Montag, 30. März 2015

106 Längeres Intermezzo


Ich sitze in meinem Cafe. Mein Stammplatz war besetzt. Ich schaue nach Norden, ungefähr nach Norden. Also nicht Richtung Osten zum Fenster hinaus wie sonst, sondern auf die Theke.
Viele Gläser stehen dort und weiter hinten an der Wand, Flaschen, erstaunlich wenige Tassen. Vielleicht sind die auch nur aus meinem Blickwinkel verdeckt. Kaffeemaschine. Die hagere alte Dame rechts neben mir redet die ganze Zeit mit dem Patron und ißt Torte. Ich habe auch Torte gegessen und koffeinfreien Kaffee getrunken. Sie trinkt Kakao. Zumindest hat sie einen bestellt. Ich habe nicht nachgeschaut, ob sie ihn trinkt und ob überhaupt Kakao in ihrer Tasse ist. Genau genommen habe ich auch nicht ihr Trinkgefäß angeschaut – ich denke nur, es ist eine Tasse. Weil sie Kakao bestellt hat.
Solche zarten Menschen! Die Tochter des Hauses. Die Madame. Der Patron. Eine zarte Eidechse aus Draht klettert die Kaffeemaschine hinauf. Draußen regnet es und es ist kalt. Die Zuckerdose schaut mich an und spitzt den Mund. Schritte auf der Treppe.
Die Fotos am Kühlschrank. Ein Narrenstab ist an der Vorderfront der Theke quer hingelegt, aber so, daß er hängt, obwohl er liegt. Rosen. Ansichtskarten. Der Dame rechts ist ein unbenutztes Papiertaschentuch hinuntergefallen. Ich schaue ein paar Sekunden auf das Taschentuch – ich will überprüfen, ob es überhaupt ein Taschentuch ist und ich stelle dabei fest, daß es vermutlich unbenutzt ist. Vorher ist mir einige Sekunden lang noch vorgekommen, was da am Boden liegt wäre eine Hülle für irgendetwas. Sie hebt das Taschentuch wieder auf. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, daß sie es irgendwo hineingibt. Vermutlich in ihre Handtasche. Aber ich bin zu schüchtern um genau hinzuschauen. Ich will nicht unhöflich sein.
Die gelb leuchtende Uhr zeigt Viertel nach Zwölf. Sie leuchtet wirklich schön, in sattem Gelb. Spiegel. Spieglein, Spieglein an den Wänden, passt meine Brille oder schaut sie zu feminin aus? Ein Herr, gerade eingetreten, diskutiert mit Madame, ob die Melange mit oder ohne Schlag gehört. Ein Besserwisser wie ich?
Der andere Herr trinkt Cola. Im Cafe Cola trinken! als Erwachsener! Ein französischer Flic, mit rundem Gesicht, hält die Augen geschlossen und grinst zufrieden. Eine dreifache Spirale dreht sich nach links. Sie müßte sich eigentlich nach rechts drehen. Die Klimaanlage springt an. Viele Kugelschreiber – eine Schere.
War das Cola des Herrn mit Schuß? Er zahlt und ich habe es schlecht gehört. Ja, doch! Denn Madame muß zusammenzählen.
Der rote Faden ist hinter der Schrift, ich sehe nur ein kleines Stück von ihm. Ich will noch eine Melange koffeinfrei bestellen, aber Madame hat sich letztens verhört. Das will ich nicht riskieren. Ich warte auf die Tochter.
Mein Nacken tut nicht mehr weh. Vor zwei Stunden tat er es und ich fühlte es genau: mein Kopf gehört nicht mir. Er wurde mir von Aliens aufgesetzt. Was mit meinem echten Kopf passiert ist – ich weiß es nicht. Eine Kugel im Nacken soll den fremden Kopf festhalten. Der fremde Kopf ist dünkler, größer – obwohl er klein ausschaut, wirkt alt, ist runder, schwerer, innen gelber - fast braun, schwerfälliger als mein echter Kopf. Was mein echter....
Die Kugel im Nacken schaut metallisch aus, aber innen ist sie porös, wie das Innere eines Knochens. Ich kann den Kopf nicht ganz drehen. Die Kugel passt nicht ganz. Daß mir das noch nie aufgefallen ist!
Wer waren diese Aliens, die mir den eigenen Kopf gestohlen haben? Haben sie ihn einfach weggeworfen?
Jetzt steht eine links von mir und einer rechts. Sie zerren an mir. Ich werde ungeduldig und zornig. Laßt mich in Ruhe! Können die keine Tür zumachen? Fünfmal tuscht und kracht es!
Wie gesagt, das war vor zwei Stunden. Jetzt bin ich stark und kämpferisch und habe die Aliens abgeschüttelt. Mein Nacken tut nicht mehr weh.
Aber jetzt tut er wieder weh. Ich drehe den Kopf langsam und vorsichtig. Die Spannung löst sich wieder.
Madame sortiert die von mir gerade sortierten Zeitungen wieder um, mit einem leicht empört klingendem „Ah!“. Gleich werde ich zornig.
Die Zuckerdose starrt mich immer noch an und spitzt ihren Mund. Sie hat sich nicht von der Stelle gerührt.
Unter der runden leuchtenden Uhr sitzt eine runde Frau mit rundem Gesicht. Ob ihr Kopf auch abmontiert wurde und ein fremder aufgesetzt? Jedenfalls ist der jetzige für ihren Körper gut ausgewählt und er kann französisch sprechen. Und hören. Und verstehen. Zumindest scheint es so, denn was da zwischen ihr und der Tochter hin und her geht schaut wie ein echtes Gespräch aus. Ich kann es nicht überprüfen.
Was versteht mein fremder Kopf nicht? Ah! Der rote Faden ist jetzt sichtbar! Eigentlich ist er ein schmales, rotes Band.
Madame kann Gedanken lesen; sie hat die Zuckerdose, die mich angestarrt hat, weggenommen, nach hinten. Strafversetzt? Als Animierzuckerdose nichts erreicht? Nein, auf ihre Kontaktversuche habe ich konsequent nicht reagiert.
Mit festen Schritten stapft die Tochter die Treppe herauf – und tippt etwas ein. Wo tippt sie es ein? Ich kann es nicht sehen. Geheimnisvoll! Sehr geheimnisvoll!
Wo schaue ich hin? Um Himmelswillen! Wo schaue ich hin!
Die Kaffeemaschine dampft und mahlt und zischt und surrt.
Regnet es draußen noch? Der Mann schräg hinter mir hat „ a guate marie“ verdient. „Gott sei dank!“ Ich danke auch, daß ich die Aliens abgeschüttelt habe; ich glaube, mein Kopf gehört doch mir. Zumindest Teile von ihm. Ich würde sogar sagen, der größte Teil.
Die hagere alte Frau neben mir – rechts – hat eine eigenartige Kappe auf. Die wirkt aber aufgesetzt! Wirkt mein Kopf auch aufgesetzt? Ihre Kappe auch von... anderen?
Die blaue Schale direkt vor mir, in Augenhöhe, hat ein schönes Blau.
Der Mann schräg hinter mir hat „Schaas“ gesagt. Die Runde holt sich eine andere Zeitung, die ganze Runde. Ist sie aus einem Stück oder auch teilweise transplantiert?
Dort wo bei Siegfried das Lindenblatt ist, ist bei der Tochter eine Schleife - oder richtiger – das Bild einer Schleife mit Buchstaben.
„Tres jolie“, aber nicht die Schleife. Was, weiß ich nicht. Ich kann die Sprache nicht. Vier Jahre gelernt und kann sie nicht. War das noch mein Kopf, der das gelernt hat, oder schon der fremde? Ich glaube der fremde. Die Transplantation hat sicher schon ganz früh stattgefunden. Vermutlich kann ich mich deswegen nicht so weit zurückerinnern.
Von Zahlen ist die Rede. Ich sollte auch zahlen, und gehen.
Traurig und schwermütig bewegen sich die Scheibenwischer im Spiegel. Der Arbeitsplan ist zur Kenntnis genommen. Der Mann am Steuer weiß, wie es weitergeht; er weiß, wo er seine Last hinbringen muß.


©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 29. März 2015

105 Der Traum


Es war im Jahr 1982. Es muß so gegen das Frühjahr hin gewesen sein. Da hatte ich einen Traum.

Ich stand in Irdning auf dem Gehsteig der Hauptstraße gegenüber dem Supermarkt Puchwein. Hinter mir der große Garten vom Cafe Pachernegg. Es war Nacht. Ich hatte eine ganze Schar Kinder bei mir, einige an der Hand, andere wuselten herum, ein lebendiger, unruhiger, fröhlicher Haufen, quirlig rannten alle umher, ließen meine Hand los, kamen wieder zurück.
Alle sollten mit mir die Straße zum Puchwein hin überqueren, aber wie ein Sack Flöhe waren sie kaum zu bändigen. Dann endlich überquerten wir die Straße.

Beim Überqueren der Straße waren plötzlich alle Kinder weg und gleichzeitig schoß von rechts ein Lastwagen heran und es gab einen Tuscher. Erschrocken blieb ich mitten auf der Straße stehen. Alle Kinder waren weg; sie waren einfach nicht mehr da. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Nur eines, eines ist mit auf die Straße gekommen und vorausgelaufen und der Lastwagen muß es erwischt haben, denn das war der dumpfe Knall.

Der Lastwagen stand jetzt beim Puchwein drüben. Es war ein kleinerer, noch mit Stoffplane über der Ladefläche. Ich ging hinüber und suchte das Kind. Ich fand es nicht. Verzweifelt und schockiert suchte ich es überall, in den dunklen, schlecht beleuchteten Winkeln, unter dem Lastwagen. Ich konnte es nicht finden.
Endlich sah ich, daß sich die Plane des Lastwagens oben am Dach ganz schwach bewegte, wie die Brust bei ganz schwachen Atemzügen. Dort oben am Dach des Lastwagens fand ich das Kind, die Wucht des Aufpralls hatte es nach oben geschleudert. Es war ein Bub, alles an ihm war gebrochen, mit schreckensstarren Augen schaute er mich an.
Seine Augen waren weit aufgerissen, aber sein Blick war voller Liebe, nur mit einem leisen Warum? Brustkorb und Plane hoben und senkten sich in kaum merkbaren Atemzügen.

Ich nehme ihn in meine Arme, halte ihn vor mir und schaue ihn an. Ich spürte eine große, große Liebe, wie ich sie in meinem Leben noch nie empfunden hatte.
Ja, warum? Warum habe ich es zugelassen, daß der Lastwagen ihn überfährt? Er liegt vor mir auf meinen Händen und Unterarmen, die ich vor mich halte, und sage zum Kind: „Es tut mir so leid! Es tut mir so leid. Ich verspreche dir, daß ich alles, alles tun werde, daß es wieder gut wird!“

Damit wache ich auf. Voll mit diesem Gefühl einer ganz großen Liebe und eines ganz großen Schmerzes.

Damals las ich viel Fritz Perls, den Begründer der Gestalttherapie, und ich hatte seine Auffassung, daß alle Teile eines Traumes man selber sei, in dieser einfachen, möglicherweise verkürzten Form übernommen. Ich dachte, das Kind im Traum ist mein eigenes inneres Kind. Ich hatte es vergessen und vernachlässigt und jetzt wiedergefunden.

Ich weinte an diesem Tag viel und oft und redete immer wieder von diesem Traum. Meiner Freundin damals wurde meine – wie sie es vermutlich sah – Sentimentalität lästig und sie machte eine abfällige Bemerkung über mein Getue. Ich empfand aber meine Liebe für dieses Kind so stark und rein und wollte diese Liebe nicht verhöhnt wissen, und aus einem schnellen Impuls heraus und meiner Sache sicher verpaßte ich ihr eine Ohrfeige. Keine, wo man mehrere Meter durch die Luft fliegt, aber eine deutliche.
Das hatte ich vorher noch nie und nachher nie mehr getan. Sie schaute mich ganz erstaunt an. Und zum ersten und einzigen Mal in unserer siebenjährigen Beziehung mit Respekt in den Augen. In diesem Moment war ich ein ebenbürtiger Partner.

Man ist beinahe versucht, dem Astrologen Döbereiner recht zu geben, der sagte: „eine jede Frau will ihren Mann zerstören und ist erst glücklich, wenn es ihr nicht gelingt!“ Beinahe. Aber eben doch nicht. Denn diese Aussage wird der Komplexität und Vielschichtigkeit des Geschehens und der seelischen Abläufe der Beteiligten nicht gerecht. Er ist plakativ wie ein Werbespruch und führt letztlich doch in die Irre.

Erst Jahre später konnte ich zulassen, daß mir die Erkenntnis ins Bewußtsein hochsteigt, daß mir in diesem Traum unser abgetriebenes Kind begegnet ist. Und zwar wirklich und nicht bloß symbolisch. Der Zeitpunkt des Traumes passt auch.

Ja, das war es. Die anderen Kinder im Traum, das waren die durch Verhütung verhinderten, die gar nie in die Zeit gekommen sind. Deshalb haben sie die Straße nicht überquert. Aber dieses eine Kind hatte die Grenze vom Zeitlosen in diese Zeit und in diese unsere Welt schon überschritten. Es war schon bei uns.

Ich hatte der Abtreibung voll zugestimmt und die Entscheidung darüber einfach meiner Freundin übergeben, so in dem Sinn „dein Bauch gehört dir“. Und sie damit völlig im Stich gelassen. Da war ich wirklich kein ebenbürtiger Partner. Und hätte ich nur ein kleines, schüchternes „Ja“ gesagt, sie hätte es nicht gemacht. Und selbst wenn ich gesagt hätte „Fahr ab mit dem Kind!“ hätte sie es leichter gehabt, sozusagen gegen meinen Widerstand in ihrem Inneren ihren Wunsch nach dem Kind zu finden, zu erkennen und auszusprechen. So aber war ich überhaupt kein Gegenüber für sie.


Kennt ihr übrigens diesen Witz?
In einem Indianerdorf lebt eine Frau mit ihren Kindern. Ihr jüngster Sohn ist ein aufgewecktes Kind, aber in letzter Zeit ist er etwas nachdenklich, zieht sich manchmal vom Spielen draußen mit den anderen Kindern in den Wigwam zurück, schleicht um seine Mutter herum, bis er sie schließlich fragt: „Du Mama! Warum heißt mein großer Bruder Röhrender Hirsch?“ „Na ja“, antwortet die Mama, „wie dein Papa und ich ihn gemacht haben, hat gerade ein Hirsch geröhrt!“
Zufrieden hüpft der Kleine wieder zu den anderen Kindern zum Spielen.
Nach einiger Zeit wird er wieder nachdenklich, schleicht zu seiner Mutter und fragt. „Du Mama! Warum heißt meine Schwester Hüpfendes Häslein?“ Die Mama antwortet: „Wie der Papa und ich sie gemacht haben, ist gerade ein Häslein vorbeigehüpft. Aber sag einmal, warum stellst du in letzter Zeit so komische Fragen, Zerissener Gummi?“





©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

104 Die Trinkgeldgeschichte


Den heutigen Abend - 27.3.2015 – habe ich mir so vorgestellt: Ich komme so um 20 Uhr 30 aus der Arbeit, eile die Alserstraße hinunter, bin in circa fünf bis sieben Minuten in einem Sportcafe mit mindestens acht Bildschirmen, wo das Fußballspiel Liechtenstein gegen Österreich gezeigt wird, und zwar auch im Nichtraucherbereich und komme noch rechtzeitig zur Bundeshymne, stehe dabei auf – wie ich es in der Geschichte „Fahne auf Halbmast“ versprochen habe - bestelle ein alkoholfreies Bier und genieße den Fußballabend.

In dieses Sportcafe habe ich mich immer gesetzt, wenn ich ein Fußballspiel anschauen wollte, denn zu Hause haben wir keinen Fernseher. Gottseidank. Die Einrichtung dort und die Raumgestaltung empfinde ich als scheußlich, wie ich es überhaupt nicht mag, überdekoriert mit - für mich – beinah unerträglicher Pseudokunst; Kitsch, aber auf „moderne Kunst“ gemacht, Internationalität suggerierend, indem zum Beispiel ein eigenartiger Eifelturm an die Wand geplatscht wurde. Im hinteren Bereich gibt es einen Spielautomatensaal, der mich aber nicht tangiert, und, wenn vorne im Nichtraucherbereich Damen sitzen, die plaudern wollten, sperrt die Kellnerin noch ein Hinterzimmer mit großem Bildschirm auf, damit beide Gruppen ungestört ihren Leidenschaften frönen können. Deswegen war ich gern dort – aber nur, um Fußball zu schauen. Sobald die Übertragung anfing, war mir die Umgebung egal.
Überhaupt die Kellnerinnen! Einmal hat mir eine Kellnerin – dem Akzent nach aus Tschechien oder der Slowakei – mein großzügiges Trinkgeld wieder zurückgegeben mit der Bemerkung, das sei zuviel, ich müsse mir ja mein Geld auch erst verdienen.

Beim Trinkgeldgeben nämlich neige ich zu einer gewissen inneren Kompliziertheit. Ein freier Mann, ein richtiger Herr kann leicht Trinkgeld geben. Er kennt sich in der Welt aus, weiß seinen Wert und den Wert seines Geldes, und fühlt sich auch befähigt, die Leistung des Kellners, der Kellnerin, des Handwerkers, der Taxifahrerin einzuschätzen, und er entscheidet souverän über die Höhe des Trinkgeldes.

Nicht so ich. Erstens habe ich von der Welt des Handels und des Handelns keine Ahnung. Und zweitens hatte ich mich mein ganzes Leben lang nie souverän gefühlt. Obwohl ich in letzter Zeit ein glücklicher Mensch bin, dieses Grundgefühl Souveränität kenne ich nicht. In meinem Inneren gibt es kein Selbstwertgefühl. Ich brauche es vielleicht gar nicht mehr, jedenfalls ist es nicht da. Also schreite ich nicht als Souverän, nicht als Herr in ein Geschäft, in ein Cafe oder was auch immer. Sondern ich habe bei geschäftlichen Vorgängen wie im Restaurant etwas bestellen und an den Tisch bringen lassen, bedient werden ein mehr oder weniger starkes schlechtes Gewissen, weil mir das eigentlich nicht zusteht. So als Hintergrundrauschen.
Deswegen bin ich beim Trinkgeldgeben sehr unsicher – wieviel gibt man? Ist es genug? Ist es zuviel? Wie schaut das für die anderen aus? Beleidige ich jetzt den Kellner? Und was es so alles an Windmühlengedanken gibt.
Manchmal habe ich auf meine Unsicherheit ängstlich und knausrig reagiert, manchmal großzügig. Ja, manchmal empfinde ich das Trinkgeld, das ich gebe, fast als Bestechungsversuch, daß man so tue, als wäre ich ein souveräner Bürger, obwohl ich es nicht bin. Oder ich werde anständig behandelt und freue mich so, daß ich im Überschwang, nicht hinausgeworfen worden zu sein, in großer Dankbarkeit viel gebe. Auch wenn ich schlecht behandelt werde, kann es sein, daß ich viel gebe, aus einer Art Trotz heraus, mich von dieser Unverschämtheit und Frechheit nicht zu etwas hinreißen zu lassen, was mir nicht liegt. Oder ich habe richtig Angst und gebe viel.
Meistens nehme ich es mir heraus, eher großzügig zu sein – von meinen bescheidenen Möglichkeiten aus gesehen - und zwar mit gutem Gefühl; vor allem, wenn ich allein in ein Lokal gegangen bin. Über meine komplizierten Manöver kann ich innerlich lachen und betrachte sie selbstironisch.

Also die Kellnerin hat mir den Großteil meines Trinkgeld zurückgeben und ihres damit reduziert. Das hat mir gefallen, nicht des Geldes wegen, sondern als Handlung.

Nur, an diesem Abend hat das alles keine Rolle gespielt, denn das Sportcafe mit dem komischen Eifelturm und den Automaten im Hintergrund hatte geschlossen. Und zwar für immer.

Auf die Schnelle habe ich kein anderes Lokal mit Fernsehübertragung gefunden und so sitze ich daheim am Computer und „schaue“ den Liveticker. Frustrierend, aber dafür kann ich diese Geschichte schreiben.

In meiner frühen Jugend so um die zwölf Jahre bin ich schon einmal wegen eines Fußballspiels des ATV Irdning mit dem Rad 31,4 Kilometer nach Haus im Ennstal gefahren. Oder waren es die 38,3 Kilometer nach Schladming? Ich kann mich nicht mehr erinnern, wahrscheinlich doch Schladming. Irdninger Fans dort haben mir dann gesagt, ich hätte auch mit ihnen im Bus mitfahren können, aber auf diese Idee bin ich nicht gekommen. Das war ein Sonntag bei wechselhaftem Wetter. Ich hatte mich beim Rückweg – weil ich dachte, es geht dann eh das Ennstal hinunter bergab – was die Zeit betrifft sehr verschätzt und kam bei Regen und Dunkelheit nicht zum abgesprochenen Termin nach Hause, sodaß sich meine Eltern Sorgen machten – der Verkehr auf dieser Strecke damals selbstverständlich noch ohne Radweg war alles andere als harmlos – und die Mutter hat den Vater mit dem Moped losgeschickt, nach mir zu schauen. Das Blöde war, daß sich bei meinem Rad der Kilometerzähler verbogen hatte, ohne daß ich es merkte, und somit die vielen schönen mühsam abgestrampelten Kilometer nicht zählten. Das hat mich sehr geärgert.

In meiner Kindheit ging ich also schon öfters auf den Fußballplatz; in Irdning hatten wir zwei, den vom ATV Irdning ein Stück außerhalb des Ortes in den Ennswiesen und einen im Ort, gleich dort, wo wir wohnten, vom TUS Raumberg, der Sportverein der Höheren Bundeslehranstalt für alpine Landwirtschaft in Raumberg.
Bei einem Spiel TUS Raumberg gegen ich-weiß-nicht-wen pfiff der Schiedrichter völlig unfair gegen uns – in so einem Fall waren auch alle Irdninger Raumberger – und die Volksseele kochte vor Wut. Nach dem Ende des Spiels wurde der Schiedsrichter von einer empörten Menschenmenge zu seinem Auto „begleitet“ und verbal bei seinem Abgang „unterstützt“. Der Gendarm – an und für sich auch selber empört – versuchte die Wogen zu glätten. Ich war auch in der Menge, etwas weiter hinten, aber auch mit den anderen zornig.
Der verhaßte Schiedsrichter setzte sich mit seiner Familie – Frau und Kindern – in sein Auto und wollte wegfahren. Das Auto war von der wütenden Menge umringt und immer, wenn er losfahren wollte, hoben ein paar beherzte Männer und Burschen das Auto hinten hoch, sodaß sich die Räder vergeblich in der Luft drehten. An sich harmlos, der Mann wurde ja nicht wirklich attackiert, und es war auch lustig zu sehen, wie leicht ein Auto unbrauchbar und „unschädlich“ gemacht werden konnte. Aber mir gab es einen Stich. Das hatte ich nämlich schwer ausgehalten, wie der Schiedsrichter jetzt als Mann vor seiner Frau und als Vater vor seinen Kindern dasteht. Das wurde mir unangenehm und ich schlich mich dann nachdenklich vom Platz und ging den kurzen Weg nach Hause. Die Szene hat mich noch lange und oft beschäftigt.

Zum Turnunterricht in der Schule hatte ich ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits Abwechslung vom Sitzen, andererseits ein Ort der Beschämung und der Qual. So zum Beispiel gingen wir im Turnunterricht in der ersten Klasse Gymnasium Schifahren, der Professor, selber dick, steckt gleich einen Slalom, steht mit dem Notenbüchlein am Rand und losgehts! Torfehler, Sturz: fünf. In dieser Tonart ging es weiter.
Ich war unsportlich und ängstlich. Vor allem beim Geräteturnen. Ich war froh, wenn wir im Turnunterricht Fußball spielten, obwohl auch das mit Szenen der Beschämung und Erniedrigung verbunden war. Zwei der besten Sportler unter den Schülern wurden vom Turnlehrer als Mannschaftskapitäne bestimmt und die wählen dann ihre Mannschaft aus. Zuerst der eine einen, dann der andere einen. Ich gehörte immer zu denen, die als letzte ausgewählt wurden, die niemand in der Mannschaft haben wollte, ich war schon froh, wenn ich der Vorletzte oder Vorvorletzte war. Das hatte sich tief eingeprägt. Nur einmal, in einem Anfall von Spieleuphorie und Begeisterung bin ich als Verteidiger nach vorne gestürmt und habe ein Tor geschossen. Beim nächstenmal hat mich dann der Wilhelmer als Kapitän gleich am Anfang als zweiten oder dritten gewählt. Aber da war ich wegen der hohen Erwartungen gleich gestresst und spielte wieder schlecht und fiel in meine alte Rolle zurück und auf meinen alten, zugewiesenen Platz als Versager.

In der Oberstufe dann hatten wir als Turnlehrer Gerhard Winter, einem Pionier des Extremskisports („ski extrem“ hieß, glaube ich, ein Film in den Sechzigerjahren, an dem er entscheidend als Extremskifahrer mitwirkte). Dieser Mann sprach auch im Turnunterricht offen aus, daß er Burschen verabscheute, die ängstlich und unsportlich waren, ihre Angst und ihren Körper nicht beherrschen konnten und daß es nichts Verächtlicheres gäbe als solche Typen. Nebenbei: er war auch ein großer Jazzfan und Jazzkenner.
Sein bevorzugtes Spiel im Turnunterricht war Volleyball und da bei diesem Spiel die Mannschaften klein sind, blieben wir schlechte Sportler immer übrig und durften nur zuschauen.
Wenn schon Sport, dann lieber noch Spiele als das verhaßte Geräteturnen, das für mich meistens eine reine Qual war.
 
In Oberstufe lauschte ich schon ein paar Jahre lang regelmäßig und fanatisch der Musicbox – Punkt drei Uhr verließ ich auch die Wiese vor unserem Siedlungshaus, wo wir auch Fußball spielten, um die Musicbox zu hören. Und anscheinend hatte mich diese meine Lieblingssendung doch mit rebellischem Geist angesteckt und so ging ich einmal, als ich wieder beim Volleyballspiel zuschauen mußte, zu Professor Winter hin und sagte: „Wenn ich bei den Spielen immer nur zuschauen muß, dann mache ich auch beim Geräteturnen nicht mehr mit. Entweder beides oder gar nichts!“ Ich zitterte vor Angst, aber ich war wütend genug, mich das laut und bestimmt sagen zu trauen.

Daraufhin stellte er aus den Übriggebliebenen eine Volleyballmannschaft zusammen und ließ uns gegen eine Mannschaft der Guten spielen. Und wir spielten nicht schlecht! Wir verloren nur knapp.
Wir Schlechten untereinander mußten uns voreinander nicht genieren, uns keine Sorgen machen, daß wir jemandem einen genialen Spielzug verpatzten und ich und ein paar andere spielten befreit auf. Ein paar von uns hatten sich sportlich schon so aufgegeben, daß sie diese Chance nicht nutzten, aber die paar, die jetzt befreit von Gruppendruck und Versagerdefinition locker und mit Freude spielten, wir kämpften tapfer und spielten besser als je zuvor. Nur mit Mühe konnte uns die gegnerische Mannschaft der Guten besiegen. Das mußte sogar Professor Winter eingestehen und er sagte zu mir: „ihr habt gar nicht so schlecht gespielt!“

Aber er hat nichts daraus gelernt. In Zukunft ging es im Turnunterricht wieder genauso weiter wie vorher. Nein, um an dieser Szene etwas zu begreifen, dafür hat es nicht gereicht. Intellektuell? Emotional? Ich weiß es nicht.

Das heißt, ich verabschiedete mich immer mehr vom Sport, bis nur mehr die reinste Aversion und arrogante Verachtung übrig blieb. Mir ist fast übel geworden von den Stimmen bei Sportübertragungen in den Medien, vom aufgedrehten Tonfall der Sportreporter. Sportsendungen wurden mir ein Greuel, vor allem im Fernsehen. Ich verabscheute die Ästhetik dieser Sendungen, die Werbung bis zum Geht-Nicht-Mehr, die Logos, die Symbole, die Signations, die unterlegte Musik, die Bildsprache ….. alles.
Sport. Das war ob meiner Unsportlichkeit kein angenehmes Thema für mich und mit den Sportfans verband ich auch die Welt der bösen Buben aus meiner Kindheit.

In unserer Familie war meine Mutter trotz eigener Unsportlichkeit der größte Sportfan. Bei Fußballspielen im Fernsehen konnte sie sich bis zur Erregung hineinsteigern. Als sie einmal – schon im Alter – während einer Übertragung eines Fußballspiels ein Herzinfarkt ereilte - ein Hinterwandinfarkt, gerettet in letzter Minute nur duch einen Hubschraubereinsatz – da fragte sie, nach Tagen zum erstenmal wieder bei Bewußtsein, sofort nach dem Aufwachen: „Wie ist das Spiel ausgegangen?“ Darüber hat sich das ganze Krankenhaus amüsiert. (Das ganze? Gab es dort keine Sportverweigerer wie mich? Nachrecherchieren!).

Und wie bin ich dann doch noch zum Fußballschauen bekommen? Mein Neffe Gerhard und meine Frau oder eigentlich mein Stiefsohn bewirkten es. Gerhard war (und ist) ein Fan von Sturm Graz und damals war gerade Ivica Osim der Trainer, ein Philosoph unter den Trainern, und das kam mir sehr entgegen.
Außerdem bat mich meine Frau immer wieder, mich doch zu ihrem Sohn vor die Glotze zu setzten, wenn er Fußballübertragungen schaute und irgendwann gab ich widerwillig nach.
Das war beides zur gleichen Zeit. Und ganz schnell drehte ich mich um hundertachtzig Grad und wurde ein Fußball-, Schirennen- und Sportgaffer. Jetzt haben wir keinen Fernseher mehr, aber als wir noch einen hatten, haben sich meine Töchter schon lustig gemacht über meine Aufregung und Nervosität vor einem Rennen oder Fußballspiel, oder wenn ich „Ruhe!“ brüllte oder „Geht weg da, ich seh nichts!“ und wenn ich bei der Hymne aufstand, was ich dann erst recht machte, dann wirklich betont mit feierlicher Mine und Hand aufs Herz und innerem Schmunzeln.

Ja und deswegen habe ich am 27.3.2015 zehn Minuten vor Anpfiff konfus ein Lokal mit Fernsehübertragung gesucht, nachdem ich erschrocken feststellen mußte, daß es „mein“ Lokal mit dem zurückgegebenen Trinkgeld nicht mehr gibt.


©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 27. März 2015

103 Fahne auf Halbmast


Es war gegen Ende meiner Grazer Zeit. Ich hatte begonnen, mich von den Selbstverständlichkeiten das linken Common Sense wegzubewegen, lebte aber immer noch in diesem Kosmos. Das Thema, an dem sich mein Dilemma zuspitzte, waren die Länder des „real existierenden Sozialismus“, umgangssprachlich der Ostblock. Es herrschte auch unter den diesen Ländern und Regimen kritisch gegenüberstehenden Linken ein Klima, diese gegenüber den „Bürgerlichen“ mehr oder weniger zu verteidigen. „Ja, schon, aber … auch...“ „Es stimmt schon, daß in der DDR die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist, aber auch in der BRD gibt es Berufsverbote.“ „Ja, in der Sowjetunion gibt es zweifelhafte Dinge, aber auch in Chile werden....“ „Das sind Maßnahmen einer schwierigen Transformation, weil der sozialistische Mensch noch nicht...etc.“ etc.
Manchmal verteidigte man das Unhaltbare umso verbissener, je stärker man das Bauchweh deswegen spürte und das eigene Unbehagen nur mehr schwer zu unterdrücken war. Aber die „antibürgerliche“ und erst recht die „antifaschistische Solidarität“ wurden eingefordert, besonders vehement von den der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) Nahestehenden.

Da gab es schon auch lustige Momente. Zum Beispiel als wir „Antifaschisten“ - wenn ich mich richtig erinnere eine Koalition von KPÖ bis Reformkatholisch – den „Steirischen Frühling“ störten. Der „Steirische Frühling“ war damals eine Gegenveranstaltung von Rechten und Deutschnationalen gegen den steirischen herbst, in dem die deutsche Kultur gegen die Zersetzung durch die „herbstliche“ Unkultur hochgehalten werden sollte. Ich meine, heute lese ich den Peter Rosegger gerne und den Wolfgang Bauer ...na ja; aber damals war es klar, auf welche Seite man sich zu stellen hat und beim „Steirischen Frühling“ spielten auch echte Nazis mit; insoferne stehe ich auch heute noch zu diesem Engagement.
Wir Antifaschisten störten also die Veranstaltung und versuchten, in den Veranstaltungssaal einzudringen. Wer dort vorgetragen oder gelesen hat, weiß ich nicht mehr, aber es war eine schon recht braune Geschichte. Es wurde die Polizei - die österreichische wohlgemerkt – gerufen, um uns zu vertreiben. Als die Polizei auf uns losgehen wollte, sangen wir - mehrheitlich vaterlandslose Gesellen - die österreichische Bundeshymne.
Die Idee kam – man ist versucht zu sagen: natürlich – von den KPÖ-nahen Teilnehmern. Die Deutschnationalen in Österreich haben ja immer gespottet, die Idee einer österreichischen Nation sei eine kommunistische Mißgeburt. Also war das Österreich-Pathos der KPÖler schon glaubwürdig. Was mich betrifft – gut, sub specie aeternitatis, Nationen entstehen und vergehen – aber wenn es so etwas wie Nationen gibt, dann bin ich gerne österreichischer Nationalität. (Auch heute, am 26.3.2015, der Vorabend des Fußballspiels unserer Nationalelf gegen Liechtenstein! Vielleicht stehe ich morgen bei der Bundeshymne auf).
Also, jetzt konnte die österreichische Polizei schwerlich auf uns, die österreichische Bundeshymne Singenden einschlagen, das hätte ein schlechtes Bild ergeben. Ich weiß nicht, wer die Hymne „im Ernst“ gesungen hat und wer nur „taktisch“, für mich war es doch – heimlich – ein bewegender Moment. (Das war mir sowieso immer am Liebsten: mit „Bravsein“ rebellieren.)

Aber allmählich hatte ich genug von der falschen Solidarität des linken Antifaschismus – Wolf Biermann und seine Ausbürgerung spielten für mich dabei eine entscheidende Rolle - und ich begann, die Verbrechen der sogenannten sozialistischen Länder – ob Ostblock oder China – aufzuarbeiten. Ich las viel darüber, vor allem noch linke Berichte und Analysen, von verfolgten oder kritischen Kommunisten und Sozialisten, Trotzkisten, Anarchisten und sonstigen Linken; immer weiter ging ich vor: zuerst die Einverleibung des Ostblocks in den Sowjetbereich – im Hinterkopf noch die These vom guten Beginn bei der russischen Revolution und dem Abstieg bei Stalin – dann China und Satelliten – die selbst bei konservativen Westlern unbekannten Hungersnöte in Maos Reich, dann immer weiter bis zur russischen Revolution selber, der willentlich herbeigeführten ukrainischen Hungersnot, weiter bis zu Trotzki mit seiner roten Armee (Kronstadt), alles, alles wurde von mir durchforstet und in meinem Gehirn aufgearbeitet.
Die Energie dafür kam von meinem Zorn über mich selber, darüber, daß ich so lange mitgespielt hatte. Mein Selbstverständnis war immer noch links, wenn ich mich auch immer mehr als Einzelkämpfer sah.

Irgendwann wollte ich das von mir Aufgearbeitete nach Außen tragen und es regelrecht „verkündigen“, den Leuten zeigen, was ich herausgefunden habe, sie aufklären, auf unsere Irrtümer aufmerksam machen.
Und es ergab sich dann bald eine Gelegenheit. Der Kommunistische Studentenverband (KSV) war in der linken Szene berühmt für seine Mensafeste. Die waren gut besucht, das Programm mehrheitstauglich mit den linken Gitarrenliedern (Jungscharabend, wie wir Avantgardelinken immer schon spotteten), Franz Stephan sang Beatlessongs, kurze politische Beiträge, manchmal kabaretthaft vorgetragen, nette, heimelige Abende mit linker Unterhaltung.

Es war wieder ein Mensafest des KSV angekündigt und wie ich auf dem Einladungszettel las, soll auch „eine deutsche Genossin über die Berufsverbote in der BRD“ sprechen.
Das war mein Anknüpfungspunkt. Ich schrieb eine Brandrede, stieg mit meiner Erklärung zur Solidarität mit dem Kampf gegen die Berufsverbote in der BRD ein, um mich dann auch mit dem Kampf gegen die Berufsverbote in der DDR solidarisch zu erklären. Aber das war nur der Startschuß für meine Generalabrechnung. Alles, alles zählte ich auf: Eisener Vorhang mit Todesopfern, Gulag, alles was ich damals wußte.
Ich hatte die ganze Bußpredigt schön auf meine Zettel geschrieben und stapfte aufgeregt und tapfer zum KSV-Fest. Ich trank ein Vierterl Rotwein als Brandbeschleuniger und als die Genossin aus der BRD, die über die Berufsverbote dortselbst referieren sollte, ans Mikrophon trat, erlebte ich einen kurzen Schock! Es war die Freundin eines der Hauptmitbewohner meiner Wohngemeinschaft, die defacto bei uns in der WG lebte. Der KSV hat es immer gut verstanden, Leute von außen, die nicht zu ihrer Partei gehörten, in ihr Programm einzubauen, um eine große Breite und den Anschein von Toleranz zu „erzeugen“.
So! Was jetzt? Ich wußte nicht, daß sie das vorhatte und sie auch nicht, was ich vorhabe, denn ich hatte niemandem davon erzählt.
Es war zu spät. Ich konnte und wollte nicht mehr zurück. Kaum war sie mit ihrer Rede fertig, stieg ich auf die Bühne, nahm das Mikrophon und erklärte mich mit dem Kampf gegen die Berufsverbote in der BRD solidarisch, aber dann begann meine Brandrede!
Ich hatte das sehr gut gemacht, ich war so selbstverständlich hingegangen, nahm das Mikrophon so selbstverständlich, als gehörte ich zum Programm, sodaß die Genossen von der KPÖ verzögert reagierten. Meine ganze Wut und meine Frustration darüber, so lange da mitgetan zu haben schleuderte ich in den Saal, Punkt für Punkt nannte ich alles beim Namen: Hinrichtungen nannte ich Hinrichtungen, Erschießungen Erschießungen, den Gulag ein System von Zwangarbeits-, Straf- und ganz schlimmer Ausbeutungslager und so weiter. Was für eine Befreiung, die Dinge beim Namen zu nennen! Im Saal wurde es still. Als mich die Genossen vom KSV vom Mikrophon wegzerren wollten, hatte ich schon den Großteil meiner Rede von der fehlenden Meinungsfreiheit in den Ländern des realen Sozialismus ins Publikum gedonnert. Ich ließ mich auch nicht wegzerren und leistete „passiven Widerstand“. Damit es kein Mißverständnis gibt, sie taten mir überhaupt nicht weh, Franz Stephan versuchte lediglich, mich von der Bühne weg zu bringen. Er merkte jedoch, daß er damit genau das bestätigte, was ich in meiner Predigt anprangerte. Ich ging auch nicht weg, bis ich mit der Rede fertig war und sie mußten säuerlich zuschauen.

Zunächst war es also still im Saal, aber bald kamen „Bravo!“ und „Aufhören!“ Zwischenrufe. Das Publikum war gespalten: die KP-Leute waren gegen mich, aber hielten sich eher zurück, andere applaudierten mir. Viele aber fühlten sich auf ihrem Fest gestört, das waren die „Hedonisten“ (man verzeihe mir solche Zuschreibungen). Diese wollten – wenn ich das aus männlicher Sicht beschreiben darf – etwas trinken und Weiber „aufreißen“, den Politschmarrn nahmen sie in Kauf, solange er sie nicht störte. Das ist jetzt schon sehr unfair gezeichnet, aber „Idealisten“ wie ich hegen eine besondere Verachtung für diese genießerischen Genossen, die nur ihren Spaß haben wollen, egal, unter welcher Fahne er daherkommt. Wobei da schon eine Portion Neid in dieser meiner Verachtung enthalten gewesen sein dürfte, nicht wahr? Saure Trauben...
Die Stimmung im Saal war also gespalten. Dann machte Franz Stephan einen – wie ich finde – genialen Schachzug: er redete mich persönlich an: „Peter, das ist unser Fest und du störtst es jetzt; das ist nicht fair. Wir versprechen dir, einen Diskussionsabend zu veranstalten, wo du auch eingeladen sein wirst, zu all diesen Themen. Aber jetzt laß uns unser Fest weiterfeiern!“
Da war ich einverstanden und verließ die Bühne. Das Fest ging mit Lied und Gesang weiter, wie mir schien, die rote Fahne nur mehr auf Halbmast.

Das Versprechen einer Diskussion zu diesen Themen wurde vom KSV eingelöst. Sie veranstalteten eine Podiumsdiskussion zu der sechs Leute fürs Podium nominiert wurden – ein Vertreter der Maoisten, einer von den Trotzkisten, einer vom sozialistischen Studentenverband – das war dann ich, wenn ich auch schon nicht mehr Mitglied beim Vsstö war, ein Student vom KSV, noch ein Dozent von der KPÖ und ein echter kommunistischer Arbeiter, auch von der KPÖ. Schlau eingefädelt, aber sie waren ja auch die Veranstalter. Das Konzept vermutlich darauf ausgelegt, zu dritt die drei Gegner untereinander auszuspielen – unterschiedliche Auffassungen zu den diskutierten Themen gab es genug. Und dann noch ein echter Arbeiter! Nahezu sakrosankt.

Ich hatte mich gut vorbereitet, jeder von den Leuten am Podium hielt ein Eingangsstatement und meines war ganz gut. Nur in der Diskussion war ich schlecht. Das liegt mir nicht, so ein Schlagabtausch, wo es um das Gewinnen und nicht um das Herausfinden der Wahrheit geht. Nein, da bin ich nicht schlagfertig und muß viel zu lange nachdenken. Ich bin nicht gut in Diskussionen, ich bevorzuge Gespräche, wo man davon ausgeht, daß es auch dem anderen um Wahrheit, Wissen und Erkenntnis geht. Oder ich gebe eben mein vorher vorbereitetes Statement ab, drehe mich dann um, steige von der Kanzel respektive vom Podium wieder herunter und kümmere mich nicht darum, was die Zuhörer annehmen wollen und was nicht.
Ich kann mich an die Details nicht mehr erinnern, nur, daß der kommunistische Arbeiter über mich sagte: „Er ist nicht schlecht! Er meint es gut! Er ist nur irregeleitet!“ Da glaubte ich den Franz Stephan herauszuhören.

Es drängte mich auch, ganz alleine und ohne zuviel Diskussion mit irgendwem ein Flugblatt herauszugeben, indem ich nochmals mit allem abrechnete. Ich weiß nicht mehr sicher, was zuerst war – das Mensafest oder das Flugblatt. Ich glaube, das Mensafest.

Dieses Flugblatt strotzt nur so von linkem Jargon, daß ich es heute ungern lese, aber dennoch habe ich wichtige Selbstverständlichkeiten formuliert. Zuerst zählte ich ein paar Unfreiheiten und Unterdrückungsmethoden in den Ländern des real existierenden Sozialismus auf und die Selbstverständlichkeiten klingen dann so: „Für uns Linke ist es notwendig für unsere Glaubwürdigkeit, zu allen diesen Sachen klar und eindeutig Stellung zu beziehen. Nicht die Kritik an diesen Ländern nützt der Reaktion, sondern die Schandtaten dieser Regime und unsere Zweideutigkeit sind es, die der Reaktion die Argumente liefern.“
Ich möchte jetzt nicht herummeckern, daß das immer noch eher so klingt, als ginge es nur um unsere Glaubwürdigkeit und nicht um das Leid der Menschen in diesen Ländern. Und daß das noch ziemlich nach Bürokratensprache schmeckt. Mein Anliegen war trotzdem echt. Oder ein anderer Satz: „auch wenn ein Reaktionär wie Solschenyzin von Lagern in der UdSSR schreibt, so ist deswegen das Faktum, daß es diese Lager gegeben hat/gibt, nicht weniger schrecklich!“
Lustig noch die Signatur, die ich dem Flugblatt am Schluß beigefügt habe, besonders für astrologische Feinschmecker – von wegen typische Fischeformulierungen: „Initiative für einen wirklich realen Sozialismus“.

Als ich das Flugblatt an der Uni Graz verteilte, kam auch ein mir gut bekannter Student des KSV daher und als er es las, wurde er zornig und sagte - sinngemäß, wörtlich weiß ich es nicht mehr: „Peter, jetzt spinnst wirklich! Du gehörst ins Irrenhaus!“ Ein paar Kilometer weiter im Osten hätte er möglicherweise dazu die Macht gehabt. Aber man muß fairerweise festhalten: man kann nie wissen, wie ein Mensch sich unter anderen Bedingungen verhält. Wäre er im Ostblock aufgewachsen und hätte er dort gelebt, vielleicht hätte sich dort auch sein rebellischer Geist durchgesetzt und er hätte in der Opposition gegen die bestehenden Verhältnisse gekämpft. Wer will das wissen?

Und wenn ich ihm heute begegnen würde? Sagen wir, zufällig auf der Straße? Ich glaube, ich würde lachen und ihm die Hand geben – ich gehe davon aus, daß auch er eine Entwicklung durchgemacht hat. Ich habe keinen Grund, gegen ihn noch einen Groll zu hegen. Was ideologische Verblendungen betrifft – da steh ich ihm in nichts nach. Meine linke Verblendung war nicht meine letzte und unter welcher Fahne sie daherkommt ist doch egal.
Außerdem denke ich an ein Gespräch, das ich mit diesem Mann hatte, in der Zeit vor all diesen Auseinandersetzungen, die ich hier geschildert habe. Er hatte mitbekommen, daß ich dabei war, mich zu versaufen und mein Studium zu verplempern und daß ich unglücklich war. Bei irgendeiner Gelegenheit bat er mich zur Seite, um mit mir unter vier Augen zu reden. „Peter, mach dein Theologiestudium fertig und dann komm zu uns!“ Freilich, einen Theologen in ihren Reihen zu haben wäre für die KPÖ nicht schlecht gewesen, in der Hoffnung, damit andere Bevölkerungsschichten erreichen zu können. Aber ich glaube, er war auch wirklich besorgt um mich. Und dann sprach er mich wegen meiner Probleme mit den Frauen an, aber sehr sensibel, nur indirekt, indem er von sich redete: daß er am liebsten ein anständiges Mädchen heiraten und mit ihr Kinder haben wolle. Er wollte mir damit eine andere Perspektive zeigen, und damit hatte er recht. Das war schon das, was man jemandem von meiner Art und in meiner Situation sagen konnte. Ich fühlte mich in diesem Gespräch auch geachtet, mehr, als ich mich selber achten konnte damals. Freilich, annehmen konnte ich das nicht und mußte es als spießig abtun. Aber ich werde ihm das immer hoch anrechnen. Danke!

Meine Abrechnung mit den linken Blindheiten brachte mir immer mehr Gegner ein. Auch Leute, die zunächst auf meiner Seite waren, sprangen ab. Zum Beispiel, als ich mir Kuba vornahm: „Nein, Kuba läßt du mir in Ruhe! Kuba darfst du mir nicht zerstören!“ Für mich gab es aber kein Zurück. Dann merkte ich jedoch, wie ich in der Szene immer scheeler angesehen wurde. „Der Rumpf, der hat psychische Probleme!“ Da war ja zutreffend, aber es wurde genutzt, um mir nicht mehr zuhören zu müssen und meine Argumente nicht mehr ernst zu nehmen. Da bekam ich Angst, richtig Angst und das war der Beginn meines Ausstiegs aus der Szene.

Nachtragen will ich noch eine lustige Begebenheit beim Anmelden meines Flugblattes. Eigentümer, Herausgeber, Verleger: Peter Rumpf; für den Inhalt verantwortlich: Peter Rumpf; Druck: Österreichische Hochschülerschaft – so stand es im Impressum. Ich wollte alles ganz korrekt machen, darum wollte ich das Flugblatt auch bei der Polizei anmelden. Das war überkorrekt, denn niemand kümmerte sich um die Flut von Flugblättern auf der Uni.
Ich ging also von Geidorf durch den Grazer Stadtpark zum Kommissariat Paulustorgasse, um mein Flugblatt anzumelden. Auf dem Weg traf ich zufällig Wolfgang Pumpernig, einen ehemaligen Achtundsechziger Revoluzzer, zu dem ich bewundernd aufblickte. Er fragte mich, wo ich hingehe und ich sagte es ihm. „Ich komme mit!“, antwortete er. Mir war es nicht ganz recht – ich wollte dieses Flugblatt ganz als meine Sache durchziehen, aber ich sagte: „ja, gut.“
Wenn man vom Stadtpark kommend durchs Paulustor geht, muß man noch ein schönes Stückerl am Gebäude, in dem die Polizei untergebracht ist, entlang gehen, bis man zum Eingang des Kommissariats kommt. Und da passiert man auch den Hintereingang, der zum Polizeiparkplatz führt und ins Polizeigebäude, in dem sich noch dazu ein berüchtigtes Gefängnis befand. Als wir diesen Hintereingang erreichten, sagte Pumpernig: „Wir gehen gleich da rein!“ Groß und deutlich stand da eine Tafel: „Nur für Polizeiangehörige! Unbefugten Eintritt strengstens verboten!“ „Nein!“, sagte ich, „siehst eh was da steht!“ Ich war ja auch als Linker im Grunde ein ängstlicher, autoritätsgläubiger Mensch, ich fürchtete mich vor Polizei, Lehrern etcetera und so etwas wollte ich gar nicht! „Nein, nein, nein," insistierte ich ängstlich, aber Pumpernig sagte nur: „komm schon!“ und ging zum Hintereingang. Gehorsam folgte ich ihm und kaum hatten wir das Tor in den Hof duchschritten, stand schon ein Polizist vor uns und bellte uns an: „Da könnts nicht duchgehen! Steht eh draußen am Tor!“ ich denke mir, das war genauso zu erwarten und will mich schon umdrehen und hinausgehen, als der Pumpernig - von seinen Gefängnisaufenthalten hier in den Achtundsechziger Wirren mit Haus und Hierarchie bestens vertraut - zum Polizisten sagt, aber in wirklich scharfem, befehlenden Ton: „ich möchte sofort mit dem Sowieso sprechen!“ Mit Titel und allem drum und dran. Da schlug der Polizist seine Haken zusammen, salutierte und wir, langhaarig und bärtig, in schlampiger Studentenkleidung, schlurften durch den Hof und betraten ungehindert über diese Abkürzung das Kommissariat. Das was eine typische Pumpernig - Aktion. Über ihn gibt’s viele Geschichten, aber die habe ich selber erlebt.




©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 23. März 2015

102 Intermezzo

Als kleines Intermezzo  - zur Erholung - gibt es einen Text, den ich  September oder Oktober 1985 zu meiner Ausstellung "Hand im Halt" in der Galerie der Künstlergruppe REM, deren Mitglied ich war, am Mozartplatz gelegen, geschrieben habe und auf meine Einladung für eben diese Ausstellung drucken ließ:


Hand im Halt

letzte Glut
Restglut
Glut und Wasser
Glut und Fäden
Zitternde Glühfäden
Glut auf zitternden Fäden
Zitternde Fäden, die glühen
Späte Glut und zitternde Fäden
die Sonne geht auf Saiten

Hand im Halt
zwei umarmen einen und
zeigen ihm ihre Münder
Hund und Katze
Bärenhäute, die einen
anspringen,
Zufahrt mit Familie
Zwei machen einen Trick und
retten Räder

Schußähnlicher Bahnhof
Familie ißt wehrlos

was bin ich für ein schöner Mann
ich rette Bleistifte
was bin ich für ein aufrechter Demokrat





©Peter Rumpf  1985/2015                    peteraloisrumpf@gmail.com

101 Meine kleinen Magersüchte


Es war gegen Ende meiner Grazer Zeit. Ich hatte am Ferienalternativcamp Edersee grün-alternative Ideen kennengelernt. Und ich hatte Carlos Castaneda zu lesen begonnen. Seine Beschreibungen der Zustände einer anderen Weltwahrnehmung hatten mich zwar fasziniert, aber es war die „Reise nach Ixtlan“, die mich wirklich packte, die Beschreibungen und Ideen über das Leben der neuen Zauberer in der Alltagswelt, zum Beispiel „unerreichbar sein“, „die persönliche Geschichte auslöschen“, „den Tod als Ratgeber benutzen“, „der wohldosierte Umgang mit der Welt“.
Da rückte in meinem Inneren etwas zurecht.
Darum hatte ich Castaneda nie, absolut nie als Propagandisten für Drogenkonsum angesehen. Im Gegenteil. Tausende und abertausende Leser sahen ihn als solchen, aber ich nie. Ich dachte immer, diese Leute können nicht lesen, was dort in den Büchern steht. In dem Punkt war ich mir gegen die Abertausenden immer absolut sicher. (Das hatte mich übrigens nicht daran gehindert, später selbst Sachen aus dem Castaneda herauszulesen, die nicht drinnen standen.)

Ich begann mich von meiner linken Ideenwelt zu entfernen und fing an, mich um bessere Ernährung zu kümmern und hörte zu trinken auf. Ich fastete und wurde ein schlanker, dünner Mann, nicht mehr so dicklich wie vorher.
Ich wanderte viel, tanzte viel und wenn ich auch nicht Sport betrieb, so bewegte ich mich doch mehr.
Ich glaube, das war alles noch im Rahmen eines Genesungsprozesses und keine Magersucht, wenn ich vielleicht doch auch schon den „Duft“ der Askese eingesogen hatte. Diese Phase dauerte etwa ein Jahr.

Einige Jahre später war alles ganz anders.Ich lebte mit einer Frau zusammen; diese Beziehung war nicht glücklich, aber trotzdem oder gerade deswegen sehr sexbetont. Ich hatte zum Teil und in moderatem Ausmaß auch zu meinen alten Gewohnheiten „zurückgefunden“ und trank wieder gelegentlich, also für österreichische Verhältnisse „normal“. Allerdings war ich vom „wohldosierten Umgang mit der Welt“ weiter entfernt denn je.

Da startete ich über die Makrobiotik eine neue asketische Phase. Ich aß weniger, konzentriert kaute ich jeden Bissen mindestens dreißig Mal, in Stille und Versenkung. Das war ein gutes Gefühl! Ich fastete wieder – nur nicht beim Sex. Besonders liebte ich das Reisfasten; man aß dabei nur Vollkornreis ohne irgendwelche Zutaten, auch ohne Salz, über einen Zeitraum von zirka zwei, drei Wochen. Man ißt soviel, daß man satt, aber noch nicht voll ist. Die Entgiftung war deutlich bemerkbar.
Ich arbeitete damals, ungefähr 1979/80 in einem der neu aufkommenden Bioläden und meine sensorische Wahrnehmung war nie so scharf und sensibel wie damals beim Reisfasten. Wie all die Äpfel, das Sauerkraut, das Gemüse und Obst, der Käse und so weiter im Geschäft dufteten! Aber ich beherrschte mich und als ich am Ende der Kur wieder langsam Gemüse, Salz, Öl zum Reis gab, schmeckte alles sehr stark und eindringlich und ich genoß das Essen sehr intensiv.

Was aber am Anfang als ein Regenerations- und Gesundungstraining begann, wurde fast eine Sucht. Ich liebte es, dünn zu sein und diese Leichtigkeit, mit der ich alle Stiegen hinaufrannte, die Beherrschtheit beim Essen, die meditative Grundhaltung.
Ich glaube, in dieser Zeit war ich phasenweise schon sehr dünn, unter fünfzig Kilogramm.

Ungefähr sechszehn, siebzehn Jahre später erlebte ich meine dritten mageren Jahre, oder vielleicht nur Monate.
Ich lebte in meiner meist ungeheizten Einsiedelei mitten in der Stadt und studierte wieder Theologie, merkte aber, daß ich nicht mehr zur katholischen Kirche zurückfinden werde. Noch jahrelang versuchte ich es immer wieder, aber wie mir schon damals klar war – vergeblich. Ich konnte mich trotz aller Anstrengungen nicht auf katholisch hinbiegen. Verzweifelt versuchte ich es immer wieder, verbrannte alle meine Bilder und Zeichnungen, ich gab nicht auf, schließlich hatte mir der Astrologe Döbereiner gesagt, daß ich dort hingehöre und dort auch Beruf, Einkommen und Anerkennung finden würde. 1995 oder 96 war es klar, wollte es nur nicht wahrhaben, aber dennoch konnte ich meine Enttäuschung nicht mehr wirklich wegschieben.

In dieser Zeit fing ich eine Affaire mit einer verheirateten Frau an.
Etwa fünfzehn Jahre vorher hatte ich mit ihr meinen „ersten Durchgang“. Damals war ich selber in einer Partnerschaft, und damals schon war die Affaire wild und exzessiv und ich löste damit in meinem Umfeld einiges an Wahnsinn aus. Ich geriet klassisch zwischen die zwei Frauen und wußte selber nicht mehr, was ich fühlte oder wollte und als meine Lebengefährtin Schluß machte und ich mit meiner „Affaire“ einen kleinen Streit hatte, machte ich auch gleich mit ihr Schluß, denn ich war verwirrt und verstand nur mehr Bahnhof.
Ich fuhr weg und als ich zurückkehrte, holte mich meine Ex-Lebensgefährtin tatsächlich vom Bahnhof ab weil sie es sich anders überlegt hatte und wir nahmen die Beziehung wieder auf und schleppten sie mehr schlecht als recht noch ein paar Jahre weiter, bis ich dann Schluß machte.

Jetzt, fünfzehn Jahre später, lebte ich- wie schon gesagt – als „Einsiedler“, der verzweifelt zur Kirche finden wollte. Aber ich konnte und wollte alle meine Erfahrungen und Erkenntnisse nicht für ungültig erklären.
Und da begann ich meinen „zweiten Durchgang“ mit jener verheirateten Frau. Ich spielte in der Anbandelungsphase herum, obwohl ich zunächst gar nicht so recht wollte. Aber ich wußte, wenn ich mich darauf einlasse, dann wird das eine sexuell intensive Angelegenheit, aber auch, daß ich dann leiden werde. Das Abenteuer reizte mich sehr und schließlich sagte ich: „Machen wir uns einen schönen Sommer!“ Ein Teil von mir wollte immer noch nicht, aber schließlich gab er nach und der Teil, der wollte – ich vermute, es war das Ego – setzte sich durch und es wurde wieder eine Wahnsinnsaffaire.

Wir gingen auch aus, machten Ausflüge und Wanderungen, gingen schwimmen, in Konzerte, aber letztlich trafen wir uns doch zum Sex und wir vögelten wie die Verrückten. Ich erlebte Zustände des irdischen, sexuellen Glücks, wie ich sie für nicht möglich gehalten hatte. Es war der „erste Durchgang“ schon voller Leidenschaft und Wildheit, aber dieser „zweite Durchgang“ übertraf alles bisher Gekannte. Es gab Momente, da zerflossen wir regelrecht ineinander und ich spürte unsere Energien sich vermischen, ich nahm sie als energetische Vibrationen wahr. Es gab auch Momente, wo ich mich - wie plötzlich aufgewacht - fragte: „was mache ich hier eigentlich?“, aber diese waren selten.
Ich erinnere mich noch, daß ich sie einmal, nachdem wir ein paar Stunden im sexuellen Rausch verbracht hatten, noch ein Stück nach Hause begleitete, und wir, die wir uns nicht recht trennen wollten, gingen noch in irgendein Giftlerlokal, das noch offen hatte und Musik spielte, und wir tanzten dort, und obwohl sich dort auch ein Ex-Gespiele von ihr aufhielt, konnte ich die Welt vergessen und versinken lassen. Dieser Tanz mit ihr war das reine, irdische Glück und entschädigte mich vielfach für meine verhaute Jugend. Hier, mit ihr, durfte ich meine ganze Jugend neu erleben, als wäre alles neu und zum erstenmal. Verbunden mit bestimmten Liedern, mit bestimmter Musik....

Wie gesagt, es war das höchste irdische Glück, das ich bis dahin erlebt hatte, aber es blühte im Verborgenen. Nicht wegen ihrem Mann, der wußte von der Affaire, sondern weil mit mir kein Staat zu machen war. Ich war nicht mehr der aufstrebende, junge Künstler wie beim ersten Durchgang, sondern ein (beinah) geschlagener Mann, verzweifelt, was die eigene Zukunft betraf, schon mit Glatze, nicht so toll gekleidet, da verarmt, sozial ungeschickt, am Abgrund des Scheiterns.
Damit das nicht falsch verstanden wird: sie hatte mir sehr geholfen, zum Beispiel indem sie mir einen ordentlichen Ofen schenkte, mit dem ich gut und billig heizen konnte. Aber zum Herzeigen war ich nicht strahlend genug. Das war ich ja wirklich nicht – innerlich zerrissen, mit Windmühlen kämpfend. Ich war ihr Gespiele; als Partner war ich nicht ebenbürtig. Zwischen uns ging es hauptsächlich um Sex. Das ist alles kein Vorwurf! Genau mit dieser Perspektive hatte auch ich die Affaire begonnen.

Aber wie Nietzsche schreibt, und auch auf die Gefahr hin, daß ich den Satz aus dem Zusammenhang reiße: „Denn jede Lust will Ewigkeit-, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Eine Ehe mit ihr konnte ich mir in keiner Phase vorstellen, nur einmal, als eine mögliche Schwangerschaft im Raum stand, dachte ich, vielleicht ist irgendein Dreierarrangement möglich.
Aber etwas in mir wurde im Laufe dieser Affaire, die fast zwei Jahre dauerte, immer unglücklicher. Am Anfang nur das Warten, wann sie kommt. Ruft sie heute an? Was macht sie jetzt? Wo ist sie jetzt? Dann aber versuchte ich sie festzuhalten und das, was vorher leicht war, wurde immer schwerer. Zuerst nur in der Zeit zwischen unseren Treffen, dann auch allmählich unsere Begegnungen selber. Jetzt war aus der Leidenschaft Leiden geworden.

Da begann ich wieder zu fasten, noch dazu, wo ich wußte, wie sie sehr auf „knöcherne“ Typen stand. Trotzdem ging es dabei um mehr als um Gefallen-Wollen. Ein Teil von mir wollte aus dieser Beziehung raus, während der andere nicht loslassen wollte.
Aber dieses Fasten entwickelte sich schnell zum Selbstläufer und zog sich über das Ende der Affaire hinaus. Und diesmal war ich wirklich magersüchtig. Beim Besuch einer Sauna, wo es eine Waage gab, die einen „anredete“, sagte mir diese, als ich mich abwog: „Gehen Sie sofort zum Arzt!“
Ich dachte nicht daran, mich dieser von mir verachteten Zunft auszuliefern und aß weiter nur wenig. Wie lange ich diese extreme Disziplin durchhielt, weiß ich nicht mehr. Aber weiterhin ging ich wieder alleine tanzen, wanderte viel herum, fühlte mich glücklich, wenn ich leicht und unbeschwert die Markwardstiege in einem durch hinauflief, bei meinen unzähligen Wanderungen um Wien.

Ich litt immer mehr in dieser Affaire. Ich litt wie ein Hund und wir stritten immer öfter und schließlich machte ich Schluß, wahrscheinlich ihr dabei knapp zuvor kommend. Auch nach diesem Schlußstrich litt ich noch längere Zeit, in diesem Schmerz aber fühlte und erlebte ich alles sehr stark. (Und übrigens: danke!) Schließlich war ich wieder bereit, richtig zuzunehmen und auf Erden zu landen. Ich konzentrierte mich darauf, mein Studium wirklich abzuschließen, meine Diplomarbeit zu schreiben, wobei ich es erst zu Ende bringen konnte, als mir klar war, daß mir das Studium beruflich nichts, aber auch schon gar nichts nützen wird. Dann erst konnte ich es fertigmachen.

Und ich faßte den Entschluß, mich nur mehr dann auf eine Beziehung einzulassen, wenn alles möglich ist, auch Ehe und Kinder.



©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 20. März 2015

100 Aktion Wetzawinkel


Es war 1976. Ein guter Freund von mir, Hannes Priesch, studierte an der Kunstakademie in Wien bei Max Weiler Malerei.
Im Sommer war er bei den Internationalen Malerwochen in der Steiermark, die in den Sommerferien in der Landwirtschaftsschule Wetzawinkel bei Gleisdorf stattfanden, eingeladen.
In dieser Schule gab es ein Wandbild von Hubert Tuttner, „das Gedeihen“, auf dem ein bäuerliches Paar kniend dargestellt war, ein blühendes Bäumchen zwischen ihnen, Gottes Hände über der Szene.

Ob stärker politisch oder nicht, im Zeitgeist, auch in der Kunstszene, herrschte ein rebellischer Grundton und so war dieses Wandbild von den Teilnehmern der Malerwochen – in Erinnerung habe ich Alfred Klinkan, Wolfgang Flatz – Anfeindungen ausgesetzt. Es wurde als unmöglich angesehen.

Ende September, Anfang Oktober kam Hannes mich in der „wilden Kommune von Geidorf“ besuchen und redete davon, daß er etwas gegen das Wandbild in Wetzawinkel unternehmen wolle, denn es sei unerträglich. Schließlich habe er ja fünf Wochen unter diesem Bild dort gelebt.
Ob am gleichen Tag oder später weiß ich nicht mehr, jedenfalls erklärte mir Hannes, daß er vorhabe, das Wandbild zu übermalen und fragte mich, ob ich bereit sei, dabei mitzumachen.

Mir hatte die Radikalität von Hannes damals gefallen. Das war etwas Mitreißendes für mich, sein bestimmendes Auftreten beeindruckte mich. Irgendwann zum Beispiel erzählte ich ihm etwas über meinen Vater, vermutlich etwas Entschuldigendes, und seine Antwort beeindruckte mich sehr: „diese Generation unserer Väter mit dem Krieg und so, das ist eine richtige Verhaugeneration!“ Ich bewunderte seinen Mut und seine Selbstsicherheit, mit der er das Urteil unserer Väter über uns einfach umdrehen konnte, während auf mir noch immer deren Verurteilungen lasteten. Das habe ich als befreiend erlebt; ich konnte aufatmen. Er gab mir die Sicherheit, die mir fehlte.

Als Hannes noch in Graz lebte, besuchte ich ihn gern in seinem schwarz ausgemalten Zimmer, wir redeten über Gott und die Welt, er besaß „Thick as a Brick“ von Jethro Tull, die ich ihn fast bei jedem Besuch bat, anhören zu dürfen. Manchmal saß ich nur schweigend da und lauschte der Musik. Wir bildeten damals zusammen mit Alois Neuhold und Martin Brandtner die unabhängige Gruppe „Grünkreis“, die sich gegen die ersatzlose Streichung des Paragraphen 144 einsetzte, der damals die Abtreibung verbot und abgeschafft werden sollte. Uns schwebte irgendwas vor wie Straffreiheit, aber ohne die Abtreibung als solche einfach freizugeben. So genau wußten wir auch nicht, wie so ein Gesetz gestaltet werden kann, aber wir wollten unser Unbehagen artikulieren. (Ich selber war mir aber auch in diesem Engagement nicht ganz sicher gewesen, ich wußte damals noch nicht, daß auch meine Mutter abgetrieben hatte, aber unbewußt werde ich gespürt haben, daß mir die Problematik näher war, als ich es mir bewußt machen konnte.) Das war etwa so 1974, wir waren „popmäßig“ unterwegs, mit langen Haaren und von unserem Aussehen her wurden wir eher der anderen Seite zugerechnet. Wir investierten viel Zeit und viel von unserem Geld in diese Aktion – ich kann sagen, daß ich damit meinem Studium den ersten Todesstoß versetzte und mein ganzes Geld hergeben hatte – und bald gab es ziemliche Spannungen in der Gruppe, wo es hauptsächlich um Entscheidungsfindungen und Abmachungen ging – oder darum, wer dominiert. Mein Problem war nicht das Dominieren – ich habe immer gerne die Assistentenrolle eingenommen – sondern wem von den Kontrahenten ich folgen will. Wir arbeiteten wirklich praktisch Tag und Nacht, sicher viel Zeit in sinnlosen Diskussionen und Aktionen verplempernd, und unter diesen Spannungen verlief unser Engagement auch bald im Sand und Hannes übersiedelte nach Wien, um bei Weiler zu studieren während ich aufgehört hatte, Vorlesungen zu besuchen und anfing, mich in der Mensa den Linken zu nähern. Das als kleiner Einblick in unsere Welt.

Also jetzt, im Herbst 1976 fragte mich Hannes, ob ich bei seiner Wetzawinkler Aktion mitmachen wolle. Ich hatte noch nie etwas mit Kunst zu tun und so zögerte ich. Hannes betonte, daß ich natürlich ein Künstler sei und er froh wäre, wenn ich dabei bin, aber auch, daß seine Aktion nicht von meiner Teilnahme abhängig sei, sondern er sie auch alleine durchziehen würde.

Nachdem ich meine Rolle eher als dokumentierend, assistierend definiert hatte, sagte ich zu. Noch hatte ich Bedenken wegen meiner linken Genossen – Kunstaktion? Ist das überhaupt was G'scheites? Ich befürchtete solche Reaktionen, aber beruhigte mich, schließlich konnte ich diese Übermalung als „antifaschistisch“ deklarieren, noch dazu als gegen den „Klerikofaschismus“ gerichtet, das geht sicher durch. Hannes brauchte keine solchen Polit-Rechtfertigungen, er war sich aus seinem Kunst- und Menschenverständnis heraus sicher.
Ich erlebte es als etwas Tolles, mich letztlich über alle Bedenken, auch meine eigenen, einfach hinwegzusetzen.

Wir beide vereinbarten strikte Geheimhaltung, auch den Mitbewohnern in der WG gegenüber, die sich wunderten und fragten, was wir da vorhaben könnten. Wir begannen mit den Vorbereitungen und besorgten Farben, Pinsel, Gips, Spachteln, Hammer, Stemmeisen, sonstiges Werkzeug, Schnüre und Spagate, Speck, Brot, eine Siebenzehntel-Flasche Wein, Kassettenrekorder, Musikkassetten, Papier und Schreibzeug und... ich weiß nicht mehr was alles. Wir verstauten alles in Reisetaschen.

Aufgeregt und gefaßt gleichzeitig nahmen wir den letzten Bus nach Wetzawinkel. Wir stiegen aus, wir gingen mit unseren Reisetaschen zur Schule und suchten eine offene Tür. Wir waren erleichtert, als wir eine offene Tür fanden, sonst hätten wir eine einschlagen müssen. Wir gingen hinein, machten die Vorhänge zu, drehten das Licht auf, bereiteten alles vor, breiteten uns aus, stärkten uns, drehten die Musik auf und nahmen so Anlauf für unsere Aktion. Damit es kein Mißverständnis gibt: das war keine besoffene Aktion, wir tranken gemeinsam die Siebenzehntelliter-Flasche Wein im Laufe der ganzen Nacht aus.

Im Protokoll liest sich das so (ich gebe genau die Vorlage wieder):

Graz/Gleisdorf         5.10.76
PROTOKOLL ZUR AKTION WETZAWINKEL
===================================

Hannes Priesch, Teilnehmer der 11. Internationalen Malerwochen der Steiermark, wohnte 5 Wochen in der landwirtschaftlichen Schule Wetzawinkel.

Über dieses Haus: Der Geist, der diesem Haus ausströmt (Architektur), manifestiert sich in dem Wandbild (besser: Wand-“bild“ - Fresko). Eine sterile, fantasielose „Ordnung“ schränkt jede Kreativität ein und macht den Menschen, der darin wohnt, zu einem „Sklaven des Hauses“, denn er kann den Gängen, dem Gong, der automatischen Entlüftung, der einschränkenden Sauberkeit (man hat Angst, Schmutz zu machen) nicht entrinnen.
Peter Rumpf, befreundet mit ersterem, erklärte sich nach Anhören der Argumente bereit, an der geplanten Aktion teilzunehmen. Wir besprachen unsere Arbeit: Hannes wird in erster Linie aus dem Wand-“bild“ ein Wandbild machen, Peter in erster Linie Raumgestaltung, Dokumentation und Protokoll übernehmen.

Das Haus ist ein Objekt des Landes Steiermark,, den Auftrag für das Wand-“bild“ hat also das Land Steiermark erteilt.


ABLAUF DER AKTION

Schwer beladen schleppen wir uns durch Graz: 18,30 Uhr
Einstieg in den Autobus: 20,30 Uhr.
In der Zwischenzeit letzte Vorbereitungen.
Aussteigen in Wetzawinkel: ca 21,25 Uhr
Das Haus durch die offenstehende Türe im Fernsehraum um 21,35 uhr betreten.
Marsch durch den langen Gang: 21,35 – 21,40 Uhr
Wir verdunkeln das Haus. Gong, Wegschieben der Blumen vom Wand-“bild“, umkleiden. Wir machen es uns bequem, Tische werden verschoben, die Jause ausgepackt. Kerzen werden angezündet.
Wir beginnen zuerst den bisherigen Verlauf zu protokolieren, dann zu essen: 22,21 Uhr. Salz vom Land Steiermark ausgeborgt: Essen als Kunst. Fotographische Vorbereitungen. Fotographieren.

MALBEGINN: 23,13 Uhr

Ebenso Beginn der Raumgestaltung. Weiters Stemm und Gipsarbeiten.

MALKUNST – STEMMKUNST (Stukturierung) – SCHNUR / SPANN / RAUMKUNST – ESSKUNST – GIPSKUNST _ FOTOGRAPHIERKUNST .
    6. 10. 1976

o,59 Uhr bis 1,20 Kaffeepause.

Die Arbeit geht weiter! Uns wird bewußt, daß Kreativität sich in allen Lebensbereichen zeigen muß.
3,03 Uhr Schenkungsurkunde an das Land Steiermark fertiggestellt.
3,20 Uhr Wandbild fertiggestellt.
3,30 – 3,35 Verhängen von Fotos mit Klopapier.
3,40 Uhr Zeitungspapier verstreut, dann zu einem a gelegt.
Für Reinigungsarbeiten (an das Personal) hinterlassen wir in einem wießen Kuvert 500 (Fünfhundert) Schilling, und befestigen es an de Türe zum Speisesaal.
3,46 beschließen wir das Protokoll.

DIE MOTIVATION ZU DIESER AKTION IST AUSSCHLIESSLICH IN UNSERER
LEBENSBEJAHENDEN HALTUNG ZU SUCHEN.

(Ende des Protokolls; mit allen Fehlern wiedergegeben)

Diese Aktion war in unserem Selbstverständnis also eine positive, lebensbejahende Tat. Wir verfaßten auch eine Schenkungsurkunde an des Land Steiermark, in der wir unser Werk dem Land Steiermark schenkten und übereigneten und das wir beide mit unseren echten Namen unterschrieben. Ob wir tatsächlich eine kleine Reiseschreibmaschine mit hatten und auch das Protokoll unserer Aktion schon dort unterschrieben hinterlegt haben, weiß ich nicht mehr sicher, ich glaube schon.

Aber als wir am frühen Morgen dann mit unseren Reisetaschen im ersten Pendlerzug von Gleisdorf nach Graz fuhren, und wir – müde, aber euphorisch aus unserer Kunstaktionsarbeit kommend – dem „normalen“ arbeitenden Volk begegneten, das sich still vor sich hin sinnierend oder durch Scherze und Geplauder aufputschend dem kommenden Arbeitstag zu stellen versuchte, da wurde uns kurz etwas mulmig bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn die wüßten, was wir gerade gemacht hatten.

Die Aktion wurde vom Land Steiermark lange geheim gehalten und zu vertuschen versucht, weil die Landesregierung und einige der Kunstzuständigen um den bereits schon stark angefeindeten Steierischen Herbst fürchteten, bis sie doch durchsickerte und die Medien Wind davon bekamen. Unsere Aktion hat in und um Gleisdorf mehrheitlich Entsetzten und Abscheu ausgelöst – viele kannten ja Prof. Mag. Art. Hubert Tuttner, der in der Region lebte, persönlich – und so hat zum Beispiel die Putzfrau unsere ihr für den Mehraufwand an Arbeit zugedachten Fünfhundert Schilling nicht angenommen.

Wir selber haben nach unserer Aktion nichts getan, um sie bekannt zu machen oder sie zu propagieren, im Gegenteil, wir sind nach unserer Tat sozusagen vom Geschehen zurückgetreten und haben den Dingen ihren Lauf gelassen. Nur in unserem persönlichen Umfeld, meinen WG-Genossen etwa, erzählten wir davon.
Dann war es in den Medien, die Zeitungen schrieben darüber. Nebenbei erzählt: meiner Mutter bereitete ich damit den Schock ihres Lebens. Die Nachbarin sagte ihr, daß über Peter etwas in der Zeitung steht, das sie es aber nicht ganz versteht, und meine Mutter ging stolz zu ihr, das anzuschauen, in ihrer Phantasie sich etwas Tolles ausmalend, und war geschockt, von einem Verbrechen zu lesen. Wahrscheinlich war das dann erst der Artikel über den Prozeß. Sie hat das, was sie da jetzt durchmachen mußte, verglichen mit der Situation, als ihr bewunderter älterer Bruder „nach dem Krieg“ als Nazitäter im Gefängnis war.

Von unserer Aktion wurde nur in den steirischen Medien berichtet. Ein Galerist bot Hannes sofort seine Zusammenarbeit an, aber Hannes lehnte ab. Wir waren Idealisten und wollten keinen Gewinn daraus ziehen, wie uns manche Medien unterstellten. Also in dem Punkt war unsere Aktion unverdorben, wenn auch durch ihre Definition als Kunstaktion nicht als „normale“ kriminelle Handlung angesehen. Das war sie auch nicht.

Prof. Wilfried Skreiner, damals Universitätsprofessor und Leiter der Neuen Galerie am Landesmuseum in Graz, Mitglied des Kuratoriums bzw. des Direktoriums des steirischen herbstes, also eine gewichtige Stimme in der steirischen Kunstszene, hatte ein Gutachten oder Statement abgegeben, daß das neue Bild besser sei als das vorherige.

Vor Gericht kam ich dann gehörig ins Schwimmen und außer dem Satz „Die Atmosphäre dieser Aktion war irrsinnig klaß!“ brachte ich nicht viel heraus. Was auch? Es war ja klar, daß das eine Straftat war.
Unser Rechtsanwalt wollte noch den Vergleich anstellen, unsere Aktion sei so, wie wenn einer beim Auto eines anderen heimlich in der Nacht dessen abgefahrene Reifen gegen neue austauscht. Hannes hat noch die Überlegung eingebracht – ob vor Gericht oder in den unzähligen Diskussionen in unserem Umfeld weiß ich nicht mehr – daß alle Paradigmenwechsel in der Geschichte der Kunst, zum Beispiel von der Gotik zur Renaissance, mit Überarbeitungen einhergingen, besonders im öffentlichen Raum.

Wir wurden zu einer Strafe von hundert Tagessätzen und zur Zahlung von 100.000,- Schilling plus 4% Zinsen und Prozeßkosten zur ungeteilten Hand verurteilt. Wobei ironischerweise das geschädigte Land Steiermark zum Teil Bilder von Hannes als Bezahlung annahm. Aber auch in Schilling hatten wir einiges zu bezahlen.

Während des Prozeßes haben wir versucht, unsere Aktion einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen und auch in österreichweiten Medien publik zu machen, wie dachten da zum Beispiel an das Neue Forum, aber als wir damit bei Nenning aufkreuzten, konnte der mit so einer Kunstaktion nichts anfangen – ich hatte den Eindruck, die Linken konnten überhaupt nichts wahrnehmen oder auf etwas einsteigen, was nicht mit eindeutigen Politetikettierungen beschriftet war, unsere Aktion war für sie zu künstlerisch, zu „poetisch“, wenn ich das so sagen darf, und hatte in der Provinz stattgefunden.
Hannes machte noch den Vorschlag, dieses unser Bild zur weiteren Überarbeitung – etwa durch die Bewohner des Internats der Schule – freizugeben, aber nachdem das Wandbild jahrelang verhängt war, wurde es entfernt und meines Wissens einfach die weiße Wand belassen.

Interessant auch die Geschichte meiner ersten Einvernahme, die ich hier noch nachtragen will.
Ich war ins Polizeikommissariat Paulustorgasse in Graz bestellt und der Gendarm aus Gleisdorf, der mich einvernehmen sollte, war noch nicht da. Er verspätete sich und ich wartete dort lange, bis er endlich hereinkam. Er war tatsächlich mit dem Moped von Gleisdorf nach Graz gefahren und es gab dabei irgendwelche technischen Probleme mit dem Moped.
Der Polizist, der hier residierte, machte sich sogleich über den Gendarmen und sein Fahrzeug lustig. Vor mir stichelte er arrogant aus seiner überlegenen Position als Stadtpolizist gegen den Gendarmen vom Land. Mir war das unangenehm und ich übersah die Bloßstellung, grinste nicht, lachte nicht und ich glaube, der Gendarm war mir dafür dankbar.
Als sich der Gendarm an mich wandte und sich für die Verspätung entschuldigte, ließ ich mir nicht anmerken, was ich gerade miterlebt hatte, und war – genauso wie er – sehr höflich.

Die Einvernahme verlief fair. Ich wollte ja auch nichts verbergen und stand zu meiner Tat. Der Gendarm erzählte mir, daß sie lange nicht gewußt haben, wer ich sei. Zwar hatte auch ich die Schenkungsurkunde an des Land Steiermark mit vollem Namen unterschrieben, aber in der Kunstszene war ich unbekannt und so wurde vermutet, es verberge sich ein anderer Teilnehmer der Malerwochen hinter diesem Namen, etwa Wolfgang Flatz, der von jemandem aus der Szene - in der Vermutung, das sei sein Pseudonym - als Herr Rumpf angesprochen wurde. Also suchten sie lange in der falschen Ecke. Ich sagte noch: „wenn ich das bedacht hätte, hätte ich Adresse und Geburtsdatum dazu geschrieben!“

In diesem Spannungsfeld Demut bis zur Unterwürfigkeit, hinter der sich aber auch echte Sensibilität verbarg, einerseits, und an Hannes Priesch angelehntem Größenwahn andererseits stand ich damals.

Und heute? Wie denke ich heute über unsere Aktion?
Das ist für mich gar nicht so leicht zu sagen. Es hat Zeiten gegeben, wo ich sie eindeutig bereut habe. Jetzt im Moment ist das nicht so klar. Sicher, ich würde das nicht mehr machen, aber als Erfahrung will ich dieses Erlebnis nicht aufgeben. (Wie sich die Kriegsgeneration ihre Erlebnisse nicht in Frage stellen lassen will?)
Wenn ich das Protokoll lese, fällt mir auf, wieviel „Amtssprache“ darin enthalten ist; das war zwar auch Ironie, aber versteckt sich hinter Ironie nicht oft etwas Verleugnetes? Das Protokollschreiben hatte mir Sicherheit gegeben in meiner Unsicherheit, wie bei einem jeden Bürokraten. Und die gefährlichen Seiten des „Idealismus“ sind hinreichend beschrieben, unter welcher Flagge er auch immer auftritt.
Wenn ich von unserer Aktion erzählt habe, dann manchmal mit Lachen und Kopfschütteln, nicht ohne Stolz, mich das getraut zu haben, Zustimmung erheischend, wie über einen Jugendstreich (oder doch  wie unsere Vätergeneration über ihre Jugenderlebnisse im Krieg?), dann wieder wie von einer starken, „klaßen“, berechtigten, fortschrittlichen Tat.
Ich glaube nicht, daß das die Tat eines freien Mannes war, höchstens eines jungen, schüchternen Menschen, der sich von seiner Bedrückung befreien will. Und nochmals, heute würde ich das nicht mehr tun.
Übergriff bleibt Übergriff und es steckt Gewalt in dieser Aktion. Beinahe schlecht geworden ist mir, als ich jetzt beim Schreiben dieses Textes im Internet Hubert Tuttner recherchiert habe und auf Seiten gestoßen bin, wo von ihm erzählt wird, seine Bilder gezeigt werden, wo seine Tochter von ihrem Vater erzählt – ich glaube, da ist mir zum erstenmal wirklich nahegekommen, wie sehr wir einen konkreten Menschen verletzt haben. Deswegen wurde mir übel. Das spricht nicht gerade für unsere Aktion.

Das war aber nicht die letzte Aktion, die ich mit Hannes durchführte, die anderen waren jedoch nicht problematisch, aber das ist eine andere Geschichte.



©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 17. März 2015

99 Wie ich auf die Bücher Carlos Castanedas kam


Es war am Anfang des Jahres 1975, vor vierzig Jahren also. Ich habe schon oft hergeschrieben, welch ein unglücklicher, schüchterner, jungfräulicher Mann ich war. Im Kopf schon links und rebellisch trug ich lange Haare, Bart und wenn ich leicht angetrunken im Glockenspielkeller redete, agierte und lachte, konnte man oder frau nach einem oberflächlichen Blick schon glauben, einen normalen, aufgeweckten, nur mittelmäßig gestörten jungen Mann vor sich zu haben.

Da kam eines Abends eine schöne, junge Frau in den Glockenspielkeller und schaute sich um. Sie sprach mehrere Leute an und plötzlich, überraschend, stand sie vor mir und redete auch mich an.
Ich war wirklich überrascht. Die Frau war wirklich schön. Ihre langen, dunklen, gewellten Haare; ihr klares Gesicht; ihre schönen, ausdrucksstarken Augen; ihre hinreißende Figur – mehr schreibe ich nicht her. Ich hätte mich nie getraut, sie anzusprechen.

Sie redete mich an und erklärte mir, daß sie in ein paar Tagen oder einer Woche in den Semesterferien nach London trampen will und einen Reisepartner suche, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr zu fahren.
Etwas gezögert habe ich schon, beinahe hätte ich gesagt, „das kann ich mir nicht leisten!“ - oder habe ich es tatsächlich gesagt? Aber auf der anderen Seite: diese Chance sich entgehen lassen? Mich interessierte die Frau, nicht London. Obwohl ich schon Angst hatte, vor der schönen Frau und wie das wird. Und es hätte mir schon auffallen können: ich begleitete sie ein Stück des Weges, ein zweites Paar war auch noch dabei, und ich umarmte sie zum Abschied. Sie ließ sich die Umarmung gefallen, aber erwiderte sie nicht. Eigentlich eine deutliche Botschaft, aber tumb wie ich war, konnte ich das nicht richtig deuten. Ich hatte zur Reise „ja“ gesagt und machte mir Hoffnungen.

Also fuhren wir im Februar los. Schnell stellte sich heraus, welch unerfahrener, ängstlicher, introvertierter, weltfremder Mann ich war. Ich meine das jetzt einmal auf das Reisen bezogen – beim Autostoppen geht es ja auch darum, schlagfertig und flexibel zu sein, und die Chancen, die sich bieten, schnell und ohne Skrupel zu ergreifen, und daß man die besten Routen rausfindet, komische und ungute Fahrer erkennt und mit ihnen geschickt umgehen kann, viel redet, offen, neugierig, ja, weltgewandt ist.

Das war ich alles nicht und meine Reisepartnerin ärgerte sich oft über mich. Weil ich eine schlechte Route gegen ihre Bedenken durchgesetzt habe. Ich hatte nicht mitbekommen, daß ein neuer Autobahnabschnitt eröffnet worden und deswegen der Hauptverkehr von meiner vorgeschlagenen Route abgezogen war, obwohl ich mich als Kenner dieser Gegend ausgegeben hatte. So mußten wir uns mit dem lokalen Verkehr und dem Weiterkommen in kleinen Schrittchen begnügen. Oder meine schlechten Französischkenntnisse. Meine Begleiterin konnte nicht verstehen, wie man vier Jahre in der Schule Französisch lernen, aber dann nicht sprechen kann. Das ergab auch sinnlose Umwege in Frankreich und Belgien.
Und überhaupt: meine Schüchternheit, Introvertiertheit – auf so einer Reise eher hinderlich. Oft saß sie beim Fahrer vorne, und ich hinten.

Sogar mir war klar – mit dieser Dame wird sich nichts abspielen. Ich war ihr schon beim Reisen kein ebenbürtiger Partner. Die meiste Zeit verhielt ich mich wie ein gekränktes Kind und zog mich in mich zurück.
Wir übernachteten in Jugendherbergen und wo wir wann waren, weiß ich nicht mehr. Einmal sagte uns die Rezeptionsdame in einer Jugendherberge in Frankreich, daß wir ohne weiteres alleine zusammen in einem Raum schlafen könnten, was meine Begleiterin strikt ablehnte.

Irgendwann auf der Hinfahrt kamen wir an einem Haus vorbei und ein kleiner Hund bellte uns an. Meine Begleiterin redete auf den Hund in „Babysprache“ ein, streichelte ihn und spielte mit ihm.
Und das ist interessant: ich wußte ja schon, daß ich mich auf dieser Reise wieder unter der Kategorie „Versager“ abbuchen konnte, aber … ich bin politisch auf der richtigen Seite. Mein schwindliges politisches Engagement, die ersten, gerade erlernten marxistischen Stehsätze – zum Beispiel: „Liebe ist auch nur das Moos auf dem nackten Felsen der Ökonomie“ - gaben mir genug Arroganz, jetzt, in dieser Sache da mit diesem Hund, mich in meinem Inneren meiner Begleiterin gegenüber überlegen zu fühlen: was tut sie da so blöd mit diesem Hund herum! Sie muß es gespürt haben, denn sie sagte zu mir: „Hast du noch nie Castaneda gelesen? Da sieht man, daß auch Tiere eine Seele haben!“ Ich denke noch „so ein Schwachsinn!“ und Castaneda war bei mir als Kitschautor abgespeichert.

Irgendwann erreichten wir London. Überfahrt, das alles mußte sie checken. Ich erinnere mich noch an eine Grenzkontrolle in Belgien – sie wurde stundenlang durchsucht. Aber irgendwann erreichten wir London.
Wir wohnten in einem Jugendhotel. Sie blühte hier auf, sie genoß die Stadt, freundete sich mit einem jungen Mann – ich glaube aus Südamerika – an und durchkämmte mit ihm die Stadt. Das war ihre Welt: Mode, Popmusik, nette und interessante Leute kennenlernen, das bunte Leben. Ich machte bei ihren Touren trotz gelegentlicher Einladung nicht mit. Ich konnte es mir auch gar nicht so recht leisten. Mein Reisebudget war schon ziemlich aufgebraucht. Dennoch, hauptsächlich war ich noch immer beleidigt und bekam so von London nicht viel mit.
Nur, daß es Kentucky-fried-chicken-Buden gab; dann ein Lokal, in dem ich Bier trank und wo ich den ersten Mann sah, der sich als Frau kleidete und verhielt, er arbeitete dort an der Bar und redete im Kreise seiner Kolleginnen hauptsächlich von Mode, und wo ich draußen am Platz vor der Tür – das warme Bier nicht gewohnt und betrunken – mehrmals hinkotzte.
Ein Touristenphotograph übertölpelte mich noch und lockte mein beinah letztes Geld heraus – ich konnte gerade noch die bereits getätigte und bezahlte Bestellung zur Hälfte rückgängig machen. Anscheinend hatte er Mitleid mit mir und gab mir tatsächlich das halbe Geld zurück. So gibt es ein Photo von mir, aufgenommen an meinem 21. Geburtstag, wo ich in London mit verzweifeltem Blick auf der Straße stehe, mit langen Haaren und langem Bart, im Steiererjopperl, das ich damals unbedingt als regionale Variante des Maoanzuges ansehen und durchsetzen wollte.

Kurz vor der Abreise drohte meine Reisebegleiterin, alleine zurückzutrampen, mir war es schon egal, ich freundete mich mit dem Gedanken an, mich hier in London einfach untergehen zu lassen. Aber schließlich fuhren wir doch gemeinsam zurück.
Sie hatte einen Zug gecheckt, wo die Fahrkarte nicht viel teurer war als das Ticket für die Überfahrt auf der Fähre über den Kanal, und wenn wir noch ein bißchen drauflegten und uns die Karte gleich bis Aachen lösten, dann haben wir schon viel vom Weg hinter uns und Autostop-Reisezeit erspart.

Wir machten es so. Im Zug, der nach Wien fuhr und dort am Morgen des nächsten Tages ankam, saßen wir mit einer jungen Frau im Abteil und irgendwie muß ich wieder bei meiner Lieblingsbeschäftigung gewesen sein, nämlich reden, und so scherzte ich bereits wieder, es sei doch blöd, aus dem Zug nach Österreich in Aachen auszusteigen, wir sollten uns hier im Coupé verstecken und schwarz fahren. Da unter der einen Bank ist ein Platz und dort oben in der Gepäckablage, die sich über der Abteiltür befand, über dem Gang vor den Abteilen.

Es war so: ich hatte das nur im Scherz gesagt, es sollte ein „Witz“ sein, aber meine Begleiterin nahm den Vorschlag ernsthaft und dankbar an und ich hatte nicht den Mut, nein zu sagen.
Es war schon dunkel und ab Aachen versteckte sie sich unter der einen Bank – unter der anderen Bank befand sich eine Eisenverstrebung, deretwegen man den Platz nicht nutzen konnte. Und so legte ich mich oben in die Gepäckablage über dem Gang. Die Dame im Abteil, eine Deutsche, spielte mit und so zogen wir die Vorhänge auch am Fenster zu, damit sich mein Abbild nicht im Fenster spiegeln konnte und die deutsche Unterstützerin drehte das Licht ab.

Natürlich hatte ich Angst. Ich war schon beinahe eingeschlafen und meine linke Hand war schon etwas heruntergerutscht und befand sich jetzt ganz nahe beim Lichtschalter, als der Schaffner die Tür aufriss, grüßte, vielleicht wegen der jungen Dame ganz lässig das Licht aufdrehte, oder anmachte, nämlich ohne sich dabei zum Schalter umzudrehen, denn dann hätte er mich gesehen. So verspürte ich lediglich den Luftzug seiner Handbewegung und ich war mir sicher, jetzt bin ich ertappt. Nein, er sagte nichts. Knapp, ganz knapp!

Die nächste Herausforderung kam zu dem Zeitpunkt, als noch eine junge Dame ins Abteil kam. Sie merkte zunächst nichts. Unserer Supporterin im Abteil fiel jetzt die unangenehme Aufgabe zu, die Neue einzuweihen. Nach ein paar Minuten angespannter Stille sagte sie zur neu Dazugekommenen: „Schauen Sie bitte einmal da nach oben!“ und zeigte auf mich. „Oh!“, rief die Angesprochene aus und war gleich begeistert. Nachdem ihr alles erklärt worden war und ihr meine Begleiterin unter der Bank gezeigt wurde, spielte auch sie mit. Das war wichtig, denn unsere erste Unterstützerin verließ bald den Zug. Sie hatte mir noch ihre Adresse gegeben, mit der Bitte, ihr zu schreiben, wie das Ganze ausgegangen ist. Das tat ich und ich konnte ein wenig den Helden spielen. Mein Gott, wenn sie gewußt hätte, welch unfreiwilliger „Held“ ich war!

Abgesprochen war, daß wir vor der Grenze nach Österreich aussteigen, um der Grenzkontrolle im Zug zu entkommen. Der Wechsel zwischen sich vor dem Schaffner verstecken und vor dem Zoll alles auspacken schien auch meiner mutigen Begleiterin zu riskant.
Als wir in Regenburg blitzschnell alles zusammenpackten und aussteigen wollten, tanzte die ganze Zeit über der Schaffner vor unserer Abteiltür herum, gerade im letzten Augenblick vor der Abfahrt ging er weg und wir schafften es gerade noch auszusteigen.
Mir kam der Gedanke, daß er uns doch bemerkt hatte und uns noch etwas tratzen wollte, aber kann man das glauben, daß er uns schwarz fahren ließ? Jedenfalls nutze ich diesen nachdenklichen Moment um unseren beiden Unterstützerinnen im Zug zu danken. Danke! Und danke an den Schaffner! Und ich hänge gleich an: Danke auch an alle Autofahrer, die uns mitgenommen haben.

Jetzt, am Bahnhof in Regensburg, war es früher Morgen und noch dunkel. Wir warteten dort, bis es hell wird. Es gab noch eine Polizeikontrolle, die wir nur durch die Schlagfertigkeit meiner Begleiterin – eigentlich war ja ich ihr Begleiter – heil überstanden haben. Und eine weitere Polizeikontrolle in Österreich, weil wir mit Arabern, die Autos der Marke Mercedes in den Nahen Osten überstellten, mitfuhren, wo es kurze Probleme wegen meines bartlosen Paßphotos gab.

Irgendwann am Abend waren wir dann in Graz. Wir haben uns dann nie mehr gesehen.
Nur eine Genossin sprach mich einmal auf diese Reise an, weil der jüngere Bruder ihres Freundes, wenn ich mich richtig erinnere noch in der Oberstufe des Gymnasiums, mit dieser jungen Frau - ich glaube nach Indien - reisen wollte. Sie fragte mich, ob diese Frau weiß, was sie will und reiseerfahren ist. Nicht ohne Ironie – ich sollte ein Gutachten abgeben über Reisetüchtigkeit und Lebenstüchtigkeit dieser Frau! Ich sagte zu ihr: „Sie ist reiseerfahren und weiß was sie will. Sie kann mit außergewöhlichen Situationen gut umgehen und ist sehr selbstsicher. Du mußt dich um den kleinen Bruder deines Freundes keine Sorgen machen.“
Ich sagte das aber nicht so schön, wie ich es hergeschrieben habe, sondern ganz rot im Gesicht, stotternd, abgehackt und nicht in ganzen Sätzen, verlegen, schamvoll den Blicken ausweichend, denn die Geschichte war mir furchtbar peinlich.
Nur mit der Geschichte von der Schwarzfahrt von Aachen nach Regensburg ging ich öfters hausieren.

Einige Zeit später, bei einem Geplauder auf irgendeinem Fest oder Treffen, sagte ein älterer Medizinstudent, ein gebildeter, eloquenter, rationaler, aufgeklärter Mann, unserer Polittruppe nahestehend, aber von feinen Umgangsformen, zu dem ich wie zu einem Obergenossen aufblickte: „heute habe ich wiedereinmal im Castaneda gelesen,“ um dann ganz schwärmerisch hinzuzufügen, „schön! so schön!“ Seine Stimme bekam dabei etwas ganz Weiches, einen Tonfall, wie ich ihn bei strengen Linksrationalisten nicht erwartet hätte, und den ich mir gerade erst unter der Überschrift „ausmerzen meiner klerikaloiden und pfaffenhaften Verhaltensweisen und Ausdrucksformen“ abzugewöhnen versucht hatte.
Das passte für mich nicht zusammen, dieses Pop-London-Mädchen mit ihrer Castaneda Schwärmerei und der Obergenosse mit seiner. Dieser Widerspruch machte mich hellhörig und weckte meine Neugier und ich speicherte dies irgendwo im Hinterkopf ab.

1977 war ich dann auf einem Ferienalternativcamp am Edersee nahe Kassel. Ich kam da gerade in den Übergang vom RAF-freundlichen oder schon etwas kritischerem (Mescalero) Genossentum zur gerade aufkommenden alternativ-grünen Ideenwelt. Wir sammelten Kräuter, für die Sauna, für den Tee; wir sammelten Pilze – wobei ich getadelt wurde, weil ich die Pilze einfach herausriß und nicht abschnitt, wie es sich gehört, wenn man das Myzel schützen will. Also alles schon richtig Richtung grün.
Diesen Tadel konnte ich übrigens schwer wegstecken. Zum einen hörte ich zum erstenmal von dieser myzelschützenden Methode und zum anderen fühlte ich mich als Österreicher – bei allem linken Gerede - was Wandern, Berge, Natur und Schwammerlsuchen betrifft kompetenter als die „Deutschen“. Ja, soviel Pseudo-Bodenständigkeit, will sagen Rustikal-Auftrumpferei (jo, mir san ..!) mußte noch sein. Und nur widerwillig sah ich ein, daß Pilze abschneiden besser ist, als Pilze ausreißen. Letztlich nahm ich aber die Wende weg von der - was mich betrifft - linksradikalen Verbalkraftmeierei zum Müsli hin gerne an, es war mir schon längst nicht mehr alles geheuer.

Auf diesem Ferienalternativcamp lernte ich eine Frau kennen, alles noch ganz harmlos. Wir tauschten Adressen aus und blieben in Kontakt. Bevor sie mich nach Graz besuchen kam, trampte ich zu ihr nach Heidelberg und stieg den Steigerweg zu dem Haus, in dem ihre Wohngemeinschaft lebte, hinauf.

Das war nämlich so: was meine Frauengeschichten oder Nichtgeschichten betraf, hatte ich größte Angst vor den Männern, hier die Genossen. Denn gefiel sie ihnen, fürchtete ich, daß sie sie mir „wegnehmen“, gefiel sie ihnen nicht, daß sie mich verspotteten. Ja, so war's.

Also in Heidelberg. Sie war etwas irritiert, daß ich gegen unsere Absprache zu ihr gekommen bin, ich faselte etwas davon, sie zu überraschen vorgehabt zu haben. Sie war auch anderweitig „beschäftigt“, nämlich mit ihrem jungen Liebhaber und so hing ich oft herum in Cafes, schaute mir die Stadt an, stundenlang stand ich oben auf der Schloßruine und schaute sehnsuchtsvoll ins weite Land. Oder ich war in ihrem Zimmer, wenn sie bei ihrem Freund war, und da lag der zweite Band von Castaneda, „Eine andere Wirklichkeit“.
Eine andere Wirklichkeit suchte ich dringend, aber es war aus Langeweile und wegen der Erinnerung an diesen abgespeicherten Widerspruch im Hinterkopf, daß ich zu dem Büchlein griff und zu lesen begann. Und ich war schnell fasziniert. Wieder zu Hause in Graz kaufte ich alle Bücher von Carlos Castaneda, die es gab und las sie ergriffen. Und es rückte sich in mir etwas zurecht.

Was Heidelberg betrifft: wir fuhren dann mir ihrer Ente – unangenehm auch, daß ich keinen Führerschein hatte und nicht einmal ein paar Meter fahren konnte – nach Italien, das Lieblingsziel der Linken, die Toscana.
Nein, nein, nichts passierte, außer ein Abschied in Frust und Tränen bei ihr und in Frust und Stummheit bei mir. Aber dann auch Stolz, trotzdem einen ordentlichen Streit und eine ordentliche Trennung zustande gebracht zu haben. Bei so einem Unternehmen kommt der Charakter mit allem Drum und Dran – und mit allem, was fehlt - unweigerlich zum Vorschein, gegen alle Rhetorik, gegen alle Vorspiegelungen.

Es gibt oder gab da einen deutlichen Unterschied zwischen dem protestantischen Deutschland und dem katholischen Österreich, einfach in der Mentalität und in der Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit.
Ich tat mir nämlich bei deutschen Frauen meistens leichter; Bart, lange Haare und sonst alle Ingredienzien progressiver Weltauffassung, linke Rhetorik inklusive Wilhelm Reich. Eine deutsche Genossin konnte sich denken – treu ihrer lutherischen Schulung: sola scriptura – nur das Geschriebene gilt; oder auch noch das Gesprochene: „ja, klingt gut der Typ! Interessanter Mann.“
Eine Österreicherin – ob Genossin oder nicht – hörte die Worte wohl, aber sie lauschte auch zwischen die Zeilen – „die Stimme, hatte sie nicht etwas Unsicheres im Unterbau? Und wie er dasteht – schaut das nicht verlegen und unsicher aus? Nicht gerade sehr männlich. Und jetzt zögert er herum! Nein, lieber nicht. Wer weiß, was ich mir da einhandle.“ Und läßt die sich anbahnende Geschichte, wenn sie milde ist, sanft „auslaufen“. Das Achten auf das Nonverbale geschieht meistens gar nicht so bewußt; es wird auch unbewußt der unausgesprochene und nichtsprachliche Anteil der Wirklichkeit wahrzunehmen versucht.
Nicht so die deutschen „Freundinnen“, die nahmen mich beim progressiven Wort und wenn sie dann nach drei Tagen feststellten, daß es doch nicht so weit her ist mit mir und ich hinter meine Rhetorik zurückfalle, ja dann kam schon ungeschminkt und gnadenlos: „So 'ne kaputte Type wie du ist mir auch noch nie untergekommen!“

Ja, aber danke für den Castaneda! Alle drei, danke!


©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com