Freitag, 6. März 2015

89 Mein ganz persönlicher Größenwahn


Ich bin in sehr kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Ich höre meine Mutter – Gott hab sie selig – immer noch sagen: „Das können wir uns nicht leisten!“ Und es wird schon so gewesen sein. Wir tranken als Kinder Zuckerwasser oder Marmeladewasser als „besonderes“ Getränk, später dann sogar Verdünnsäfte, das billigste, Himbeer oder Himbeerzitron. Gekaufte Fertiggetränke gab es nicht. Nur einmal irrte sich meine Mutter – sie kaufte den neu aufgekommenen Capi – Orangensaft in der Meinung, es wäre ein besonders günstiger Verdünnsaft, so 1:7 zu verdünnen. Das schmeckte grauslich. Sie sah ihren Irrtum ein, aber wir mußten ihn trotzdem 1:7 verdünnt trinken, weil das sonst zu teuer gewesen wäre. Ich war immer sehr gehorsam, da aber habe ich heimlich vom Orangensaft in ganz kleinen Schlucken getrunken, pur,  weil er so gut geschmeckt hatte; so etwas Gutes hatte ich noch nie getrunken. Sie hat es gemerkt und mir auch vorgeworfen. Ich muß heute noch lachend den Kopf schütteln, wenn ich daran denke.

Der Putterersee ist ein wunderschön gelegener kleiner See bei uns in der Gegend. Er hat kalte und warme Quellen, hinter dem Kulm schaut der Grimming hervor, am steilen Puttererhügel grasen die Kühe und es gab eine tolle Badeanstalt.
Dorthin gingen wir im Sommer schwimmen. Auch meine Mutter liebte das Schwimmen und den See und da leisteten wir uns einen echten Luxus: eine Dauerkabine. Man zahlte einen ordentlichen Betrag und hatte die ganze Badesaison über die Kabine zur Verfügung, wo wir die Luxusgegenstände Campingbett und Luftmatratze und den Alltagsgegenstand Liegedecke hinterlegen konnten und nicht jedesmal nach Hause schleppen mußten. Im Ennstal können Sommer auch kühl sein und es gab immer Diskussionen, ob sich die Dauerkabine in diesem Jahr ausgezahlt hatte. Aber im Endeffekt hatten wir die Kabine jedes Jahr.

Für mich war das bequem, denn ich konnte nach der Schule für ein, zwei Stunden mit dem Rad zum See fahren und nutzte das gern aus. Schwimmen liebte ich und es war der einzige Sport, bei dem ich in der Schule mit den Guten mithalten konnte. Manchmal hatte ich sogar gewonnen! (Der Wahrheit halber muß ich sagen, daß einige gute Sportler in der Klasse Nichtschwimmer waren, aber immerhin kämpfte ich meistens mit dem Greimel Max um den ersten Platz, und der war ein guter Sportler.)

Ich war dreizehn Jahre alt, es wird Juni oder Juli gewesen sein. Das Wetter war bewölkt, für einen heißen Badetag zu kühl, aber trotzdem radelte ich zum Putterersee. Von unserer Familie war sonst niemand schwimmen und es waren auch sonst nicht viele Badegäste dort und so gab es viel Platz auf der Liegewiese. Deshalb breitete ich mich entgegen meiner Gewohnheit sehr aus: die Liegedecke, daneben die Luftmatratze UND das Campingbett – alles für mich allein.

Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl, so etwas wie ein schlechtes Gewissen, mir so einen Luxus anzumaßen, soviel Platz für mich zu beanspruchen, mich so auszubreiten.
Ich lag auf der Luftmatratze, dann auf dem Campingbett, oder auf der Decke, abwechselnd, und ich hatte ein mulmiges Gefühl, daß das Größenwahn sei und die Götter neidisch werden könnten und mich bestrafen. Es sind meine heutigen Worte, mit denen ich mein damaliges Unbehagen zu beschreiben versuche.

Ich lag gerade auf dem Campingbett, die Frau des Volksschuldirektors nicht allzu weit weg, als mich ein Mann – er hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Terence Hill – ansprach und fragte, ob er sich auf die Luftmatratze legen dürfe. Sein Akzent verriet, daß er Deutscher war. Unsere Gegend war bei den Deutschen beliebt als Urlaubsziel und es gab auch eine Art Tourismusfreundschaft mit der Coburger Region. Von dort kamen Sommergäste autobusweise. Sie waren bei den Einheimischen auch viel beliebter als zum Beispiel die Wiener. Das nur nebenbei.

Er fragte mich also, ob er sich auf die Luftmatratze legen dürfe, Nein-Sagen hatte ich nie gelernt und so nickte ich zustimmend, obwohl es mir komisch vorkam. Aber ich hatte gegen seine Selbstverständlichkeit, mit der er sich an mich heranmachte, nichts entgegenzusetzen. Ich fühlte mich nicht selbstverständlich, ich fühlte mich meistens falsch. Er verwickelte mich in ein Gespräch und fragte mich dann, ob ich „ihn schrubbe“. Das ist ein Wort, daß wir in Österreich nicht verwendeten, er griff mir dabei an die Badehose, an die Stelle zwischen den Beinen. Ich war irritiert! Ich verstand das nicht. Ich wußte nicht, was das ist. Ich hatte keine Ahnung, ich wußte nicht, daß es das gab. Und daß es onanieren gibt, wußte ich auch nicht, aber das meinte er mit „schrubben“. Ich schaute zur Frau Volksschuldirektor, sie schaute auch her. Vielleicht war auch etwas Hilfesuchendes in meinem Blick, aber sie drehte sich wieder weg.

Mir war es peinlich, daß ich wieder so unbedarft und daneben war und nicht wußte, was „schrubben“ ist und murmelte verlegen ein „Ja“. Darauf fragte er mich gierig, wie oft und wann zum letzten Mal und ich lavierte verlegen und beschämt herum mit meinen Antworten. Es ist nicht leicht, zu antworten, wenn man nicht weiß, worum es geht, aber die Blöße verbergen will.

Ein Klassenkamerad ging vorbei, er hatte schon zweimal „wiederholt“ und war daher zwei Jahre älter als ich. Ich grüßte ihn – vielleicht war in meinem Blick auch etwas Hilfesuchendes – er grüßte zurück und ging weiter. Mein neuer „Freund“ machte eine leicht abfällige Bemerkung über dessen bereits starke Körperbehaarung und sagte, daß der schon zu alt sei, um ihn zu interessieren. Interessieren wofür? Interessieren für was? Ich hatte keine Ahnung!
Natürlich war ich schon längst alarmiert, von Anfang an, aber ich konnte es nicht zuordnen. Irgendwas stimmte nicht, aber was? ICH stimmte wahrscheinlich nicht, denn ich weiß nicht, was „schrubben“ ist und verstehe nicht, wovon er redet, er aber redet und macht alles so selbstverständlich.
Er fragte mich, ob ich religiös sei und wahrheitsgemäß sagte ich ja. Er plauderte irgendwas davon, daß das in der Stadt nicht so sei wie hier am Land. Er lebe in der Stadt; am Land, wie hier, sei alles wohl anders.

Ich weiß nicht mehr, was er sonst noch alles redete, aber ich mußte schon dringend aufs Klo. Ich stand auf und gleich fragte er mich, eindringlich, warum ich denn weggehen will und wohin? Ich sagte, „ich muß aufs Klo“. Da wollte er mich begleiten und sofort ging er einfach mit. Er wollte unbedingt mit in die Kabine und mit aller Kraft versuchte ich, ihn hinauszudrängen und sagte: „ich muß wirklich scheißen!“ Er nahm mir das Versprechen ab, ihn hinterher wieder reinzulassen, ließ von mir ab und zappelte draußen im Pissoirbereich auf und ab.
Als ich fertig war öffnete ich die Tür und ließ ihn ohne nennenswerte Gegenwehr herein. Er küsste mich – mir ekelte – erst recht, als er mir seine Zunge in den Mund schob und wollte, daß ich ihm einen runterholte. Ich hatte noch nie einen Männerschwanz gesehen, geschweige in der Hand gehabt, ich war weggetreten und desorientiert, ich gehorchte, das Ding fühlte sich warm, fast heiß an und ich wußte nicht recht, was ich tun sollte, was er wollte. Er zeigte es mir. Gleichzeitig wollte er mir einen runterholen, aber mein verängstigtes, eingeschrumpeltes Pimperl weigerte sich aufzustehen. Ich hatte noch nie onaniert, ich kannte es gar nicht. Er fragte mich, warum er nicht stehe, ob ich gerade vorher „geschrubbt“ hätte. Ich antwortete "ja". (eine Notlüge! Ich schämte mich ja, weil ich das „Stehen“ auch nicht konnte.) Er drückte sich wieder an mich, küsste mich wieder (ich hätte gerne ein anderes Wort dafür, was hier passierte, und das Wort „küssen“ für das reserviert, was sich ereignen kann, wenn zwei Menschen beginnen, sich für einander zu öffnen.)

Schließlich wurde ihm meine Begriffsstützigkeit und Unfähigkeit zu blöd und er holte sich selber einen runter und ich sah zum erstenmal, wie das geht, und ich sah zum erstenmal das sogenannte Ejakulat.
Er lauschte – niemand draußen – machte die Tür auf und weg war er.

Ich kann mich nicht recht erinnern, ich komme mit meiner Erinnerung nicht dorthin – ich werde wohl ratlos und verwirrt zurückgeblieben sein, irritiert; meine Gefühle, mein Denken durcheinander, verwirrt, blockiert, betäubt, wie das Gehör nach einer großen, lauten Explosion.

Vieles von dem, was ich hier geschrieben habe, ist mir schwer gefallen zu erzählen, ganz schwer, und ich habe Bedenken, es auf meine Schublade zu stellen, denn ich fürchte, keinem mehr in die Augen schauen zu können, von dem ich denke, er hat das gelesen. Ich werde den Text trotzdem auf die Schublade geben, denn ich will die Scham nicht mehr in mir haben, ich will es endlich erzählen und aussprechen. Geplant hatte ich das als zwar persönlichen, aber doch irgendwie literarischen Text. Das "Literarische"  wäre für mich ein gewisser Schutz gewesen. Aber kann der Text das noch sein? Denn jetzt kommt das Schwerste und für mich Peinlichste, das, was ich kaum hinschreiben kann:

Er war natürlich nicht mehr an meinem Platz, schwamm im See, und ich, ich folgte ihm wie ein kleiner Hund! Ich winkte ihm zu und wunderte mich, daß er nicht zurückwinkte. Im See gab es ein Floß aus Holz, an der Stelle dort fixiert diente es als kleine Insel für die Schwimmer. Dort lag er mit einem anderen Mann aus seiner Coburger Partie und plauderte mit einer hiesigen Frau. Ich schwamm hin, lächelte ihm zu und stellte fest, daß er mich ignorierte. Allmählich begann ich zu begreifen.

Ich habe damals nie jemandem davon erzählt; nur Schulfreunden gegenüber äußerte ich einmal, daß mir am Putterersee ein Mann, ein Deutscher, aufs Klo nachgegangen ist, aber natürlich hatte ich ihn abgewehrt. Günther - später dann übrigens Rechtsanwalt - sagte darauf: „Weißt eh, daß du den anzeigen kannst!?“ „Sicher“, antwortete ich. Ich wollte nicht zugeben, daß ich das nicht wußte. Nein, ich konnte es niemandem erzählen.

Noch eine für mich schwer verständliche Auswirkung hatte diese Geschichte: ich entdeckte das Onanieren für mich. Ich wurde geradezu süchtig. Was ich nicht verstehe: es hatte mir ja geekelt! Warum jetzt die Lust? Sogar der Geruch auf der Puttererseetoilette – diese Mischung aus Gestank und Desinfektionsmittel - törnte mich an. Eigenartig, nicht?
Ich wurde onaniersüchtig und suchte in Zeitungen irgendwelche Fotos von wenigstens halbnackten Frauen dafür, zur Not tat es auch die Damenunterwäscheseite im Versandhauskatalog. Es war aber doch eher ein trauriges Leben, das da begann. Erst als ich Carlos Castaneda zu lesen begonnen hatte rückte etwas in meinem Inneren zurecht und ich war den Zwang los.

Viele Jahre später, als Erwachsener, bekam ich am Klo einer Badeanstalt im Ausland eine ganz ähnliche Szene mit, fast identer Dialog. Ich brauchte eine gewisse Zeit, bis mir der Verdacht kam, dann war ich immer noch unsicher, dann wollte ich den Täter abpassen, ging aber hinaus, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen, aber ich hatte mir keine klare Strategie zurecht gelegt - im Kopf irgendeine vage Phantasie, ihn niederzutreten - und dann, der Täter entkam mir ganz leicht; es war auch niemand da, den ich um Hilfe bitten konnte, ich war immer unsicherer, ob das nicht - wegen meines eigenen Erlebnisses - eine reine Projektion sei, kurz gesagt, ich vertraute nicht meinem Instinkt, sondern fing zu grübeln an und im entscheidenden Moment war ich wie gelähmt und ich habe nichts, gar nichts gemacht. Auch meine Beobachtung nicht gemeldet, weil ich wegen meiner Fremdsprachenunkenntnis nicht den Unterschied zwischen Verdacht und Beschuldigung hätte erklären können. Ich war über mich entsetzt, daß ich den armen Jungen genauso im Stich gelassen habe, wie ich damals im Stich gelassen worden bin. Ich hätte in meiner Aufgewühltheit auch keine Personenbeschreibung abgeben können - in der Situation hatte ich dieses Gefühl, daß die Wahrnehmung verschwimmt und ich wußte nicht mehr, wieweit bin ich im Hier und Jetzt, wieweit in meiner Vergangenheit. Aber dennoch: ich konnte mir das schwer verzeihen und es fühlte sich an wie versagen.



©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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