99 Wie ich auf die Bücher Carlos Castanedas kam
Es war so: ich hatte das nur im Scherz gesagt, es sollte ein „Witz“
sein, aber meine Begleiterin nahm den Vorschlag ernsthaft und dankbar an und
ich hatte nicht den Mut, nein zu sagen.
Es war schon dunkel und ab Aachen versteckte sie sich unter der einen
Bank – unter der anderen Bank befand sich eine Eisenverstrebung, deretwegen man
den Platz nicht nutzen konnte. Und so legte ich mich oben in die Gepäckablage
über dem Gang. Die Dame im Abteil, eine Deutsche, spielte mit und so zogen wir
die Vorhänge auch am Fenster zu, damit sich mein Abbild nicht im Fenster
spiegeln konnte und die deutsche Unterstützerin drehte das Licht ab.
Natürlich hatte ich Angst. Ich war schon beinahe eingeschlafen und meine
linke Hand war schon etwas heruntergerutscht und befand sich jetzt ganz nahe
beim Lichtschalter, als der Schaffner die Tür aufriss, grüßte, vielleicht wegen
der jungen Dame ganz lässig das Licht aufdrehte, oder anmachte, nämlich ohne
sich dabei zum Schalter umzudrehen, denn dann hätte er mich gesehen. So
verspürte ich lediglich den Luftzug seiner Handbewegung und ich war mir sicher,
jetzt bin ich ertappt. Nein, er sagte nichts. Knapp, ganz knapp!
Die nächste Herausforderung kam zu dem Zeitpunkt, als noch eine junge
Dame ins Abteil kam. Sie merkte zunächst nichts. Unserer Supporterin im Abteil
fiel jetzt die unangenehme Aufgabe zu, die Neue einzuweihen. Nach ein paar
Minuten angespannter Stille sagte sie zur neu Dazugekommenen: „Schauen Sie
bitte einmal da nach oben!“ und zeigte auf mich. „Oh!“, rief die Angesprochene
aus und war gleich begeistert. Nachdem ihr alles erklärt worden war und ihr
meine Begleiterin unter der Bank gezeigt wurde, spielte auch sie mit. Das war
wichtig, denn unsere erste Unterstützerin verließ bald den Zug. Sie hatte mir
noch ihre Adresse gegeben, mit der Bitte, ihr zu schreiben, wie das Ganze
ausgegangen ist. Das tat ich und ich konnte ein wenig den Helden spielen. Mein
Gott, wenn sie gewußt hätte, welch unfreiwilliger „Held“ ich war!
Abgesprochen war, daß wir vor der Grenze nach Österreich aussteigen, um
der Grenzkontrolle im Zug zu entkommen. Der Wechsel zwischen sich vor dem
Schaffner verstecken und vor dem Zoll alles auspacken schien auch meiner mutigen
Begleiterin zu riskant.
Als wir in Regenburg blitzschnell alles zusammenpackten und aussteigen
wollten, tanzte die ganze Zeit über der Schaffner vor unserer Abteiltür herum,
gerade im letzten Augenblick vor der Abfahrt ging er weg und wir schafften es gerade
noch auszusteigen.
Mir kam der Gedanke, daß er uns doch bemerkt hatte und uns noch etwas
tratzen wollte, aber kann man das glauben, daß er uns schwarz fahren ließ?
Jedenfalls nutze ich diesen nachdenklichen Moment um unseren beiden
Unterstützerinnen im Zug zu danken. Danke! Und danke an den Schaffner! Und ich
hänge gleich an: Danke auch an alle Autofahrer, die uns mitgenommen haben.
Jetzt, am Bahnhof in Regensburg, war es früher Morgen und noch dunkel.
Wir warteten dort, bis es hell wird. Es gab noch eine Polizeikontrolle, die wir
nur durch die Schlagfertigkeit meiner Begleiterin – eigentlich war ja ich ihr
Begleiter – heil überstanden haben. Und eine weitere Polizeikontrolle in
Österreich, weil wir mit Arabern, die Autos der Marke Mercedes in den Nahen
Osten überstellten, mitfuhren, wo es kurze Probleme wegen meines bartlosen
Paßphotos gab.
Irgendwann am Abend waren wir dann in Graz. Wir haben uns dann nie mehr
gesehen.
Nur eine Genossin sprach mich einmal auf diese Reise an, weil der
jüngere Bruder ihres Freundes, wenn ich mich richtig erinnere noch in der
Oberstufe des Gymnasiums, mit dieser jungen Frau - ich glaube nach Indien -
reisen wollte. Sie fragte mich, ob diese Frau weiß, was sie will und
reiseerfahren ist. Nicht ohne Ironie – ich sollte ein
Gutachten abgeben über Reisetüchtigkeit und Lebenstüchtigkeit dieser Frau! Ich
sagte zu ihr: „Sie ist reiseerfahren und weiß was sie will. Sie kann mit
außergewöhlichen Situationen gut umgehen und ist sehr selbstsicher. Du mußt
dich um den kleinen Bruder deines Freundes keine Sorgen machen.“
Ich sagte das aber nicht so schön, wie ich es hergeschrieben habe,
sondern ganz rot im Gesicht, stotternd, abgehackt und nicht in ganzen Sätzen,
verlegen, schamvoll den Blicken ausweichend, denn die Geschichte war mir
furchtbar peinlich.
Nur mit der Geschichte von der Schwarzfahrt von Aachen nach Regensburg
ging ich öfters hausieren.
Einige Zeit später, bei einem Geplauder auf irgendeinem Fest oder
Treffen, sagte ein älterer Medizinstudent, ein gebildeter, eloquenter,
rationaler, aufgeklärter Mann, unserer Polittruppe nahestehend, aber von feinen
Umgangsformen, zu dem ich wie zu einem Obergenossen aufblickte: „heute habe ich
wiedereinmal im Castaneda gelesen,“ um dann ganz schwärmerisch hinzuzufügen,
„schön! so schön!“ Seine Stimme bekam dabei etwas ganz Weiches, einen Tonfall,
wie ich ihn bei strengen Linksrationalisten nicht erwartet hätte, und den ich
mir gerade erst unter der Überschrift „ausmerzen meiner klerikaloiden und
pfaffenhaften Verhaltensweisen und Ausdrucksformen“ abzugewöhnen versucht
hatte.
Das passte für mich nicht zusammen, dieses Pop-London-Mädchen mit ihrer
Castaneda Schwärmerei und der Obergenosse mit seiner. Dieser Widerspruch machte
mich hellhörig und weckte meine Neugier und ich speicherte dies irgendwo im
Hinterkopf ab.
1977 war ich dann auf einem Ferienalternativcamp am Edersee nahe Kassel.
Ich kam da gerade in den Übergang vom RAF-freundlichen oder schon etwas
kritischerem (Mescalero) Genossentum zur gerade aufkommenden alternativ-grünen
Ideenwelt. Wir sammelten Kräuter, für die Sauna, für den Tee; wir sammelten
Pilze – wobei ich getadelt wurde, weil ich die Pilze einfach herausriß und
nicht abschnitt, wie es sich gehört, wenn man das Myzel schützen will. Also
alles schon richtig Richtung grün.
Diesen Tadel konnte ich übrigens schwer wegstecken. Zum einen hörte ich
zum erstenmal von dieser myzelschützenden Methode und zum anderen fühlte ich
mich als Österreicher – bei allem linken Gerede - was Wandern, Berge, Natur und
Schwammerlsuchen betrifft kompetenter als die „Deutschen“. Ja, soviel
Pseudo-Bodenständigkeit, will sagen Rustikal-Auftrumpferei (jo, mir san ..!)
mußte noch sein. Und nur widerwillig sah ich ein, daß Pilze abschneiden besser
ist, als Pilze ausreißen. Letztlich nahm ich aber die Wende weg von der - was
mich betrifft - linksradikalen Verbalkraftmeierei zum Müsli hin gerne an, es
war mir schon längst nicht mehr alles geheuer.
Auf diesem Ferienalternativcamp lernte ich eine Frau kennen, alles noch
ganz harmlos. Wir tauschten Adressen aus und blieben in Kontakt. Bevor sie mich
nach Graz besuchen kam, trampte ich zu ihr nach Heidelberg und stieg den
Steigerweg zu dem Haus, in dem ihre Wohngemeinschaft lebte, hinauf.
Das war nämlich so: was meine Frauengeschichten oder Nichtgeschichten
betraf, hatte ich größte Angst vor den Männern, hier die Genossen. Denn gefiel
sie ihnen, fürchtete ich, daß sie sie mir „wegnehmen“, gefiel sie ihnen nicht,
daß sie mich verspotteten. Ja, so war's.
Also in Heidelberg. Sie war etwas irritiert, daß ich gegen unsere
Absprache zu ihr gekommen bin, ich faselte etwas davon, sie zu überraschen
vorgehabt zu haben. Sie war auch anderweitig „beschäftigt“, nämlich mit ihrem
jungen Liebhaber und so hing ich oft herum in Cafes, schaute mir die Stadt an,
stundenlang stand ich oben auf der Schloßruine und schaute sehnsuchtsvoll ins
weite Land. Oder ich war in ihrem Zimmer, wenn sie bei ihrem Freund war, und da
lag der zweite Band von Castaneda, „Eine andere Wirklichkeit“.
Eine andere Wirklichkeit suchte ich dringend, aber es war aus Langeweile
und wegen der Erinnerung an diesen abgespeicherten Widerspruch im Hinterkopf,
daß ich zu dem Büchlein griff und zu lesen begann. Und ich war schnell
fasziniert. Wieder zu Hause in Graz kaufte ich alle Bücher von Carlos
Castaneda, die es gab und las sie ergriffen. Und es rückte sich in mir etwas
zurecht.
Was Heidelberg betrifft: wir fuhren dann mir ihrer Ente – unangenehm
auch, daß ich keinen Führerschein hatte und nicht einmal ein paar Meter fahren
konnte – nach Italien, das Lieblingsziel der Linken, die Toscana.
Nein, nein, nichts passierte, außer ein Abschied in Frust und Tränen bei
ihr und in Frust und Stummheit bei mir. Aber dann auch Stolz, trotzdem einen
ordentlichen Streit und eine ordentliche Trennung zustande gebracht zu haben.
Bei so einem Unternehmen kommt der Charakter mit allem Drum und Dran – und mit
allem, was fehlt - unweigerlich zum Vorschein, gegen alle Rhetorik, gegen alle
Vorspiegelungen.
Es gibt oder gab da einen deutlichen Unterschied zwischen dem
protestantischen Deutschland und dem katholischen Österreich, einfach in der
Mentalität und in der Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit.
Ich tat mir nämlich bei deutschen Frauen meistens leichter; Bart, lange
Haare und sonst alle Ingredienzien progressiver Weltauffassung, linke Rhetorik
inklusive Wilhelm Reich. Eine deutsche Genossin konnte sich denken – treu ihrer
lutherischen Schulung: sola scriptura – nur das Geschriebene gilt; oder auch
noch das Gesprochene: „ja, klingt gut der Typ! Interessanter Mann.“
Eine Österreicherin – ob Genossin oder nicht – hörte die Worte wohl,
aber sie lauschte auch zwischen die Zeilen – „die Stimme, hatte sie nicht etwas
Unsicheres im Unterbau? Und wie er dasteht – schaut das nicht verlegen und
unsicher aus? Nicht gerade sehr männlich. Und jetzt zögert er herum! Nein,
lieber nicht. Wer weiß, was ich mir da einhandle.“ Und läßt die sich anbahnende
Geschichte, wenn sie milde ist, sanft „auslaufen“. Das Achten auf das
Nonverbale geschieht meistens gar nicht so bewußt; es wird auch unbewußt der
unausgesprochene und nichtsprachliche Anteil der Wirklichkeit wahrzunehmen
versucht.
Nicht so die deutschen „Freundinnen“, die nahmen mich beim progressiven
Wort und wenn sie dann nach drei Tagen feststellten, daß es doch nicht so weit
her ist mit mir und ich hinter meine Rhetorik zurückfalle, ja dann kam schon
ungeschminkt und gnadenlos: „So 'ne kaputte Type wie du ist mir auch noch nie
untergekommen!“
Ja, aber danke für den Castaneda! Alle drei, danke!
©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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