3640 Amos Oz

 



10:04 a.m. Als ich, nachdem ich nach dem Aufwachen lange Zeit mit geschlossenen Augen im Bett hockend verweilt bin und versucht habe, nichts zu denken, die Augen aufschlage, erscheint mir alles im kleinen Zimmer von besonderer Intensität zu sein; jeder einzelne Gegenstand, jedes Ding ist in Farbe und Kontur verstärkt, wie auf manchen Gemälden, was in einem Kontrast zur Verschwommenheit meines verschlafenen Geistes steht. Darum kann er sich nicht entscheiden, ob ich aufstehen und frühstücken, oder aufstehen und Tensegrity üben, oder lieber im Bett bleiben und lesen will. Diese Unentschlossenheit bewirkt freilich, dass ich im Bett bleibe, gähne, den Träumen nachhänge, den Kopf am Polster im Nacken hin und her drehe, mich am juckenden Mittelfinger der rechten Hand kratze, der beim Schreiben den Pilotstift aufliegen hat, und auch ein wenig die vielen Bilder in meinem Zimmer anschaue, wobei ich in der Ecke mit Munchs nackter Geliebten, dem verwortakelten und eingeschrumpften Auferstandenen, und der geisterhaften Liturgieszene hängen bleibe (die letzten beiden sind Photokopien alter Bilder von mir, die auch nur schlampig gemalte und in Trance hingeworfene Kopien irgendwelcher Klassiker sind. Zumindest das eine. Aber nicht ohne!).

Unten ist das Tageskindergeschehen im Moment recht heftig mit Geschrei und Heulen in vollem Gange; und außerdem sind Praktikantinnen in Ausbildung da, was meine Lust, aufzustehen und mein Zimmer zu verlassen, deutlich schwächt. Ich bleibe im Bett und lese (Amos Oz; Eine Geschichte von Liebe und Finsternis).




(24.4.2024)




©Peter Alois Rumpf April 2024 peteraloisrumpf@gmail.com