Donnerstag, 29. September 2016

452 Unsere tägliche Angst gib uns heute

Abend

Wenn ich heute den Mund aufmache, kommt Jammern und Verzagtheit heraus. Wenn ich den Mund halte, dann habe ich das Heulen hinter den Augen. Ich fühle mich erschöpft. Körperlich und seelisch erschöpft. Vor allem meine Seele ist müde. Sicher, auch mein Körper wehrt sich immer wieder; Schmerzen im Rücken, im Fuß, manchmal in den Beinen und im Nacken. Mal mehr, mal weniger. Die Müdigkeit der Seele jedoch macht mir mehr Sorgen. Wenn meine Seele nicht mehr da sein will?
Meine Seele fühlt sich heute einsam hier. Alleinsein macht mir meistens nichts aus, im Gegenteil, meistens habe ich Alleinsein gern. Einsam bin ich eher unter Menschen. Es stimmt, ich fühle mich oft fremd in der Welt, ganz fremd. Nur provisorisch, auf Besuch, auf einem Ausflug, dann geht es wieder zurück in meine eigentliche Heimat. Aber gibt es die überhaupt?
Manchmal sehne ich mich sehr nach einer verwandten Seele, nach jemandem, der oder die die gleiche Spur verfolgt. Einen Weggefährten, eine Weggefährtin. Gerade dann, wenn mir die Welt mit ihrem Geschrei in den Ohren dröhnt.


Morgen

Der Wind schlägt leise und sanft die Fensterflügel aneinander. Körper und Seele sind gut ausgeschlafen. Der lange, intensive Traum – bedeutungsschwer und voller Botschaften – ist mir beim Aufstehen entglitten. Ruhig und friedlich liege ich da. Aber die Ansprüche des Tages machen mich gleich nervös; es fällt mir ein, was ich heute zu erledigen habe, und gleich macht sich Panik in meinem Bauch bereit. Der Friede der ersten Minuten ist vorbei, die Angst hat sich in meiner Körpermitte festgekrallt. Ich lege mir in Gedanken Schritt für Schritt fest, wie ich das Problem wenigstens vorläufig erledigen kann; das beruhigt ein wenig meinen Geist, aber meine Seele bleibt in Panik. Mit ist fast schlecht vor Angst; ich bin hier herunten heillos überfordert.














©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 25. September 2016

451 Soll ich ihn erschießen?

Ich irre wiedereinmal am Stadtrand herum und finde weder Straßenbahn noch Bus, um nach Hause zu kommen. Ich trage einen Rucksack und eine Tasche, die ich umgehängt habe. Keine Ahnung, woher ich komme, keine Ahnung, wo ich bin und eigentlich auch keine Ahnung, wohin ich gehe. Ich vermute nur, ich will nach Hause. Aber wo ist das? Habe ich überhaupt ein Zuhause?
Ich finde mich in der Gegend nicht zurecht. Und waren da nicht gerade noch Menschen mit mir? Frau und Kinder vorhin? Wo sind sie jetzt? Ich weiß es nicht. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich Frau und Kinder habe.
Jetzt jedenfalls bin ich alleine unterwegs. Ich streife herum; endlich sehe ich das Schild einer Bushaltestelle. Ich gehe auf diese Bushaltestelle zu und nehme den Rucksack und die Tasche, die ich umgehängt getragen hatte, herunter und stelle sie auf den Boden, an die Stange der Bushaltestelletafel gelehnt. Mit dem Fahrplan finde ich mich nicht zurecht, ich kann ihn nicht verstehen. Ich weiß es also nicht, ob von hier aus ein Bus in die Stadt geht, aber fragen werde ich können, wenn der nächste Bus kommt, und irgendwie muß ich ja von hier aus zum richtigen Bus finden. Irgendwie muß ja diese Buslinie mit den anderen verbunden sein.
Ich gehe etwas nervös auf und ab. Eine Gruppe von Ungarn nähert sich lachend und redend und stellt sich auch an die Bushaltestelle, um auf ihren Bus zu warten. Ein privater Reisebus kommt und die ungarische Reisegruppe steigt ein. Das ist also kein öffentlicher Bus, sondern von der Reisegruppe gemietet. Als alle eingestiegen sind, merke ich, die haben auch mein Gepäck mitgenommen. Ich denke nicht an Diebstahl, nur, daß auch mein Gepäck irrtümlich in den Gepäcksraum unten verladen wurde. Der Bus fährt schon langsam an, hat aber die Tür noch offen und ich springe auf und sage dem Fahrer laut und deutlich, daß mein Gepäck im Bus ist. „Bitte stehenbleiben, ich will meine Sachen herausholen.“ Mehrmals. Ich bin mir nicht sicher, ob der Busfahrer Deutsch versteht, immerhin ist es eine ungarische Reisegruppe. Aber er spricht akzentfrei Deutsch; möglicherweise ist er ein hiesiger Chauffeur. Er sagt aber nur: “Nein, das mache ich nicht!“ „Aber mein Gepäck!“, sage ich, „ich brauche es!“ „Nein“ sagt er und zuckt mit den Achseln. Er bleibt nicht stehen und fährt langsam mit offener Tür weiter. (Im Traum geht das.) Ich bin ratlos. Ich stehe in der offenen Tür, halte mich an einer Haltestange fest und überlege, ob ich ihn erschießen soll.














©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 21. September 2016

450 Kurze Meldungen

Ich denke an Rad fahren und mit Wörtern betören. Das wär's für heute Nacht.



Ein Traum über echte Liebe läßt in mir tatsächlich einen süßen Schmerz zurück. Von hinter den Augen bis in die Herzgegend. In den Beinen wohnen ganz andere Schmerzen, vor allem das linke tut ordentlich weh. Schwierigkeiten beim Aufstehen.








©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 20. September 2016

449 Kein guter, aussagestarker Text (aber Achtung! Ich bin der Meister der irreführenden Überschriften)

Nachdem ich gestern fünf Texte auf die Schublade gestellt habe und erst um zwei Uhr früh schlafen gegangen bin, habe ich heute schreibfrei. Ich greife nur aus Gewohnheit zum Notizbuch, weil ich doch zu früh aufgewacht bin und mir nichts anderes einfällt. Schreiben muß ich nichts. Es drängt sich auch nichts auf. Aber fürs Tensegrity-Üben bin ich noch zu müde, aufstehen will ich auch noch nicht. Ich liege gut unterpolstert an die Rückwand meines Bettes gelehnt, das Büchel vor mir auf den angezogenen Oberschenkeln liegend, den Kugelschreiber in der Hand, die Lesebrille auf …
Ich erwarte keinen guten, aussagestarken Text, da habe ich mich gestern zu sehr verausgabt. Ich kann auch nicht jeden Tag irgendeine Peinlichkeit aus meinem Leben erzählen, obwohl es deren mehr als genug gibt. Also? Was jetzt? Irgend so ein Schreibgeplänkel?

Zu einem Rosenbergzitat fällt mir etwas ein: Marshall Rosenberg sagt, daß die eigene Angst in den Augen des Anderen fast immer, immer als Aggression erscheint. Ein wichtiger Satz für mich, den ich erst vor Kurzem kennengelernt habe. Sofort hatte ich an meinen Vater gedacht, daß er nämlich meine Angst vor ihm als Aggression gesehen hat. Aber jetzt gerade kommt mir die Frage in den Sinn, wie es umgekehrt war; war das, was ich als Aggression, ja als Haß der Eltern mir gegenüber wahrgenommen habe, auch in Wirklichkeit Angst? Aber wovor? Vor mir? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen! Um mich? Vielleicht schon eher, eventuell in Situationen ihrer Überforderung. Und das Spotten und Bloßstellen, das Niedermachen und Beschimpfen? Jetzt nicht aus Stressituationen heraus, sondern nur so nebenbei? Was war das?
Da tut sich für mich ein großes Forschungsfeld auf. Immerhin auch ein Ergebnis.

Da fällt mir noch etwas ein: Wolfgang Döbereiner erklärt ja, daß die Söhne von den Müttern den Namen Peter bekommen, die sie an den eigentlich gewünschten Partner erinnern sollen. Also die Mutter hat einen Mann geheiratet, den sie sich nicht gewünscht hat, weil der „Eigentliche“ für sie nicht erreichbar war. (Kann man auch bei Peter Rosegger nachlesen.) Der Sohn Peter (Petrusamt als Stellvertreteramt) soll den eigentlichen Geliebten repräsentieren und die Mutter an ihn erinnern. Der Ehemann und Vater des Peter (meistens der älteste Sohn) hat keine Chance gegen den „eigentlich“ Geliebten seiner Frau, weil der nicht anwesend und greifbar ist und als idealisiertes Phantom unangreifbar und unbesiegbar. Die Mutter will sich an ihrem Partner dafür rächen, daß sie ihn, den Falschen und Ungeliebten, geheiratet und sich von ihm ein Kind hat „machen“ lassen hat. Der Sohn Peter wird in dieses Drama hineingezogen und erhält den Auftrag, diese Rache der Mutter an ihren Ehemann, also an seinen Vater, zu vollziehen. Der Peter rennt also mit so etwas wie einem ödipalen Tötungsauftrag herum und soll auf jeden Fall seinen Vater besiegen. Das Unbewußte weiß diese Zusammenhänge, auch das meines Vaters. Also ist es sehr wahrscheinlich, daß er tatsächlich – unbewußt – Angst vor mir hatte, weil er den Tötungsauftrag der Ehefrau spürte und mich, als den Stellvertreter des „Eigentlichen“, als Repräsentant seines unbesiegbaren Rivalen wahrnahm und so einen Feind heranwachsen sah.
Das ist plausibel!

Man und frau soll sich keine Illusionen machen, hinter den groß-, klein- und mittelbürgerlichen Fassaden spielen sich diese ganzen grausamen, archaischen Tragödien ab. So auch Döbereiner. Dann wird mir meine lebenslange Handlungsunfähigkeit klar – ich will den Auftrag nicht ausführen und mich davonstehlen. Scheitern als Versuch des Kindes, sich zwischen den Fronten durchzuschummeln, weder Vater noch Mutter zu verlieren und einen unmöglichen Ausgleich zu schaffen.
Natürlich gäbe es eine echte Lösung, nämlich Heilung, aber das müßte schon ein veritables Heilungswunder sein, und wird nicht ohne Mitwirkung der Himmelskräfte gehen. Naja, ich übertreibe gern. Immerhin habe ich mich nicht ganz blenden lassen und durchschaue – hier muß ich eindeutig sagen: dank Döbereiner – dieses archaische Drama ein wenig, zumindest in hellen Momenten.

Wichtig ist mir in solchen Zusammenhängen die Aussage von Jesper Juul, daß in der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern die Verantwortung für die Qualität der Beziehung ausschließlich beim Erwachsenen liegt (aus dem Gedächtnis zitiert).
Und: jeder hat die Chance, hinter die Fassaden zu schauen, er muß nur mutig genug sein. Ist ein solcher destruktiver Mechanismus einmal ins Bewußtsein gebracht, hat er schon viel seiner Macht verloren. Hoffe ich zumindest.













©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com


Montag, 19. September 2016

448 Ej, uch - njem

Wie schon oft beschrieben war ich ein sehr schüchternes, ängstliches Kind, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die einen aufgeweckten, mutigen, „richtigen“ Buben bestellt hatten. Aber auf das Thema widersprüchliche Elternaufträge  – ein wilder Bub sein, aber den Eltern immer brav und folgsam gehorchen, immer auf sie Rücksicht nehmen – will ich jetzt nicht eingehen.
Ich war nicht nur schüchtern und hatte Angst vor Menschen, sondern ich traute mir auch körperlich nichts zu. Ich kletterte freiwillig nicht auf Bäume, hatte Höhenangst, raste beim Schifahren oder Schlittenfahren etcetera nicht mutig ins Tal, ich sprang nicht übers Bächelein, zögerte hier, zögerte da, wahr unsicher und ungeschickt. Ich hatte weder Kompetenz über, noch Vertrauen in die Fähigkeiten meines Körpers. Über einen Zaun steigen – von richtigen Buben so mir nichts dir nichts erledigt – ging bei nur unter Angst, Zittern und sehr mühsam. In unserem Kinderlexikon gab es eine Darstellung der vier klassischen Charaktere an Hand von vier verschiedenen Verhaltensweisen vor einem den Weg versperrenden Zaun. Der Sanguiniker springt fröhlich über das Hindernis. Der Choleriker tritt wutentbrannt den Zaun um. Der Phlegmatiker setzt sich entspannt auf den Zaun und der Melancholiker stellt sich traurig hin, lehnt sich ein wenig an den Zaun und schaut sehnsüchtig in die Ferne.
Ich wußte gleich, ich bin der Melancholiker und war erschrocken über die Ausweglosigkeit, die dieses Bild und diese Definition (man könnte auch Diagnose sagen) suggerierte. In einem unserer Märchen- und Geschichtenbücher gab es auch eine Erzählung von Peter, dem Trauminet, der in dieser Geschichte schlußendlich eine Heldentat vollbringt, indem er sein Leben für andere opfert. Auch nicht gerade eine Überlebensstrategie. Entweder werden sie wie beim "Schimmelreiter" (Theodor Storm) gleich eingemauert, also geopfert, oder sie „müssen“ sich von sich aus opfern, um anerkannt zu werden. Auch bei Ludwig Thoma gibt es eine Geschichte, wo ein Peter ein Trauminet ist. Und auch bei einer Radiosendung für Kinder gab es einen Peter, der Trauminet. (die tiefenpsychologischen Zusammenhänge mit dem Namen Peter habe ich hier in der Schublade an anderer Stelle beschrieben.) Damit will ich nicht behaupten, daß alle Peter Feiglinge sind. Ich jedoch war es in den Augen meiner Eltern, der Umgebung und schließlich auch in meinen eigenen. Ich kann mich noch an das spöttische Grinsen meines Vaters erinnern, als ich die oben erwähnte Radiogeschichte gehört habe. „Da! Von dir ist die Rede!“

Als ich ins Gymnasium kam, erste Klasse, erste Turnstunde, hielt der Turnlehrer eine Ansprache. Er erzählte von seinem Sohn, welch ein mutiger und tüchtiger Bub der ist. Ich höre ihn noch: „er hat sich schon dreimal den Arm gebrochen, aber er traut sich was!“ Die Intention der Rede war, daß er sich Buben so vorstellt und daß er das auch von uns erwartet.
Mir aber zog es den Boden unter den Füßen weg! Ich wußte ja genau, so bin ich nicht. Vielleicht habe ich es schon geahnt, daß der Turnunterricht eine einzige Kette aus Scham, Bloßstellung, Verhöhnung und Demütigung sein wird. So eine Art kleine Hölle auf Erden. Mein Entsetzen und meine Panik müssen aus meinen Augen gestarrt haben, denn der Professor fragte die anderen Buben, „warum schaut mich der so an?“ und deutet auf mich. Ich bin sicher rot vor Scham geworden, obwohl ich vorher vor Schock und Entsetzen weiß war.

Es ist ja fast immer so, daß der Beginn – in der Volksschule konnte nicht von einem Turnunterricht geredet werden – daß der Beginn das aus ihm sich Entfaltende schon im Kern enthält und in gewisser Weise das Folgende definiert. Somit wurde dies ein für mich und meine Rollenzuteilung ein prägendes  Ereignis, tatsächlich das erste, bestimmende Glied einer Handlungs- und Erlebniskette, die sich diesem Muster nie mehr wirklich entwinden konnte. Das kann man möglicherweise nur, wenn es einem gelingt, diesen „Schadzauber“, diese Verwünschung, diese Definition gründlich und als Ganzes abzuschütteln. Ich kann mich jedoch nur an zwei „Ausflüge“ im Turnunterricht in andere Sporterfahrungen erinnern, einmal beim Fußballspielen, einmal beim Schwimmen, jeweils mit nachfolgendem Rückfall ins alte Schema. Ah, noch ein dritter Ausflug, beim Volleyballspielen, fällt mir jetzt ein.

Der Turnunterricht ist dann auch so abgelaufen wie angekündigt. Beim Geräteturnen – was für eine Qual! - steht der Professor mit Notenbüchlein daneben und trägt seine Minuszeichen ein. Schifahren. Der Professor steckt einen Slalom, steht mit seinem Notenbüchlein im Ziel und Torfehler: fünf, als Letzter im Ziel: fünf. Daß ich in Turnen nicht durchgefallen bin, hat mit der damaligen Praxis zu tun, wegen Turnen niemand die Klasse wiederholen zu lassen.

Diesen Professor hatten wir auch in Musik. Dort war er mir lieber, denn wir sangen viel. Ihm verdanke ich eines meiner liebsten Weihnachtslieder, von dem ich beide Stimmen singen kann.
Als einmal zu Beginn eines Schuljahres – schon in einer höheren Klasse – ein junger Musikprofessor zur ersten Stunde in die Klasse kam, der auch protestantischer Religionslehrer und Pastor war  und uns in protestantischem Bildungseifer die ganze Schulstunde ohne einzige Verschnaufpause einen durchgehenden Vortrag über die Anfänge der Musik beginnend beim unartikulierten Schrei hielt, natürlich mit der Annahme, daß wir das alles so schnell mitschreiben können und lernen werden, schauten wir uns betroffen an und fürchteten, eines der entspannteren Schulfächer verloren zu haben. Als dann in der zweiten Musikstunde doch wieder unser alter Musikprofessor bei der Tür hereinkam, waren wir erleichtert. Aus seinen Erzählungen, Anmerkungen und Kommentaren meinte ich herauszuhören, daß er ein Antisemit war, ich vermutete, ein alter Nazi. Zumindest war das damals mein Verdacht, aber explizit weiß ich das nicht.
Bei ihm haben wir auch das alte Wolgaschlepperlied „Ej, uch – njem“ auf Russisch gelernt. Auch eines der Lieder, das hängen geblieben ist, und manchmal, wenn ich Lust auf Singen hatte, und besonders dann, wenn ich merkte, daß meine Stimme eingerostet oder ausdruckslos war, sang ich es, um meine Stimme ein wenig in Schwung zu bringen. Später dann habe ich es immer meinen Kindern als Wiegenlied vorgesungen, nicht ohne mich darüber zu amüsieren, ein Arbeitslied als Schlaflied zu verwenden.

Aber zurück in die Jahre so um 1990, 1991 herum. Ich war mit Künstlerfreunden beim Heurigen Muck in Stammersdorf (gehört zu Wien), spanische Künstlerfreunde waren auch dabei. Wir tranken und redeten und bald schon begannen die Spanier ihre Lieder zu singen und zu „paschen“. Am Tisch daneben saßen zwei Männer – ob allein oder in Gesellschaft kann ich mich nicht mehr erinnern – die ich vom Aussehen her als Russen vermutet hatte, was sich tatsächlich als richtig herausstellte, weil es die Wirtin erwähnte in ihrer Begeisterung für ihre internationale Kundschaft.
Wenn ich zum Beispiel wie damals beim Muck die Spanier so unbefangen ihre Lieder singen höre, schmerzt es mich schon ein wenig, daß wir beziehungsweise ich ein so ambivalentes Verhältnis zu unseren Liedern haben und es hatte mich damals gereizt, auch ein paar Lieder zu singen. Ich dachte an österreichische Volkslieder, aber da das „Ej, uch – njem“ immer mein Einstiegslied ins Singen war und vor allem, weil dort drüben zwei Russen saßen, war ich nahe dran, es laut und alleine zu singen und dabei den Russen zuzuprosten. Nahe dran, aber dann habe ich mich doch nicht getraut, obwohl ich schon betrunken war. Also habe ich nichts gesungen.

Jahre später, als ein gewisser Wladimir Wladimirowitsch Putin in der russischen Politik aufstieg und weltweit bekannt wurde, dachte ich, das ist doch der eine Russe vom Muck! Natürlich, sicher weiß ich das nicht, aber komplett unwahrscheinlich ist es von vornherein auch nicht. Als wichtiger, in Dresden stationierter KGB-Offizier mit ausgezeichneten Deutschkenntnissen und wenn man bedenkt, daß Wien bis heute als Tummelplatz aller möglichen ausländischen Geheimdienste gilt, ist es durchaus möglich, daß sich Putin zu der Zeit in Wien aufgehalten hat. Seitdem gehe ich mit der Geschichte hausieren, daß ich beinah Putin kennengelernt hätte, wenn ich mir getraut hätte, damals beim Muck das „Ej, uch – njem“ zu singen.

Aber zurück in die Fünfziger- und Sechzigerjahre. Warum war ich als Kind so ängstlich? Das Vertrieben-Sein aus dem eigenen Empfinden verhindert auch das Gewahrsein des eigenen Körpers und seiner Impulse und Fähigkeiten. Sigrid Chamberlain beschreibt in ihrem Buch „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, wie sich Kinder, die einer solchen vom Nationalsozialismus geprägten Erziehung ausgesetzt waren – und als Erzieher meine ich hier vor allem meine Eltern, wenn auch Schulen und große Teile der Gesellschaft noch von diesem Ungeist durchsetzt waren – wie solche Kinder also auch noch als Erwachsene Schwierigkeiten haben, ihren Körper zu spüren, seine Schmerzimpulse verdrängen und oft einen Sog spüren, der von Gefahren ausgeht. In der extrovertierten Variante zum Beispiel als Extremsportler, in der introvertierten Variante, der ich angehöre, das Hineinrennen in Unfälle.
Diese meine Ängstlichkeit war wohl auch ein Schutzmechanismus. Darum habe ich mich nie getraut, den Führerschein zu machen; die tiefverwurzelte Angst, unbewußt Gefahren geradezu anzusteuern, war berechtigt. Als ich zum Beispiel eine Tischlerausbildung absolvierte, obwohl ich immer Angst vor den Maschinen hatte, aber tapfer versuchte, die Angst zu überwinden und mich dazu zwang, das nicht aufzugeben, hatte ich mir gleich nach ein paar Wochen den halben linken Daumen abgeschnitten. Das ist natürlich keine große Sache und es stört mich auch kaum, aber das Muster ist deutlich. Es geschah auch in einem Trance-ähnlichen Zustand, wo ich die Konzentration verlor und meine Wahrnehmung verschwamm. Solange ich diesen Fluch meiner Kindheit nicht los bin, besteht tatsächlich Gefahr.
Vor diesen Gefahren hat mich meine Ängstlichkeit als Kind zu schützen versucht. Danke, liebe Ängstlichkeit!














©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com


447 Nichts

In der Nacht

Nichts. Einfach nichts. Gar nichts.


In der Früh

Natürlich ist etwas, aber ich kann es nicht in Worte fassen. Ich kann mir dazu nichts ein-bilden, ich kann dazu nichts denken. Ist mein Interpretationsapparat zu träge? Oder will er so nicht mehr? Hat er genug? Sucht er neue Möglichkeiten?
Die Alltagswelt rundherum beginnt mich abzulenken, zieht Teile meiner Aufmerksamkeit auf sich. Aber wirklich lasse ich mich darauf nicht ein. Ich bleibe an der Außenseite.
Meine Wahrnehmung bleibt trotzdem ganz normal. Also sind das doch eher Gedanken und Spielchen des inneren Dialogs. Findet nur in meinem Kopf statt, ohne echte Auswirkung auf die Wirklichkeit. Darüber muß man wirklich nicht schreiben.

Der Wind bewegt die Rollo, und das Querholz unten klopft leise und schüchtern an des Holz des Fensterflügels.










©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com


446 Siebentausenddreihundertsiebenundzwanzig

Es ist Samstag. Ich habe mich zu einem Workshop angemeldet. Der soll zur Verbesserung meiner …    der soll zur Verbesserung beitragen. Ich habe keine rechte Lust. Ich habe schon bezahlt, aber denke mir, vielleicht war das zu voreilig. Mir wird demnächst das Geld für solche Sachen ausgehen. Ist es das Richtige? Ich kann so schwer nein sagen! Andererseits denke ich, mein Widerstand ist Abwehr und somit ist das genau das Richtige. So zweifle ich hin und her.
Weil ich schon bezahlt habe, gehe ich hin. Ich fahre zuerst mit der U-Bahn, dann mit der Straßenbahn. Samstag in der Früh ist da nicht allzuviel los. Ich habe einen Stadtplan bei mir, weil mir die Lokalität unbekannt ist. Das letzte Stück gehe ich zu Fuß. Das mache ich gerne. Es ist ein kühler Tag, aber angenehm zum Gehen. Wie immer bin ich zu früh. Wie immer beschimpfe ich mich wegen meiner Überpünktlichkeit. Das ist so typisch! Übereifriges braves Bubi, autoritätshörig, voller Angst, einen Fehler zu machen oder zu spät zu kommen. Was werden die anderen denken! Nachdem ich den Seminarraum gefunden habe, zwinge ich mich, exakt zehn Minuten einfach geradeaus die Straße weiter zu gehen, wenn ich dann umdrehe und zurück gehe, bin ich noch rechtzeitig, aber nicht der Erste. Vermute ich.
Ich bin angespannt und nervös. Wie ich solche Situationen kenne! Beim Gehen merke ich, ich habe wirklich keine Lust. Wieder ein Neuanfang! Der siebentausenddreihundertsiebenundzwanzigste Versuch, mein Leben in Ordnung zu bringen. Bis jetzt hat nichts geklappt. Ich bin immer wieder in meine beschissene Ausgangslage zurückgefallen. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, daß ich mir zum siebentausenddreihundertsiebenundzwanzigsten Mal Hoffnungen mache. Ich fürchte eine weitere Enttäuschung. Viele Enttäuschungen halte ich nicht mehr aus. Ich kann mich mit einem gescheiterten Leben abfinden, aber nicht mehr, mir neue Hoffnungen auf Veränderung zu machen und wieder zu versagen. Denn als mein Versagen sehe ich das, wenn ich nicht weiterkomme.
Als ich wieder zur Eingangtür zurückkomme, sehe ich eine Frau sich dieser Haustür nähern. Ich denke sofort, die geht auch dorthin. Ich warte, bis sie drinnen ist, ich will jetzt in kein Gespräch verwickelt werden, „gehst du/ gehen Sie auch zum …?“ „Ah, ja, interessant!“
Erst nachdem sie schon ein paar Sekunden in der Haustür verschwunden ist, gehe ich selber zur Haustür. Wieder dieses Eintreten in einen unbekannten Raum, unsicher, zögernd schaue ich mich um, wieder neue unbekannte Leute. Die Frau von vorhin ist auch da. Eigentlich habe ich Angst, aber ich bin gut trainiert, nicht auf mein Empfinden zu hören. Die Räume alle irgendwie „schön“, die Leute alle sehr tüchtig. Ach, diese Scham, immer der einzige Versager in der Runde zu sein! Alle haben sie ihre Berufe, kommen gerade von Fernreisen zurück, oder werden demnächst zu einer solchen aufbrechen. Alle haben sie Häuser mit Gärten, tolle Wohnungen, Autos. Alles weit jenseits meiner Möglichkeiten. Gut, ich gebe zu, ich habe nicht alle durchgefragt. Und nicht nur das Geld! Ich wäre für so eine Fernreise nicht mutig genug. Ich fürchte mich doch vor allem und jedem. Ich komme doch mit dem hier, mit dem hier Üblichen und Bekannten schon nicht zurecht. Ach Gott, wie viele Seminare, Therapien, Workshops, wie oft habe ich in solchen Räumen gewartet! Oder bei der Jobsuche, oder bei Galerien, damals, als ich noch gemalt habe. Immer diese Aufregung und Anspannung. Und immer diese große, oder kleine, oder auch nur ein wenig aufkeimende Hoffnung. Immer dieses „Jetzt, jetzt … jetzt schaffe ich den Schritt hinaus aus meinem Lebensdilemma!“ Immer dieses zitternde Warten! Immer bei Null beginnen. Nein, ich halte das nicht mehr aus. Ich weiß, ich werde es so angehen, daß dabei nichts herauskommt. Ich möchte nichts mehr wollen, ich möchte mich nicht mehr ändern. Ich will mich in Ruhe lassen. Ich möchte nur mehr auf eine Straße schauen können, aus einem Kaffeehausfenster zum Beispiel, oder vom Zug aus auf die Landschaft, auf die Leute da draußen, den Menschen beim Leben zuschauen. Voyeur des Lebens.
Die Seminarleiterin beugt sich vor um eine Mappe vom Boden aufzuheben und ich schaue ihr kurz in den Ausschnitt. Ja nicht auffällig! Dabei weiß ich, das ist eine Illusion, es wird immer bemerkt. Mein Gott, so alt bin ich und immer noch ein bedürftiges Baby! Was für eine Schande! Gleichzeitig beneide ich fast – ich betone: fast – die Männer, die so etwas normal finden. Die sich gesund vorkommen, wenn sie eine Frau angaffen. Es muß etwas jenseits von gut und böse geben. So, ich höre jetzt auf! Schluß! Aus! Puuh!












©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

445 Schimmelpilzkonglomerate

Schimmelpilzkonglomerate reisen durchs Universum auf uns zu und ihre Kundschafter sind schon gelandet. Ich will nur mehr sinnlosen Schmarrn schreiben, denn was ich in mir vorfinde, halte ich momentan selber kaum aus. Immer der gleiche Jammer. Rundherum, wenn ich mich außen umschaue, ebenfalls immer das Gleiche. Lüftungsgeheule im Lichtschacht, Weckerticken, Surren  um die Ohren. Wollt ihr davon noch lesen? Wohl kaum! Gut, jetzt redet wer im Lichtschacht, anders als sonst, klingt ganz wichtig. Ich verstehe nichts. Telefonieren wahrscheinlich. Ich bin erschöpft vor Frustration, aber ich kann aus meiner Haut nicht heraus. Auch das eine blöde Redensart und sicherlich eine Ausrede. Die Entlüftung legt wieder los. Irgendwo an einem Lichtschachtfenster plätschert wer in der Badewanne. Der Geruch von Nagellack steigt herauf. Steigt, steigt, steigt! Kann Nagellackgeruch so hoch herauf steigen? Kommt der woanders her? Mir wird schlecht davon.
Ich schäme mich meiner viel zu sehr. Das war schon einmal besser. Na, komm! Bleib lieber beim Röhren der Lüftung. Das Geräusch scheint zu pulsieren und sich gleichzeitig als Spirale vorwärts zu drehen. Vollmondnacht. Richtig! Bei Vollmond war ich immer besonders müde. Mein Kreuz schmerzt auch. Na und? Das ist nichts Neues. Couche! Gib Frieden! Schlaf! Nasenbluten.











©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

444 Wundertäterfragment 22

„Wundertäter, was ist los mit dir?“

„Ich habe ein chaotisches Magnetfeld. Und schwach ist es. Darum schützt es so wenig vor der Umgebungsstrahlung.“

„Wie?“

„Naja, gehe ich in eine Kirche, werde ich religiös, oder auch antireligiös. Das Magnetfeld der Kirche wirkt bis in meinen Kern und der dreht sich mit oder dagegen.“

„Aha! Ist das physikalisch überhaupt möglich?“

„Weiß nicht. Aber es wirken nicht nur Gebäude; auch Menschen, Menschengruppen dringen tief in mein Magnetfeld ein. Bei Gebäuden ist es ja auch so, daß die Energien und Intentionen der Erbauer und Benutzer darin gespeichert sind und als Magnetfeld wirken, beziehungsweise das bestehende verstärken. Fußballstadien. Ich verliere mich in allem. Deshalb vollbringe ich keine Wunder.
Kino! Ein existentialistischer Film und ich bin existentialistisch unterwegs; ein erotischer Film und ich ...“

„Ja, ja! Das kann ich mir denken!“

„Aber es ist immer eine Bewegung mit dem einwirkenden Feld möglich oder gegen es. Beides ist eine Auswirkung des einwirkenden Magnetfeldes. Das macht keinen Unterschied. Übrigens ein Photo kann auch genügen.“

„Ja, interessant!“

„Sehe ich Raucher, will ich rauchen und denke: wie hingegeben ihrer Atmung, wie meditativ auch, wie geisterweckend, wie ungeniert süchtig, wie kommunikativ mit anderen Rauchern. Man hat im Gespräch einen dritten Bezugspunkt, der die Fixierung auf das Gegenüber auflockert und somit das Gespräch erleichtert. Oder ich komm mir ganz toll vor, weil ich nicht rauche. Eine beschwipste Tischgesellschaft – ich will trinken. Ich denke, wie verzwickt ich mit meiner Abstinenz bin, während die so fröhlich sind, so locker, welche Gemeinschaft! Dem Augenblick hingegeben! Wenn ich einen Asketen sehe, will ich auch unbedingt ein Asket sein. Wie der leicht und unbelastet die Stiegen hinauf geht! Fröhlich, sorglos, frei. Und wie dünn er ist, trägt keine unnötigen Lasten. Wenn ich an einem Tatooshop vorbeigehe – schon lasse ich mir den Orion tätowieren, obwohl ich vorher noch Tatoos verabscheut habe.
Und Musik! Aber der setze ich mich freiwillig aus!“

„Und warum hindert dich das an den Wundern?“

„Weil ich dadurch mein Feld nicht aufbauen und stark werden lassen kann. Ständig wird es hin und her gerissen, verzerrt, abgelenkt, zusammengepresst, auseinandergezogen bis es ganz dünn und schwächlich ist oder es wird so klein, daß davon fast nichts mehr da ist. Zeitweise habe ich mehr als zwei Pole; es wird fast auseinandergerissen.“

„Und was kann man dann tun?“

„Nichts.“

„Hm!“

„Ja und die Magnetfelder zum Beispiel der Kaffeepflanze auch – wenn ich Kaffeeduft rieche, schlägt mein Herz schon schneller. Wenn ich Kaffee trinke stellt sich sofort eine starke Wirkung ein; sofort verschiebt sich alles; ich rede dich zwei Stunden lang nieder. Aber kein Wunder.“

„Dann bist du ja gar kein Wundertäter!“

„So gesehen nein. Aber das Potential wäre da, nur das entsprechende Magnetfeld nicht.“

„Ich dachte, dein Wundertäter geht auf den von Daniil Charms zurück; und der kann Wunder vollbringen, aber macht es nicht.“

„Stimmt! Insofern ist mein Wundertäter nur eine Karikatur meiner selbst.“














©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 15. September 2016

443 Rudimentäre Pilgerfahrt

Nun sitze ich im Kreuzgang des Klosters und schaue mich im ersten Hof um. Vor mir ein Brunnen, ich höre ihn plätschern, sehe das Wasser von hier aus nicht, nur sein wellig reflektiertes Licht auf der Brunnenfigur, denn um diesen Brunnen stehen fünf riesige Platanen. Die Dreifaltigkeitssäule weiter drüben ist fast zur Gänze – nur von meinem Blickwinkel aus – vom Laub der Baumkronen verdeckt.
Man hört den Straßenverkehr, trotzdem ist es hier still. Leute gehen herum, verlieren sich fast im weitläufigen Hof, auch sie von mir aus gesehen hinter den Bäumen.
Ich habe gegessen und bin satt, Trägheit hüllt mich ein.
Es ist Nachmittag und heiß, hier im Schatten jedoch angenehm.
Ich bin innerlich abwehrend aggressiv den herumgehenden Menschen gegenüber, voller Hochmut. In Wirklichkeit wohl eifersüchtig – weil, … eigentlich gehöre ich hierher, ich, ich! Seht ihr nicht? Ich gehöre eigentlich hierher! Ich sollte mich hier selbstverständlich bewegen, nicht ihr! Und fühle mich dennoch als Eindringling, der bestenfalls geduldet wird bis auf Widerruf.

Die Nachmittagssonne auf der bunten Rinde der Platanen. Diese langweiligen Nachmittage, die so voller geheimnisgeladener Intensität sind. An solche Nachmittage kann ich mich bis in meine Kindheit zurück erinnern. Wie ich zum Beispiel allein auf den riesigen Röhren für irgendeinen Umbau gesessen bin, Spätsommer, das Sonnenlicht auf dem hellen Beton der Röhren, eine Ahnung davon, daß hinter der Realität etwas ganz anderes ist, gleich bricht es durch, gleich werde ich es sehen.
Nein, es ist nicht durchgebrochen; nein, ich habe es nicht gesehen. Aber gespürt habe ich es; ich war ganz knapp dran.

Vor mir auf der Säule ein vierstrahliger Stern, nur hier, soweit ich sehen kann.

Die Kronen der fünf Platanen bilden eine große Kugel, ich sehe in ihr bergendes Inneres.
Ein Mönch in weißer Kutte geht drüben vorbei, ich habe ihn schon beim Hergehen beten gesehen; er wirkt ein wenig unbeholfen auf mich, so wie ich es selber bin, meine Gefühle für ihn schwanken zwischen Verachtung und Mitleid, so wie mir selber gegenüber. Darum muß ich leise lachen.

Im Hof stehen keine Autos, auch das ist angenehm. Unangenehm wird mir jetzt die Bank, auf der ich sitze. Ich werde ein wenig herumgehen. Aus einer Pforte tritt eine Reisebusgesellschaft, offensichtlich nach einer Führung durchs Stift. Viele dicke Menschen, die lachen. Ganz wohl ist mir dabei trotzdem nicht. Ich werde abwarten, bis sie weg sind, dann erst herumgehen.

Ich bin zum Brunnen gegangen inmitten der grünen Platanenkugel, um ihn herum, habe seine Figuren angeschaut, seine Reliefs, das Wasser, die Blätter und Münzen im Wasser, dann bin ich in die Kirche. Dort sitze ich jetzt ganz hinten. Vor mir das große Gitter, auf dem eine Verbotstafel hängt. Photographieren und Telephonieren verboten. Unter der Verbotstafel luge ich durchs Gitter, indem ich mich ein wenig beuge, auf ein großes bemaltes Kreuz nach romanischem Vorbild. Ganz weit hinten im Altarraum. Darauf ist Christus kein Schmerzensmann, sondern eher schon der Auferstandene; er breitet seine Hände wie zum Segen oder einer Begrüßung aus, er steht oder besser schwebt aufrecht, er hängt nicht, er wirkt souverän, wie jemand, der sich selber dort hingestellt hat und aus gutem Grund. Er weiß, was er tut.
Ganz still ist es jetzt; eine Fliege und ein fernes Flugzeug, ein paar Schritte im Kies. Ich nehme einen Schluck Wasser aus meiner Flasche, ich „proste“ sozusagen dem Chistus da vorne am Kreuz zu, indem ich wie beim Zuprosten die Flasche kurz in seine Richtung halte und sage, „gib mir lebendiges Wasser!“ Ich weiß ja, daß er das kann. Aber ich bin wohl zu vernagelt. Ich weiß es ja selber nicht, ob ich das ernst meine, oder bloß als Gag.

Kirchen sind Orte, die können mich anziehen. Jetzt fängt das wieder an! Ich habe das doch endgültig abgeschlossen. Ich gehe besser zu den Bäumen hinaus.

Zuerst bin ich zum Bach gegangen, ein schöner Bach mit schön ausgehöhlten Steinen, aber man kommt nicht zum ihm hinunter. Also zurück in den ersten Klosterhof. Ich schaue von meiner Bank wieder zum Brunnen hin, aber von einer anderen Seite. Das letzte Sonnenlicht trifft punktgenau auf den Strahlenkranz der Heiligenfigur am Brunnen, ich vermute es ist der heilige Josef.
Ich sehe die wasserspeienden Vögel, eine schöne, schlichte Laterne an der Wand bei der kleinen Pforte.
Ich sehe die barocke Dreifaltigkeitssäule; wie alle diese Säulen fast immer ist sie ein reichlich absurdes, schräges, verrücktes Kunstwerk, mit ihrem Putten-bevölkerten Wolkengetürm, ihren verzerrten Figuren in überdrehten Haltungen, wie in einem absurden, ausufernden Theater. Ich habe viel übrig für absurdes Theater, aber nicht so. Und schon gar nicht im religiösen Kontext. Und die Putten gehen mir gehörig auf die Nerven. Mit Engel, den Wesen aus anderen Dimensionen (um es einmal so auszudrücken), haben die nichts zu tun. Infantil sind sie, und ich habe immer den Eindruck, das ist die Vorstufe zur Kinderpornographie. Ich lasse das jetzt.

Ich höre die Glocke fünf Uhr schlagen, ich sitze ein wenig abseits. Das Plätschern des Brunnens übertönt und beruhigt das Geplapper einer weiteren Reisegruppe. Ich möchte in den wirklichen Silencium-Bereich. Ich meine natürlich meine eigene Innere Stille. Gut, das ist dann nur mehr meine Sache. Und da müßte ich die Welt in Ruhe lassen können.

Der mysteriöse vierstrahlige Stern stellt sich als Wandhaken heraus. Eine Entmystifizierung.

Ich wäre gerne über die Nacht geblieben, aber es hat sich nichts ergeben.















©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

442 Verrückt sein auf mittlerer Höhe

Ich bin auf mittlerer Höhe durch den Wienerwald gewandert, nicht über die Berge rauf und runter, nein, soweit es gegangen ist auf mittlerer Höhe (Gruß an Freund Bruntomeff!). Es hätte auch einen Weg gegeben, der die Hügel hinauf und hinunter verläuft. Aber ich ziehe immer die mittlere Höhe vor. Ein Weg, der sich um die Berge und Hügel herumschlängelt. Nach dem unvermeidlichen steilen Anstieg zu Beginn eine angenehme, sanfte Wanderung im Wald, vor allem bei der heutigen Hitze. Im Hinterkopf hatte ich den Plan, irgendwo am Weg oder im Kloster, das mein Ziel ist, zu übernachten, denn ich wollte wieder einmal den Sternenhimmel sehen. Ich liebe es, den Sternenhimmel anzuschauen. Am tollsten war er einmal im Winter auf der Rax. Gut, jetzt ist Spätsommer, leicht dunstig, aber außerhalb der Stadt, ein wenig abgelegen, müßte man doch viele Sterne sehen können. Ich habe eigens deswegen die Sternenkarte in meinen Rucksack gesteckt, obwohl sie dabei etwas lädiert wird. Für dieses Sterneschauen schien mir ein Gasthaus am Weg besonders geeignet, denn es liegt auf einer schönen Wiese im Wald, vermutlich wenig Lichtsmog und freie Aussicht auf den Himmel. Als ich an diesem Gasthaus vorbeikomme, sehe ich, da ist nichts von Zimmervermieten angeschrieben. Ohje, denke ich mir. Trotzdem gehe ich hinein, um zu fragen. Drinnen steht die Wirtin hinter der Budel und redet mit einem Mann, ob Gast, Lieferant oder sonst was weiß ich nicht. Sie reden etwas länger, bevor ich drankomme. Ich warte geduldig. Der Mann ist schon am Weggehen, als es endlich möglich ist zu fragen, ob man hier auch übernachten kann. Der Mann dreht sich um und sagt im Hinausgehen, „nur wenn die Wirtin auf die Seite rückt!“ und lacht. Ich winke ab und will ernsthaft fragen. Die Wirtin erklärt mir darauf, sie vermieten keine Zimmer, die werden privat genützt, und bei ihr liegen gehe nicht, weil der Kater so eifersüchtig sei und immer bei ihr schlafen muß und überhaupt sehr gefährlich sei. Hääh? Das war nicht meine Frage. Aber gut, es ist klar, sie vermieten keine Zimmer. Also setze ich meine Pilgerreise fort. Aber wie habe ich meine Frage genau formuliert? „Kann man hier ein Zimmer mieten“?  Oder „Kann ich bei Ihnen übernachten?“ Das weiß ich leider nicht mehr.















©Peter Alois Rumpf   September 2016  peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 13. September 2016

441 Konkurs

Vorsichtig horche ich in mein Inneres. Ich will nicht zu viel von dem alten Dreck aufwühlen, sondern an den leuchtenden, lauteren Kern kommen. Okay, das wird nicht so schnell gehen. Dann wenigstens nach ihm schauen.
Ich bin satt und müde. Vom Winterbild an der Wand glänzt mir dezent die Sonne entgegen, hinter Nebel verborgen. Die zwei Visionäre strahlen mich an. Ob sie etwas an mir sehen? Ich glaube, ich habe mich nicht so recht an mein Inneres getraut, aus Sorge, wieder etwas Ungutes loszutreten. Wegen mir ist das nicht, eher wegen meinen Mitmenschen. Dann lassen wir es für heute gut sein.




Es ist noch finster. Ein traumzitternder Morgen; ich beruhige mich nur langsam. Ich denke an Konkurs. Seelischer, geistiger, spiritueller Konkurs; meine Kräfte reichen nicht aus. Zu wenige „Früchte der Umkehr“ (© Johannes der Täufer) hervorgebracht. Ich muß mir bescheidenere Ziele suchen. Zu wenige Einnahmen, zu viele Ausgaben. (Krämerseele!) Kenne mich aber im Konkursrecht für innere Angelegenheiten nicht aus. Ich werde heute einen katholischen Pilgerweg gehen. Ist das bescheiden genug?












©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 9. September 2016

440 Ich will das jetzt genießen

Plötzlich klopft mein Herz so stark, daß es mir Angst macht. Dabei sitze ich friedlich im Bett. Es ist zwei Uhr früh. Nur kurz ist dieser Anfall, dann ist das vorbei. Irgendetwas spielt sich innen ab; ich hoffe, es ist ein sinnvoller Umbau.
Die Traurigkeit umschließt mich, aber ich tue so, als wäre sie nicht da. Seufzer auf Seufzer.
Wenn ich in mich hineinhorche, höre ich nur Schmerz, Trauer, Verzweiflung, manchmal Wut.
Aber das kann doch nicht alles gewesen sein! Das kann doch einfach nicht wahr sein!




Die kleine Katze kommt am Morgen her, will gestreichelt werden und zuckt dabei gleichzeitig zurück. Ein nervöses Getue von Annäherung und sich entziehen. Dann maunzt sie kurz und geht wieder.

Ich schaue mir vor meinem inneren Auge all meine wichtigsten Beziehungen an und mir wird ganz mulmig zumute. Wegen mir wird mir mulmig.
Ein Geschrei mehrerer Krähen beginnt, als stimmten sie mir zu, „ja, auch du bist ein Beziehungsfalschspieler!“ Jetzt gehen im Lichtschacht sämtliche Geräte los. Es klingt, als wären fünf Entlüftungsanlagen, drei Industriestaubsauger und noch zwei andere, unidentifizierte Maschinen am Werk. Ein Höllenlärm. Wie zur Bestätigung.
Jetzt wird es plötzlich still. Die kleine Katze kommt wieder herein und schnurrt aus sicherer Entfernung.
Jetzt verebbt alles, auch meine Gedanken. Verebben, setzen wieder woanders an, verlaufen sich, setzen wieder woanders an, verlieren sich…
Ich will jetzt nicht mehr weiterdenken.
Ich will das jetzt einfach genießen.
















©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com


Donnerstag, 8. September 2016

439 Ich suche gerade mein Auto

Eine große Welle von – wahrscheinlich Selbstmitleid hat mich mitgerissen. Mein verzagtes Leben tut mir weh. Nie aufgeblüht. Immer Problemfall. Zu nichts zu gebrauchen. Eine traurige Erscheinung. Ich werde die Dämonen meiner Kindheit nicht los. Ohne Autos und kein Führerschein.
Ich spüre einen körperlichen Schmerz in der Leibesmitte, der bis zum Herzen herauf zieht. Es ist eindeutig ein seelischer Schmerz, der sich körperlich ausdrückt. Auch das Ziehen hinter den Augen.
Als hätte ich mein ganzes Leben in einem besetzten Land gelebt. Ich habe meine ganzes Leben in einem besetzten Land gelebt, vielleicht mit ein paar Ausflügen.
Die Blockade war an meine Lebensimpulse schon angewachsen, die ganze Zeit schon. Das tut weh. Besonders jetzt im Alter. Es ist nichts da. Kein Werk, auf das man zurückblicken kann. Alles nichts geworden. Nichts. Nichts. Nichts.
Jetzt wird aus dem Schmerz ein Zorn, ein unglaublicher Zorn, der in mir tobt. Als ein Sturm im Wasserglas. Das Wasserglas jedoch hat einen Sprung. Und schnell verebbt der Zorn und wandelt sich in Trauer, wandelt sich in Trauer um. Im Nachhall klopft noch stark mein Herz, das selber gerne stark sein möchte.
Laß es gut sein! Hör auf mit diesem Selbstmitleid und laß dein Leben gut sein! Erlaub es ihm!




„Heute ist ein schöner Tag“ grüßt verschlafen das junge Mädchen. Oh, wie mich das freut! Ich nehme das - noch traumverzittert und schlafbetrunken – gerne an, gehe in mein Zimmer zurück, lege mich wieder ins Bett und schreib es gleich auf: „Heute ist ein schöner Tag.“
Erleichtert atme ich auf. Daß dieser Morgen voller Zuversicht ist und die Zukunft gerettet. Ich kann aus der ersten Linie zurücktreten und die Stafette übergeben. Kaum etwas kann ich meinen Kindern hinterlassen, aber meinen Segen kann ich geben; das ist nicht viel, doch das ist alles, was ich habe.
Ich lehne mich zurück und entspanne mich.
Ich schlafe wieder ein und schreibe im Traum weiter an meinem jenseitigen, traumhaften Werk. Wieviele LeserInnen habe ich dort? Unverständliche Fetzen treiben bis hierher, drüben werden sie alle verstanden. Auch ich gehe nochmals hinüber, vielleicht kann ich doch noch ein paar Sätze mitnehmen für hier, für diese Welt. Aber mein Bewußtsein schnellt gleich weg in ein Gebiet, an das ich mich nicht erinnern kann. Wir müssen das noch öfters trainieren. (Selbstmitleid und Training passen nicht zusammen.)
Ah! Jetzt hat es geklappt mit dem Satz von drüben! „Ich suche gerade mein Auto.“
















©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 7. September 2016

438 Extremfall

Meine übliche Mitternachtskonstellation heute um ein Uhr früh. Das Fenster gerade geöffnet. Stille. Ein leises Pulsieren von irgendwo her. Friedlich. Wirklich friedlich.
Schnell fährt ein Folgetonhorn dazwischen, es heult zweimal auf. Bald danach ist es mir wieder egal. Ich bestehe darauf - immer noch halbwegs friedlich. Ich weiß gar nicht, ob es Polizei oder Rettung war. Die Feuerwehr nicht. Welches Drama verbirgt sich dahinter? Ich will es nicht wissen. Ich will es friedlich und still.
Das Winterfoto an der Wand, gegen die Sonne fotografiert, ist jetzt der Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit. Aber hinter den Augen kommt nichts mehr hervor. Ich werde schlafen und luzid träumen.



Ich habe geschlafen und nicht luzid geträumt. Nur einen wirren, bedrohlichen, gewöhnlichen, rustikalen Traum mit Menschen, vor denen ich sehr auf der Hut bin. In diesem Traum sind die Besucher aus dem Universum aus und ein gegangen, ohne daß ich sie erkannt habe.

In die Morgenstille hinein ruft dreimal eine Krähe. Ich verliere den Faden und denke an etwas ganz anderes. Ich stelle mir vor, drei Tage auf der Waldburgangerhütte zu verbringen, ich liebe die weite Almwiese dort. Dann denke ich über Kraftplätze nach, wo die hier in der Stadt sind.
Soll ich den frühen Morgen ausnützen und walken gehen? Nein, ich habe noch kaum fünf Stunden geschlafen, ich bin noch zu müde.
Die Augen fallen mir wieder zu.
Ich versuche, links hinter mir meinen Tod zu spüren, aber es gelingt mir nicht, kein Schauder läuft mir über den Rücken. Ich bin so stumpf.
Die Alltagswelt entgleitet mir wieder. Ich schlafe ein.

Permanent wechseln die Zustände. Ein Fensterflügel schlägt zu – wach.
Dann gleich wieder eine fremde Landschaft vor mir. Ich schaue eine Gestalt an und im nächsten Moment meine Zimmerwand. Dann geht’s wieder irgendwo abwärts. Ich drehe mich nach rechts und decke mich besser zu. An das Traumbild jetzt kann ich mich nicht erinnern. Dann strecke ich meinen eingeschlafenen Arm aus. So geht es mehrere Stunden dahin.
Ein Extremfall, wie lange ich heute bis zum Aufstehen brauche.














©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com


Dienstag, 6. September 2016

437 Das Singen der Reifen auf dem Asphalt

Zum erstenmal höre ich hier den Verkehrslärm ganz deutlich. Das Singen der Reifen auf dem Asphalt. Die Motorengeräusche sich überschlagen. Eine fast unglaubwürdige Melodie. Klingt mehr wie eine Computersimulation. Oder gar wie die Posaunen von Jericho, die die Stadtmauern umkreisen. Werden sie bald fallen?
Es ist drei Uhr früh. Was ist bloß mit meinem Gehör los? Ich höre so gut. Ich werde aufmerksam lauschen. Ein heimlicher, unbemerkter Lauschangriff.



Ich höre im Lichtschacht einen richtigen Regen prasseln und rieche den Duft der klaren, frischen Luft. Jetzt heult der Wind (Irgendwer oder -was heult immer). Ich selber fühle mich noch ein wenig in mehrere Stücke aufgeteilt, noch nicht ganz zusammen. Die verlorenen Erinnerungen aus einem intensiven Traum treiben immer noch in meinem Bewußtseinsfeld, ohne daß sie in mir den Traum hervorrufen. Der bleibt vergessen.
Draußen schüttet der Regen ruhig und meditativ; das Wasser, das von den Dächern tropft, das führt dynamische, abwechslungsreiche Musik auf, in interessanten Rhythmen. Jetzt heult wieder der Wind dazu. Ein barockes Konzert aus einem morgendlichen Radio in einem der unteren Stockwerke steuert auch Querflötentöne bei, die sich jedoch auch leicht wieder verlieren. Die Intensitäten schwanken, jetzt gerade nehmen sie zu.
Polizei- und Rettungssirenen kommen direkt aus den Querflöten heraus, kommen näher, werden lauter, verschwinden wieder und gehen direkt in das Läuten der Türglocke über. Der Wind setzt neuerlich einen besonderen Akkord.
Der Regen lässt nach, ich kann das Konzert aus dem Radio hören, meine Gedanken sind aber bei den Innu und Inuit und meinen nie gemachten Reisen.
Was mir noch auffällt: keine Flugzeuge bis neun Uhr Vormittag zu hören.

















©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 5. September 2016

436 Schulbeginn

Heftiges Duschen ist das dominante Geräusch. Abgelöst vom Lüftungsgeheul aus dem Lichtschacht, unterlegt mit unverständlichen Stimmen und Tassengeklapper. Erster Schultag des neuen Schuljahres. Eine nervöse, leicht angeekelte Aufregung liegt in der Luft. Jetzt verstummt die Lüftung für zwei Sekunden, nur um dann nochmals mit ihrem Heulen anzustarten, dann wieder kurz auszusetzen und erneut hochzufahren, eine halbe Minute lang, dann hört sie wieder auf. Relativ still ist es jetzt. Räumt jemand einen Geschirrspüler ein oder aus? Das leise Hintergrundrauschen des Straßenverkehrs, eine entfernte Krähe, eine Tür schlägt laut zu. Holz auf Holz und das Quietschen von etwas, das festgedreht wird.
Schritte auf der Stiege, die Stimmen der Schülerinnen, aha, jetzt wieder die Lüftung, aber nur ganz kurz.
Ein Kühlschrank scheint auch mitzuspielen. Die Lüftung  heult zweimal noch kurz auf. Die Stimme eines Mannes. Meine ist es nicht. Ich habe im Moment garnichts zu sagen.

Der Schulbeginn legt sich auch mir als schwerer Knoten in den Magen. Immer noch. Wir sind komplexere Wesen, als es uns die Rationalität vorgaukelt. Eine wichtige Erkenntnis von Marshall Rosenberg: „Nicht-ausgedrückte Angst erscheint im Auge des anderen fast immer immer als Aggression.“ (Von mir möglicherweise falsch übersetzt. Trotz acht Jahre Schulunterricht kann ich nicht Englisch.)

Draußen ist nun Ruhe. Der ferne Verkehrslärm könnte stellenweise fast als Waldesrauschen durchgehen. Heute werde ich den Vormittag gut nutzen. (Ich nutz den Vormittag ja schon ziemlich gut!) Mein Bewußtsein nimmt noch Träumebilder auf. (Ein älterer Mann und eine ebensolche Frau hängen in Badekleidung außen in einer riesengroßen Wand an einem kleinen Vorsprung aus Beton. Lang werden sie sich nimmer halten können.) Da ist ein alter Krähenvogel schnell zur Stelle mit seinem zweifachen „Krah! Krah!“ Die Kirchenglocken warnen gleich vor Zauberei. Obwohl auch unter ihren Fittichen der Stoff der Alltagswelt verwandelt wird. Die junge Krähe gibt mir recht indem sie „krah krah“ spricht. Die Tauben kümmert's nicht bei ihrem meistens triebumflorten „Gruhu!“ Doch was weiß ich schon von Tauben!
















©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com


Sonntag, 4. September 2016

435 Wie sich autoritäre Erziehung auswirkt

Gestern hatte ich bei der Arbeit plötzlich Schmerzen in der Herzgegend, mein linker Arm war wie gelähmt und mir wurde leicht übel. Mein Verstand sagte: das schaut nach einer Herzgeschichte aus, möglicherweise ein leichter Herzinfarkt, angeblich gibt es das, oder eine Vorstufe dazu. Normalerweise würde man sofort einen Arzt aufsuchen. Nicht so jemand, der in seiner Kindheit gebrochen wurde und nie gelernt hat, sich und seine Bedürfnisse zu achten. Zunächst einmal wird er sofort seine Hypothese verwerfen, weil er sowieso nicht so genau wisse, ob das überhaupt stimmt und nicht vielmehr einer seiner vielen Irrtümer, Fehler und Übertreibungen ist.

Ich bleibe sitzen, mache mit Anstrengung (ursprünglich hatte ich „mit großer Anstrengung“ geschrieben und vorher „plötzlich starke Schmerzen“, aber das kommt mir jetzt, ein paar Stunden später, beim Eintippen in den Computer, schon viel zu übertrieben vor) das laufende Interview erfolgreich fertig, gehe dann doch in die Pause, esse etwas, versuche, mir nichts anmerken zu lassen, sage nur so nebenbei der Arbeitsaufsicht, daß mir ein wenig übel sei, nichts Schlimmes, wie ich gleich hinzufüge, aber daß sie verstehen mögen, daß ich jetzt möglicherweise öfters aufs Klo gehen müsse. Ist eh nichts Schlimmes.

Offiziell würde ich meine Unlust, einen Arzt aufzusuchen, ungefähr so erklären: Ich mag die Ärzteschaft nicht, ich habe den Verdacht, daß sie Büttel der Pharmaindustrie sind und bloß ihre beschränkten, arroganten Behandlungsmethoden an mir vollziehen wollen.

Ganz falsch ist das ja nicht; es gibt genug Geschichten über das arrogante, bürokratische Gesundheitssystem und Ärzte, die ihre Patienten schlecht und schlampig behandeln, über sie drüberfahren und mehr ihrem Ego, ihrem Ruf, ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrem Einkommen und ihrer Selbstdarstellung, ihrem autoritären Gehabe verpflichtet sind, als dem Wohl der Patienten.

Aber das Ganze hat auch eine andere Komponente: ich habe Angst, mich einer Autorität oder einem autoritären System auszuliefern, weil ich genau weiß, daß ich als „passiv-autoritärer Charakter“ mich nicht wehren, nicht verteidigen, und mich nicht behaupten kann. Und das stimmt. (Damit das nicht falsch verstanden wird: das ist nicht die Angst, daß einem der Arzt „weh tut“; ich bin schon als Volksschulkind allein zur Impfung gegangen, ohne mütterliche Begleitung.) Denn wenn ich eine Ordination betrete, bin ich, wie ich abgerichtet wurde, folgsam, mache brav alles, was mir angeschafft wurde, vielleicht mit ernstem Dreinschauen oder ein wenig mit Scherzen getarnt, wenn ich eine Situation vorfinde, wo ich glaube, solche anbringen zu können. Eventuell schwindle ich und verschweige alternative Methoden, die ich ausprobiere, weil sie in der Schulmedizin verpönt sind.

Einmal bin ich an einer Infusion gehangen, die Ärztin hatte den Tropfer viel zu langsam eingestellt, so daß ich gute vier Stunden am Tropfer hing.
Ich wußte, da ist eine Glocke, ich brauche nur läuten (und alle gehen davon aus, daß jeder in einer solchen Situation läutet), aber ich wußte es bloß mit dem Intellekt, daß ich das machen kann und daß mir das zusteht, aber ich empfinde es nicht. Ich kann es nicht tun. Erst als ich merkte, daß die Ordination schon leer ist, und die Ärzte weg sind, die Ordinationshilfen mich vergessen haben und schon weggehen und zusperren wollen und der Tropfer leer ist, läute ich. Die dann gekommen ist war schon in ihrer Privatkleidung (mit durchsichtiger Bluse und großem Dekolleté).

Es ist noch mehr dahinter: es ist das stark und tief verankerte, ganz früh schon angewachsene Gefühl, daß es jemanden wie mir nicht zusteht, irgendetwas zu beanspruchen. Deshalb war es nur folgerichtig, daß ich einige Jahre meines Lebens in einer für unsere Breiten eher unüblichen Armut verbracht habe, ohne jeden Versicherungsschutz, im Winter in der desolaten Wohnung tagelang nur 12 Grad Celsius, manchmal runter bis 8. Es steht mir nicht zu, wegen mir selber soviel Aufwand zu machen, auch nicht, um Hilfe zu bitten.

Natürlich gehe ich, wenn ich krank bin, zum Arzt, aber weniger aus Sorge um mich selber, als um den bürokratischen Ansprüchen des Arbeitgebers – Krankenstandsbestätigung – genüge zu tun. Aber immer in der offenen oder unterschwelligen Sorge, zuviele Umstände zu machen, immer mit einem leichten schlechten Gewissen, das ich mir immer erst ausreden muß. Krankenstand – sowas steht mir doch nicht zu.

Mir fällt auf, daß mir zum Beispiel der Sehtest beim Augenarzt leichter fällt. Warum? Weil da kein Arbeitsausfall, keine eigentliche Krankheit, keine Schmerzen im Spiel sind?

So eine Herz/Schmerz/Armlähmungsgeschichte habe ich auch vor Jahrzehnten, schon als reichlich Erwachsener, bei einer Bergtour auf den Grimming erlebt (meiner ersten und einzigen). Voller Schuldgefühle den anderen, geübten Wanderern gegenüber (ein bißchen haben sie mich überredet, mitzugehen; diese verdammte Unfähigkeit, nein zu sagen!), weil ich meine Kondition falsch eingeschätzt hatte und immer wieder zurückblieb. Die anderen waren aber richtige Bergfexen, die es nicht ausgehalten haben, wegen mir langsamer zu gehen; es wäre ihnen – so unterstelle ich ihnen - peinlich gewesen, unten in der Hütte sagen zu müssen, wir haben so und so lang gebraucht.

So bin ich allein dahingewankt, hatte diese Schmerzen, als dann doch einer der Truppe, ein Arzt, irgendwo auf mich gewartet hat. Er fragt mich, ob's geht, und ich gebe die typische Antwort solcher gebrochener Menschen: es geht schon! Füge aber dann schüchtern hinzu: mein linker Arm fühlt sich wie gelähmt an, und ich habe Schmerzen im Herzbereich. Der Arzt reagiert nicht, er nimmt das „geht schon“ für bare Münze. Ich weiß nicht mehr, ob er wieder schneller losgegangen ist, oder ob er mich begleitet hat. Da kann ich mich nicht mehr genau erinnern.

Oder: Vor langer Zeit einmal hat mir ein Arbeitgeber angeboten, die Fahrkosten zum Arbeitsplatz – ein Straßenbahnfahrschein hin, ein Straßenbahnfahrschein retour – zu bezahlen, aber ich habe es abgelehnt, aus dem Gefühl heraus, es steht mir nicht zu.

Diese zum Habitus gewordene Haltung bin ich bis jetzt, trotz vieler Therapien, nicht losgeworden. Sicher habe ich inzwischen besser gelernt, mit den Folgen meiner autoritären, empathielosen Erziehung umzugehen, aber tief im Inneren, und wenn es drauf ankommt … ich glaube, da schaut es noch wie in meiner Kindheit aus.

















©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 3. September 2016

434 Wie ich IM (inoffizieller Mitarbeiter) der reaktionären Fraktion der katholischen Kirche wurde

Ich muß jetzt etwas beschreiben, was ich in meinen Texten schon öfters und ausführlicher beschrieben habe, weil sonst jemand, der nur diesen Text liest, diese Geschichte nicht versteht.

Nachdem ich in Graz mein Theologiestudium angefangen hatte, geriet ich bald in – wie soll ich sie nennen? - rationalistische, aufgeklärte, meist recht antiklerikale und antikirchliche, eher linke Kreise, von denen ich mich bald stark beeinflussen ließ, wobei ergänzt werden muß, daß ich sowieso nicht in einer echt katholischen Familie aufgewachsen bin. Man kann es ruhig so sagen, ich verlor meinen „Glauben“, teilweise durch das Studium selber, teilweise durch die neuen Freunde. Ein Glaube, der in meiner Kindheit auch in meiner Familie – gelinde gesagt – skeptisch beurteilt worden war und eher Nasenrümpfen und Homosexualitätsverdächtigungen hervorgerufen hat, denn ich war als Kind sehr religiös, was immer das genau geheißen hat.

Eine Zeitlang habe ich nach diesem Bruch noch mit meinem Theologiestudium herumgewurschtelt, aber als ich es dann abgebrochen habe, bin ich auch formal aus der Kirche ausgetreten, die ich innerlich schon längst verlassen hatte. Das muß so um 1977 gewesen sein.

1989 ging ich zum Astrologen Wolfgang Döbereiner in die Beratung, denn mein Leben war weiterhin chaotisch verlaufen. Der hat mir gesagt, ich wäre vom Horoskop her ein begabter „Verkündiger“ oder Prediger und Theologe. Und es würden sich, wenn ich den von mir sowieso schon angepeilten Weg als Theologe wieder aufnähme, daraus für mich auch gute berufliche Möglichkeiten ergeben, besonders in den Medien. Ich höre ihn noch, „Ihre Fernsehachse ist hervorragend!“ Ins TV, da gehöre ich hin. Und irgendwie versuchte er mir auch die „geweihte Form“, also das Priesteramt, schmackhaft zu machen. Zumindest ist es bei mir so angekommen.

Das Problem dabei ist ja nicht, daß ich kein guter „Prediger“, Vortragender, Redner und „Verkündiger“ des „Anderen“ (oder wie immer du das benennen willst) wäre – nein, denn das bin ich ganz sicher! - das Horoskop hat das schon richtig gezeigt – sondern daß Döbereiner in seiner bayrisch-katholischen Selbstverständlichkeit nicht begreifen wollte, daß ich in einem ganz anderen Kontext lebe, mit einer ganz anderen Herkunfts- und Lebensgeschichte und sich darum das „Prediger-“, das „Verkündiger“-Sein in einer anderen Gestalt, in einer anderer Verkleidung ausdrücken muß. Meine schüchternen Einwände hat er rücksichtslos und mit Ekel vor meiner Uneinsichtigkeit im Gesicht vom Tisch gewischt und ich habe mich nicht mehr getraut zu insistieren. Er war ja für mich wirklich eine ganz große Autorität.

Ich muß festhalten, daß diese Beratung viel komplizierter, komplexer und widersprüchlicher ablief, als ich sie hier vereinfacht schildere. Ich will das aber nicht ausführlicher erzählen, denn mir kommen immer noch das Heulen und der Zorn, wenn ich mir das vergegenwärtige.

Und auch das möchte ich deutlich herschreiben: das ist noch keine Kritik an der Münchner Rhythmenlehre, der astrologischen Schule, die Döbereiner geschaffen hat, sondern an ihn als Person, der als Berater mich als seinen Klienten in den Straßengraben abgedrängt hat, oder, wie ich es auch manchmal ausdrücke, „in die Fünfzigerjahre zurückgebombt“. (Wobei es dort schon wertvolle Sachen zu holen gab: Romano Guardini, Friedrich Georg Jünger, und was in der Theologie noch von Thomas von Aquin herumgeisterte zum Beispiel) Nichts, was ich sozusagen mitgebracht, nichts, was ich in meinem Leben begriffen, erkannt zu haben glaubte, nichts, was ich jemals gedacht hatte, ließ er gelten. Ich aber habe ihm zugetraut, daß er mir wirklich mein Leben, meine Anlagen, Talente benennen und erklären kann – und zwar – und das war mir ganz wichtig – aus einer von subjektiven Motiven, von Egospielchen, von gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen etc. befreiten Perspektive, also sozusagen von „oben“, vom „Himmel“ her, nicht von dem her, was die duale Welt als Erfolg oder Scheitern, was die Gesellschaft als in oder out sieht. Ich glaube heute noch, daß Döbereiner das können hätte, wenn er als Person die nötige menschliche Größe und Weisheit dafür eingesetzt hätte. Aber das konnte er nicht, zumindest mir gegenüber nicht, dafür war er zu sehr in seinen eigenen ungelösten Geschichten verstrickt.

Ich war nach dieser Beratung komplett verwirrt und wie vor den Kopf gestoßen, meine ganze Welt war zusammengebrochen, denn mit der katholischen Kirche hatte ich nichts mehr am Hut. Aber „auf sein Wort hin“ war ich bereit, seine Empfehlung anzunehmen und ich klammerte mich an den Satz, „wenn Sie ihr Studium abschließen, wird sich daraus ein Weg, auch ein beruflicher ergeben“ und „der theologische Herdenschein wäre schon der richtige“.

Ich war nach dieser Beratung so verwirrt und durcheinander, daß ich auf der Rückfahrt mit dem Zug von München nach Wien für längere Zeit die Sprache verloren hatte. Als mich an der Grenze die Zöllner nach Verzollungsgut befragten, konnte ich nicht reden. Ich konnte nur unverständliche Laute stammeln und mußte mich mit Deuten verständlich machen.

Aber ich glaubte und vertraute dem Döbereiner und weil ich eine starke Glaubens- und Hingabefähigkeit habe, wollte ich das, was er mir empfohlen hatte, auch durchziehen.
Zuerst trat ich wieder in die katholische Kirche ein; das war für mich eigenartig genug, obwohl dann auch schnell wieder die Bilder und Vertrautheiten meiner Kindheit auftauchten.

Dann nahm ich mein abgebrochenes Studium wieder auf. Es war schwer, nach so vielen Jahren wieder zurückzufinden und neben dem Jobben zu studieren, aber sich mit den Dingen geisteswissenschaftlich auseinanderzusetzten, das ging noch, weil das ja aus einer gewissen Distanz geschieht. Viel schwerer – und letztlich unmöglich – war es, zur katholischen Kirche als Glaubensgemeinschaft zurückzufinden, so, daß ich mich wieder als wirklichen, gläubigen Katholiken bezeichnen hätte können, denn das sah ich (und sehe ich) schon als Voraussetzung an, um in der Kirche, mit der missio canonica, glaubwürdig arbeiten zu können. Ein reiner Zyniker kann ich nicht sein.

Mein Denken und mein „Glauben“ jedoch waren ganz anderen Denkansätzen und Erzählungen beeinflußt. Vor allem von Carlos Castaneda, dessen Bücher ich geliebt und immer wieder gelesen, geradezu meditiert hatte. Ich kann sagen, da war meine frühere, reine kindliche Gläubigkeit nach der rationalistischen Phase vorher durch diese Lektüre wieder auferstanden und im Hegel'schen Sinn dreifach „aufgehoben“: ersetzt durch eine „Gläubigkeit“, die via Castaneda auf der Höhe der Zeit war, nüchtener, bereinigter, tiefer, humorvoller und dem Wesen und der Natur des Menschen und des Universum angemessener, damit aber auch die Echtheit und Sinnhaftigkeit meiner kindlichen Gläubigkeit in die Höhe gehoben und darin auf höherer Ebene bewahrt.
Deshalb waren die üblichen Schwierigkeiten, die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche mit dem katholischen Glauben haben, überhaupt nicht meine. Die Heilungswunder Jesu, sein Wandeln über den See Genezareth, seine Auferstehung von den Toten, im wörtlichen, nicht symbolischen Sinn, seine Himmelfahrt, genauso wörtlich und nicht bloß symbolisch – das waren nicht meine Stolpersteine. Im Gegenteil, das waren die Sachverhalte, die ich vom Castaneda und seinen schamanistischen Erzählungen und Erläuterungen her beinahe erklären konnte und sie gehörten und gehören für mich zu den natürlichen, aber verschütteten menschlichen Möglichkeiten, zum natürlichen Erbe der Menschheit. Das war nicht mein Problem. Deshalb wollte ich mit den innerkirchlichen und innertheologischen Aufklärern nichts zu tun haben, die hatte ich in Verdacht, diese Dinge rationalistisch wegzuerklären und das Mystische, Magische in den Plattheiten des Common Sense zu ertränken.

Döbereiner hat ja gesagt, zur Kirche gehöre ich hin und trotz aller Zweifel wollte ich ihm glauben, und auch er schimpfte, so wie ich es verstand, eher auf die Progressiven.

Verzweifelt suchte ich eine Gemeinde, der ich mich anschließen könnte, immer mehr bei den Konservativen, aber überall, egal ob progressiv oder konservativ, wurde ich und habe ich mich als Fremdkörper empfunden. Und zu Recht, ich war es ja wirklich. „Aber ich muß dort hinfinden, der Döbereiner hat sich nicht geirrt, ich gehe das irgendwie falsch an, es liegt an meiner Unfähigkeit!“ - so ungefähr dachte ich damals.

Ich suchte verzweifelt einen Priester, mit dem ich über meine Situation, über meine Schwierigkeiten, zur Kirche zu finden, über meine Zweifel, etwa an der rationalistischen Theologie, offen reden kann und der mir vielleicht weiterhelfen kann. Ich suchte – wie gesagt – eher bei den Konservativen, obwohl ich die oft kaum ausgehalten habe. Aber bei einem Theologieprofessor auf der Uni, der hier bloß sublierte und einer anderen Universität angehörte, dessen Vorlesungen mir aber gefielen (damals), dachte ich, der könnte so ein Berater, ein Geburtshelfer bei meiner Wiedergeburt in die katholische Kirche sein und suchte das Gespräch mit ihm.

Nocheinmal: ich glaubte tatsächlich, daß mir der Döbereiner den richtigen Weg gewiesen hat und daß meine Zweifel, Bedenken und Schwierigkeiten auf meine Unzulänglichkeit, meinen Dünkel, mein Ego etcetera zurückzuführen seien. Und nachdem ich ja dafür meine gerade langsam ins Rollen gekommene Karriere als Künstler aufgegeben hatte, war es für mich auch eine existentielle Frage, zur Kirche zurückzufinden und in ihrem engeren oder weiteren Umfeld nach einem Brotberuf zu schauen. Umso bemühter war ich, dort wieder hinzukommen. Auch mit der Möglichkeit, das Priesteramt anzustreben, setzte ich mich damals auseinander; Döbereiner hatte mir, wie ich glaubte, die „geweihte Form“ ein wenig nahegelegt, noch dazu, wo ich als Kind mich ernsthaft für den Priesterberuf entschieden hatte. Zumindest sah ich das so und versuchte, diesen verlorenen Faden wieder aufzunehmen.

Aber ich war längst aus dieser Form hinausmutiert und es war so, als wolle ich nach einer Häutung wieder in die alte Haut schlüpfen. Deshalb, je mehr ich mich bemühte, desto größer waren meine inneren Widerstände, die ich aber nicht als berechtigt ernst nehmen wollte. „Tapfer gegen das eigene Empfinden“, eine wunderbar präzise, warnende Formulierung von Döbereiner aus seinen Seminaren. Nur mich selber hat auch er da hineingejagt, indem er alle meine Versuche, gehört zu werden, als unzulässige Belästigung seiner großen Autorität weggewischt hatte.
Und diese innere Widersprüchlichkeit haben die Kirchengemeinden, die ich aufgesucht hatte, natürlich auch – zumindest unbewußt – gespürt und ich blieb überall – wie schon gesagt  zu Recht - ein Fremdkörper.

Aber zunächst kämpfe ich immer noch tapfer um die Rückkehr zur Kirche und suche also wieder einmal den Professor meines Vertrauens auf – nennen wir ihn Professor Ixypsilon – um mit ihm über meine Schwierigkeiten zu sprechen und um von ihm vielleicht Hilfe für meinen Weg zurück zu bekommen. Ich rede über mein Mißtrauen der (rationalistischen) Theologie gegenüber und er sagt zu mir „aber es gibt doch hier an der Theologie kluge Köpfe! Zum Beispiel der Professor Ypsilonix!“ Professor Ypsilonix gehörte eher der aufgeklärten, progressiven Fraktion an und ich antworte darauf: „Aber ich mißtraue allem, was durch den Deutschen Idealismus, vor allem Hegel und seiner Dialektik gegangen ist.“ (Das hatte natürlich auch mit meiner früheren marxistischen Phase zu tun, wo man mit dem wundertätigen dialektischen Dreischritt und der Anrufung des Weltgeistes jedes Verbrechen, jeden Gulag undsoweiter wunderbar als notwendigen Schritt zur Erlösung erklären konnte. Ende der Anmerkung.) „Da weiß man dann nie, ob die Auferstehung Jesu“ - und die war mir als eine wirkliche und nicht bloß symbolische damals wie auch heute als ein wichtiges Kriterium, ob es um echte Transzendenz oder nur um Common-Sense-Wixerei geht, wichtig! - „ob die Auferstehung Jesu nicht in irgendeine Weltgeistbewegung oder Symbolgeschichte aufgelöst wird.“ (Ungefähr, wörtlich kriege ich das nicht mehr hin.) Professor Ixypsilon stellte noch klug und - wie mir schien - einfühlsam fest, daß ich wohl vom Deutschen Idealismus und all seinen Abarten genug hätte und die mögliche Destruktivität seiner Dialektik auch am eigenen Leben erfahren und erkannt habe. (Es haben ja auch die Achtundsechziger und Nachfolger viele zerstörte Lebensläufe produziert.)

Das nächste Mal, als ich bei Professor Ypsilonix – dessen Ausführungen mich durchaus schon zu nassen Augen der Ergriffenheit „verführt“ hatten, aber wo ich dennoch fürchtete, irgendwelchen gefinkelten Denkmanövern auf den Leim zu gehen – wieder in der Vorlesung saß, schimpfte er, daß ihn ein Student beim Bischof „angezündet“ habe, daß er nicht an die Auferstehung glaube, und daß er deswegen jetzt Schwierigkeiten bekommen habe, und daß der Vernaderer ihn und seine Aussagen wenigstens korrekt wiedergeben möge.

Ich war empört, wie da nur einer in der Vorlesung sitzen kann und dann zum Bischof gehen und den Professor anzeigen.

Daß das in Wirklichkeit auf mich zurückgeht, auf die Idee bin ich nicht gekommen! Denn das Gespräch mit Professor Ixypsilon habe ich selbstverständlich als ein seelsorgerisches, vertrauliches verstanden, wo ich außerdem  - soweit ich mich erinnern kann! - den Professor Ypsilonix gar nie wörtlich zitiert habe, sondern nur meine Bedenken geäußert, darüber, was mich unsicher oder mißtrauisch macht, geredet, ich habe von mir gesprochen. Von mir aus wäre ich gar nicht auf den Professor Ypsilonix zu sprechen gekommen.


Geschickt eingefädelt, und ich Narr bin voll in die Falle getappt. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß dieses …...... zum Bischof geht und - sich auf mein Gespräch berufend – meldet, die Studenten meinen, der Professor Ypsilonix glaube nicht an die Auferstehung.

Ich hatte das überhaupt nicht begriffen. Und ich wunderte mich noch, daß ich bei der nächsten Prüfung bei Professor Ypsilonix hochkant rausgeflogen bin.

Ich bin noch einmal blind und naiv zu Professor Ixypsilon zu einem Gespräch gegangen - vielleicht hat mein Unterbewußtsein schon etwas geahnt – denn diesmal habe ich explizit gesagt: „ich bitte Sie, dieses Gespräch vertraulich zu behandeln“ und habe mich über die geschraubte Antwort gewundert „Ihre Worte werden diesen Raum nicht verlassen“.
Sehr schlau! Wenn er meine Worte jemandem in diesem Raum weitergibt, dann hat er sein Versprechen eingehalten. Er wird aber enttäuscht gewesen sein, denn ich habe nur über meine Glaubensschwierigkeiten geredet, nicht über irgendeinen Professor oder sonst jemandem; das hätte ich beim ersten Gespräch auch nicht, wenn er mich nicht dort hingeführt hätte. Ich hatte immer noch nichts kapiert. Ich habe dann auch noch erzählt, daß Professor Ypsilonix beim Bischof angeschwärzt wurde und ich das nicht verstehen kann, wie man so etwas tun kann. „So etwas tut man nicht!“ habe ich noch ausgerufen und seine Antwort, „die anderen tun es doch auch!“ hat mich befremdet. Ich habe deswegen noch einmal erklärt, „so etwas tut man nicht“, aber ich hatte immer noch nichts kapiert! Und nicht begriffen, daß ich von ihm beziehungsweise von uns rede und daß ich ihn – ganz unabsichtlich und unbewußt – zurechtgewiesen hatte, abgesehen davon, daß „so etwas tut man nicht“ eine ziemlich schwächliche Argumentation ist.

Ich hatte jedoch immer noch nichts kapiert, dennoch bin ich zu keinem weiteren Gespräch mehr hingegangen und der Kontakt ist abgerissen.

Bei meiner Annäherung an die Kirche habe ich alles versucht, was mir dabei helfen könnte, ein gläubiger Katholik zu werden. Ich bin täglich zur Messe gegangen, oft zu Gebeten in verschiedene Kirchen, zur eucharistischen Anbetung. Im Stephansdom in einer Seitenkapelle, wo das Allerheiligste ständig ausgesetzt ist, bin ich auch hingegangen, um vorm in Fleisch Christi verwandelten Brot, und somit in seiner Anwesenheit – so wird das in der katholischen Kirche mehr oder weniger geglaubt – zu beten oder zu meditieren. Beziehungsweise es zu versuchen, denn – nebenbei gesagt – meine Störgedanken waren nicht ohne und hatten oft mit Sex zu tun.

Einmal  - mein letztes Gespräch mit Professor Ixypsilon war mindestens schon ein Jahr her, wahrscheinlich zwei oder länger - komme ich in diese Kapelle, tauche meine Finger in den Weihwasserbrunnen, bekreuzige mich, verneige mich, mache eine Kniebeuge und setzt mich in eine Bank ungefähr in der Mitte der Reihe. Dabei bemerke ich, mehr so aus den Augenwinkeln heraus, ganz am Rande meines Gesichtsfeldes, daß eine knieende Gestalt ein paar Reihen hinter mir aufsteht, eine schnelle Kniebeuge macht und leicht geduckt zum Ausgang eilt. Irgendetwas an dieser Bewegung kommt mir komisch vor, als würde diese Gestalt nicht gesehen werden wollen und schnell davonschleichen, und gerade deswegen drehe ich mich unwillkürlich um und sehe gerade noch Professor Ixypsilon hinaushuschen.

Ich bin erstaunt, irritiert. Sicher war er es, aber warum eilt er so plötzlich hinaus? Er muß mich gesehen haben! Ein paar Worte draußen - in der Kapelle gilt Silentium - wären nett gewesen. Was hat er? Ist es wegen mir gewesen? Es schaut so aus! Aber warum?

Ich sitze da und wundere mich noch, und plötzlich, von einem Moment auf den anderen, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Er hat Professor Ypsilonix angezeigt! Und mein Gespräch dafür benutzt! Deshalb hat er das Gespräch auf Professor Ypsilonix gelenkt! Deswegen „die anderen tun es auch!“

Ich bin total schockiert. Eine ungeheure Scham erfasst mich. Ich werde zuerst blaß und dann rot im Gesicht. Aber es ist mir völlig klar – so war es. So muß es gewesen sein! Jetzt passt alles zusammen! Sein komisches „Ihre Worte werden ...“, der Rauswurf bei Ypsilonix; jetzt fallen mir auch noch so Andeutungen anderer Professoren von „Studenten mit psychischen Schwierigkeiten“ ein (Richtig, richtig! Das hat auch der Vorsitzende des kommunistischen Studentenverbandes einige Jahre vorher zum mir gesagt und gemeint, ich gehöre ins Irrenhaus. Und es stimmt ja, ich hatte psychische Probleme, denn ich hatte ja „tapfer gegen mein Empfinden“ gelebt.)

Ich bin aber entsetzt. Und ich bin erschrocken, völlig erschrocken über meine Rolle in diesem Spiel. Ich war "informeller Mitarbeiter" der konservativen Abteilung der Kirchenstasi. IM. Da brauche ich gar keine Akteneinsicht. Mir wurde schlecht, ich habe es kaum ausgehalten. Ich bin raus aus dem Dom. Ich machte mir Vorwürfe, wie man nur so blind, weltfremd und naiv sein kann! Ich schämte mich, ich fühlte mich elend und als der letzte Dreck.
Jetzt verstand ich es; es war da eine Intrige zwischen Progressiven und Reaktionären wegen einer Lehrstuhlbesetzung im Gange gewesen. Und ich habe mitgespielt. Unabsichtlich zwar, aber ich habe mitgespielt. Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen.

In den nächsten zwanzig Minuten wurde mir klar, daß ich die Hoffnung, in der Kirche oder ihrem Umfeld Arbeit und Brot zu finden, begaben kann, ja, begraben muss! Und nicht nur weil ich für niemanden dort noch eine vertrauenswürdige Person sein kann und ich mir so den Weg verrammelt habe, also von außen her, sondern auch von innen her, weil ich als solcher blinder und naiver Mensch niemals in eine solche Institution gehen darf. Das kann ich mir nicht erlauben. Eine solche Geschichte zeugt doch von einem komplett ungeeigneten Charakter, unreif, autoritätsgläubig, unerwachsen. Ich war wieder bei meinem Selbstbild als Versager angelangt. Da wußte ich, mein Theologiestudium wird mir nichts bringen. Ich bin auch nie wieder in diese Kapelle gegangen.

Und trotzdem, ich habe immer noch versucht, zur Kirche zurückzufinden; ohne Berufspersektive zwar, aber sozusagen als einfacher Gläubiger. Denn immer noch habe ich den Döbereiner nicht wirklich in Frage gestellt, denn ich war ja selber schuld, einer der Versager, über die der Döbereiner in seinen Seminaren ständig schimpft.

Allmählich ist mir dann schon der Gedanke gekommen, daß an der Döbereinerberatung etwas nicht stimmen konnte, denn, so dachte ich damals und so denke ich heute, für das, was wirklich zu einem passt, für das, wohin man wirklich gehört, geben einen die himmlischen Kräfte das nötige Sensorium mit.
Aber die Hoffnung, jemals in meinem Leben so und auch existentiell auf einen grünen Zweig zu kommen, mußte ich begraben. Danke, Herr Döbereiner. Danke Professor Ixypsilon. Danke Peter Rumpf.

Das Zur-Kirche-Zurückfinden-Wollen hatte ich immer noch nicht aufgegeben, denn ich habe eine große Hingabe- bis Aufopferungsfähigkeit, aber diese Geschichte war der Punkt der Umkehr; oder anders gesagt, der Point-of-no-return in der Bewegung von der Kirche weg. Das war das Ereignis, das einen Prozess auslöste, der wieder zu einer völligen Umkrempelung meines Lebens, meines Denkens etcetera führte.

Und ich muß es jetzt aushalten, daß mein Leben bis zum Ende in Trümmern liegen wird und ich in Gefahr bin, als Karikatur meiner selbst herumzulaufen, wie Döbereiner gesagt hat, daß es passieren wird, wenn ich keinen konkreten Beruf als Verkündiger finde.













©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com