89 Mein ganz persönlicher Größenwahn
Ich bin in sehr kleinbürgerlichen
Verhältnissen aufgewachsen. Ich höre meine Mutter – Gott hab sie
selig – immer noch sagen: „Das können wir uns nicht leisten!“
Und es wird schon so gewesen sein. Wir tranken als Kinder
Zuckerwasser oder Marmeladewasser als „besonderes“ Getränk,
später dann sogar Verdünnsäfte, das billigste, Himbeer oder
Himbeerzitron. Gekaufte Fertiggetränke gab es nicht. Nur einmal
irrte sich meine Mutter – sie kaufte den neu aufgekommenen Capi –
Orangensaft in der Meinung, es wäre ein besonders günstiger
Verdünnsaft, so 1:7 zu verdünnen. Das schmeckte grauslich. Sie sah
ihren Irrtum ein, aber wir mußten ihn trotzdem 1:7 verdünnt
trinken, weil das sonst zu teuer gewesen wäre. Ich war immer sehr
gehorsam, da aber habe ich heimlich vom Orangensaft in ganz kleinen Schlucken getrunken, pur,
weil er so gut geschmeckt hatte; so etwas Gutes hatte ich noch nie
getrunken. Sie hat es gemerkt und mir auch vorgeworfen. Ich muß
heute noch lachend den Kopf schütteln, wenn ich daran denke.
Der Putterersee ist ein wunderschön
gelegener kleiner See bei uns in der Gegend. Er hat kalte und warme
Quellen, hinter dem Kulm schaut der Grimming hervor, am steilen
Puttererhügel grasen die Kühe und es gab eine tolle Badeanstalt.
Dorthin gingen wir im Sommer schwimmen.
Auch meine Mutter liebte das Schwimmen und den See und da leisteten
wir uns einen echten Luxus: eine Dauerkabine. Man zahlte einen
ordentlichen Betrag und hatte die ganze Badesaison über die Kabine
zur Verfügung, wo wir die Luxusgegenstände Campingbett und
Luftmatratze und den Alltagsgegenstand Liegedecke hinterlegen konnten
und nicht jedesmal nach Hause schleppen mußten. Im Ennstal können
Sommer auch kühl sein und es gab immer Diskussionen, ob sich die
Dauerkabine in diesem Jahr ausgezahlt hatte. Aber im Endeffekt hatten
wir die Kabine jedes Jahr.
Für mich war das bequem, denn ich
konnte nach der Schule für ein, zwei Stunden mit dem Rad zum See
fahren und nutzte das gern aus. Schwimmen liebte ich und es war der
einzige Sport, bei dem ich in der Schule mit den Guten mithalten
konnte. Manchmal hatte ich sogar gewonnen! (Der Wahrheit halber muß
ich sagen, daß einige gute Sportler in der Klasse Nichtschwimmer
waren, aber immerhin kämpfte ich meistens mit dem Greimel Max um den
ersten Platz, und der war ein guter Sportler.)
Ich war dreizehn Jahre alt, es wird
Juni oder Juli gewesen sein. Das Wetter war bewölkt, für einen heißen Badetag zu kühl, aber
trotzdem radelte ich zum Putterersee. Von unserer Familie war sonst
niemand schwimmen und es waren auch sonst nicht viele Badegäste dort
und so gab es viel Platz auf der Liegewiese. Deshalb breitete ich
mich entgegen meiner Gewohnheit sehr aus: die Liegedecke, daneben die
Luftmatratze UND das Campingbett – alles für mich allein.
Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl,
so etwas wie ein schlechtes Gewissen, mir so einen Luxus anzumaßen,
soviel Platz für mich zu beanspruchen, mich so auszubreiten.
Ich lag auf der Luftmatratze, dann auf
dem Campingbett, oder auf der Decke, abwechselnd, und ich hatte ein
mulmiges Gefühl, daß das Größenwahn sei und die Götter neidisch
werden könnten und mich bestrafen. Es sind meine heutigen Worte, mit
denen ich mein damaliges Unbehagen zu beschreiben versuche.
Ich lag gerade auf dem Campingbett, die
Frau des Volksschuldirektors nicht allzu weit weg, als mich ein Mann
– er hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Terence Hill –
ansprach und fragte, ob er sich auf die Luftmatratze legen dürfe.
Sein Akzent verriet, daß er Deutscher war. Unsere Gegend war bei den
Deutschen beliebt als Urlaubsziel und es gab auch eine Art
Tourismusfreundschaft mit der Coburger Region. Von dort kamen
Sommergäste autobusweise. Sie waren bei den Einheimischen auch viel
beliebter als zum Beispiel die Wiener. Das nur nebenbei.
Er fragte mich also, ob er sich auf die
Luftmatratze legen dürfe, Nein-Sagen hatte ich nie gelernt und so
nickte ich zustimmend, obwohl es mir komisch vorkam. Aber ich hatte
gegen seine Selbstverständlichkeit, mit der er sich an mich
heranmachte, nichts entgegenzusetzen. Ich fühlte mich nicht
selbstverständlich, ich fühlte mich meistens falsch. Er verwickelte
mich in ein Gespräch und fragte mich dann, ob ich „ihn schrubbe“.
Das ist ein Wort, daß wir in Österreich nicht verwendeten, er griff
mir dabei an die Badehose, an die Stelle zwischen den Beinen. Ich war
irritiert! Ich verstand das nicht. Ich wußte nicht, was das ist. Ich
hatte keine Ahnung, ich wußte nicht, daß es das gab. Und daß es
onanieren gibt, wußte ich auch nicht, aber das meinte er mit
„schrubben“. Ich schaute zur Frau Volksschuldirektor, sie schaute
auch her. Vielleicht war auch etwas Hilfesuchendes in meinem Blick,
aber sie drehte sich wieder weg.
Mir war es peinlich, daß ich wieder so
unbedarft und daneben war und nicht wußte, was „schrubben“ ist
und murmelte verlegen ein „Ja“. Darauf fragte er mich gierig, wie oft
und wann zum letzten Mal und ich lavierte verlegen und beschämt
herum mit meinen Antworten. Es ist nicht leicht, zu antworten, wenn
man nicht weiß, worum es geht, aber die Blöße verbergen will.
Ein Klassenkamerad ging vorbei, er
hatte schon zweimal „wiederholt“ und war daher zwei Jahre älter als
ich. Ich grüßte ihn – vielleicht war in meinem Blick auch etwas
Hilfesuchendes – er grüßte zurück und ging weiter. Mein neuer
„Freund“ machte eine leicht abfällige Bemerkung über dessen
bereits starke Körperbehaarung und sagte, daß der schon zu alt sei,
um ihn zu interessieren. Interessieren wofür? Interessieren für
was? Ich hatte keine Ahnung!
Natürlich war ich schon längst
alarmiert, von Anfang an, aber ich konnte es nicht zuordnen.
Irgendwas stimmte nicht, aber was? ICH stimmte wahrscheinlich nicht,
denn ich weiß nicht, was „schrubben“ ist und verstehe nicht,
wovon er redet, er aber redet und macht alles so selbstverständlich.
Er fragte mich, ob ich religiös sei
und wahrheitsgemäß sagte ich ja. Er plauderte irgendwas davon, daß
das in der Stadt nicht so sei wie hier am Land. Er lebe in der Stadt;
am Land, wie hier, sei alles wohl anders.
Ich weiß nicht mehr, was er sonst noch
alles redete, aber ich mußte schon dringend aufs Klo. Ich stand auf
und gleich fragte er mich, eindringlich, warum ich denn weggehen will
und wohin? Ich sagte, „ich muß aufs Klo“. Da wollte er mich begleiten und sofort ging er einfach mit. Er wollte unbedingt mit in die Kabine und mit
aller Kraft versuchte ich, ihn hinauszudrängen und sagte: „ich muß
wirklich scheißen!“ Er nahm mir das Versprechen ab, ihn hinterher
wieder reinzulassen, ließ von mir ab und zappelte draußen im
Pissoirbereich auf und ab.
Als ich fertig war öffnete ich die Tür
und ließ ihn ohne nennenswerte Gegenwehr herein. Er küsste mich –
mir ekelte – erst recht, als er mir seine Zunge in den Mund schob
und wollte, daß ich ihm einen runterholte. Ich hatte noch nie einen
Männerschwanz gesehen, geschweige in der Hand gehabt, ich war
weggetreten und desorientiert, ich gehorchte, das Ding fühlte sich
warm, fast heiß an und ich wußte nicht recht, was ich tun sollte,
was er wollte. Er zeigte es mir. Gleichzeitig wollte er mir einen
runterholen, aber mein verängstigtes, eingeschrumpeltes Pimperl
weigerte sich aufzustehen. Ich hatte noch nie onaniert, ich kannte es
gar nicht. Er fragte mich, warum er nicht stehe, ob ich gerade vorher „geschrubbt“ hätte.
Ich antwortete "ja". (eine Notlüge! Ich schämte mich ja, weil ich das „Stehen“ auch
nicht konnte.) Er drückte sich wieder an mich, küsste mich wieder
(ich hätte gerne ein anderes Wort dafür, was hier passierte, und
das Wort „küssen“ für das reserviert, was sich ereignen kann,
wenn zwei Menschen beginnen, sich für einander zu öffnen.)
Schließlich wurde ihm meine
Begriffsstützigkeit und Unfähigkeit zu blöd und er holte sich selber
einen runter und ich sah zum erstenmal, wie das geht, und ich sah zum
erstenmal das sogenannte Ejakulat.
Er lauschte – niemand draußen –
machte die Tür auf und weg war er.
Ich kann mich nicht recht erinnern, ich
komme mit meiner Erinnerung nicht dorthin – ich werde wohl ratlos
und verwirrt zurückgeblieben sein, irritiert; meine Gefühle, mein
Denken durcheinander, verwirrt, blockiert, betäubt, wie das Gehör
nach einer großen, lauten Explosion.
Vieles von dem, was ich hier
geschrieben habe, ist mir schwer gefallen zu erzählen, ganz schwer,
und ich habe Bedenken, es auf meine Schublade zu stellen, denn ich
fürchte, keinem mehr in die Augen schauen zu können, von dem ich
denke, er hat das gelesen. Ich werde den Text trotzdem auf die
Schublade geben, denn ich will die Scham nicht mehr in mir haben, ich
will es endlich erzählen und aussprechen. Geplant hatte ich das als
zwar persönlichen, aber doch irgendwie literarischen Text. Das "Literarische" wäre für mich ein gewisser Schutz gewesen. Aber kann der Text das
noch sein? Denn jetzt kommt das Schwerste und für mich Peinlichste, das, was ich kaum hinschreiben kann:
Er war natürlich nicht mehr an meinem
Platz, schwamm im See, und ich, ich folgte ihm wie ein kleiner Hund! Ich
winkte ihm zu und wunderte mich, daß er nicht zurückwinkte. Im See
gab es ein Floß aus Holz, an der Stelle dort fixiert diente es als
kleine Insel für die Schwimmer. Dort lag er mit einem anderen Mann
aus seiner Coburger Partie und plauderte mit einer hiesigen Frau. Ich
schwamm hin, lächelte ihm zu und stellte fest, daß er mich
ignorierte. Allmählich begann ich zu begreifen.
Ich habe damals nie jemandem davon
erzählt; nur Schulfreunden gegenüber äußerte ich einmal, daß mir
am Putterersee ein Mann, ein Deutscher, aufs Klo nachgegangen ist,
aber natürlich hatte ich ihn abgewehrt. Günther - später dann übrigens Rechtsanwalt - sagte darauf:
„Weißt eh, daß du den anzeigen kannst!?“ „Sicher“,
antwortete ich. Ich wollte nicht zugeben, daß ich das nicht wußte.
Nein, ich konnte es niemandem erzählen.
Noch eine für mich schwer
verständliche Auswirkung hatte diese Geschichte: ich entdeckte das
Onanieren für mich. Ich wurde geradezu süchtig. Was ich nicht
verstehe: es hatte mir ja geekelt! Warum jetzt die Lust? Sogar der
Geruch auf der Puttererseetoilette – diese Mischung aus Gestank und
Desinfektionsmittel - törnte mich an. Eigenartig, nicht?
Ich wurde onaniersüchtig und suchte in
Zeitungen irgendwelche Fotos von wenigstens halbnackten Frauen dafür, zur
Not tat es auch die Damenunterwäscheseite im Versandhauskatalog. Es
war aber doch eher ein trauriges Leben, das da begann. Erst als ich
Carlos Castaneda zu lesen begonnen hatte rückte etwas in meinem
Inneren zurecht und ich war den Zwang los.
Viele Jahre später, als Erwachsener, bekam ich am Klo einer Badeanstalt im Ausland eine ganz ähnliche Szene mit, fast identer Dialog. Ich brauchte eine gewisse Zeit, bis mir der Verdacht kam, dann war ich immer noch unsicher, dann wollte ich den Täter abpassen, ging aber hinaus, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen, aber ich hatte mir keine klare Strategie zurecht gelegt - im Kopf irgendeine vage Phantasie, ihn niederzutreten - und dann, der Täter entkam mir ganz leicht; es war auch niemand da, den ich um Hilfe bitten konnte, ich war immer unsicherer, ob das nicht - wegen meines eigenen Erlebnisses - eine reine Projektion sei, kurz gesagt, ich vertraute nicht meinem Instinkt, sondern fing zu grübeln an und im entscheidenden Moment war ich wie gelähmt und ich habe nichts, gar nichts gemacht. Auch meine Beobachtung nicht gemeldet, weil ich wegen meiner Fremdsprachenunkenntnis nicht den Unterschied zwischen Verdacht und Beschuldigung hätte erklären können. Ich war über mich entsetzt, daß ich den armen Jungen genauso im Stich gelassen habe, wie ich damals im Stich gelassen worden bin. Ich hätte in meiner Aufgewühltheit auch keine Personenbeschreibung abgeben können - in der Situation hatte ich dieses Gefühl, daß die Wahrnehmung verschwimmt und ich wußte nicht mehr, wieweit bin ich im Hier und Jetzt, wieweit in meiner Vergangenheit. Aber dennoch: ich konnte mir das schwer verzeihen und es fühlte sich an wie versagen.
Viele Jahre später, als Erwachsener, bekam ich am Klo einer Badeanstalt im Ausland eine ganz ähnliche Szene mit, fast identer Dialog. Ich brauchte eine gewisse Zeit, bis mir der Verdacht kam, dann war ich immer noch unsicher, dann wollte ich den Täter abpassen, ging aber hinaus, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen, aber ich hatte mir keine klare Strategie zurecht gelegt - im Kopf irgendeine vage Phantasie, ihn niederzutreten - und dann, der Täter entkam mir ganz leicht; es war auch niemand da, den ich um Hilfe bitten konnte, ich war immer unsicherer, ob das nicht - wegen meines eigenen Erlebnisses - eine reine Projektion sei, kurz gesagt, ich vertraute nicht meinem Instinkt, sondern fing zu grübeln an und im entscheidenden Moment war ich wie gelähmt und ich habe nichts, gar nichts gemacht. Auch meine Beobachtung nicht gemeldet, weil ich wegen meiner Fremdsprachenunkenntnis nicht den Unterschied zwischen Verdacht und Beschuldigung hätte erklären können. Ich war über mich entsetzt, daß ich den armen Jungen genauso im Stich gelassen habe, wie ich damals im Stich gelassen worden bin. Ich hätte in meiner Aufgewühltheit auch keine Personenbeschreibung abgeben können - in der Situation hatte ich dieses Gefühl, daß die Wahrnehmung verschwimmt und ich wußte nicht mehr, wieweit bin ich im Hier und Jetzt, wieweit in meiner Vergangenheit. Aber dennoch: ich konnte mir das schwer verzeihen und es fühlte sich an wie versagen.
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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