88 Die Pachernegg-Szene
Ich war nie ein „richtiger“ Bub.
Ich war ängstlich, schwach, lebensfremd. Meistens irgendwie daneben.
Da gab es zum Beispiel einen Scherz
unter den Buben, wo der eine fragt: „bist du stark?“ und der
andere antwortet natürlich: „ja sicher!“ Dann spuckt der erste
auf den Boden und fordert den anderen auf: „dann klaub's auf!“
Bei mir hatte das nicht recht
funktioniert. Als mich einer fragte: „bist du stark?“ antwortete
ich: „nein“. Darauf er: „Naah, du mußt schon 'ja' sagen! Sag
ja!“ Ich brav: „Ja“. Sicher ohne Rufzeichen, denn ich hatte
schon Angst, was jetzt auf mich zukommt. Aber der Bub konnte endlich
auf den Boden spucken und seinen Spruch sagen und ich war
erleichtert, daß der Scherz so harmlos war.
Soweit ich mich erinnern kann war ich
immer mit so „Gangs“ von ein paar Jahre älteren Buben zusammen.
Die konnten mit mir machen was sie wollten. Bis in die Volksschulzeit
hinein. Manchmal haben sie mich regelrecht bei meiner Mutter abgeholt
für ihre Spielchen.
Einmal hatte mich die Bande unter
Anführung vom Hackl Sepp überredet, auf einen Baum zu klettern.
Der Baum stand in der „Teufelsgrube“,
die sich ins weite, flache Ennstal öffnete, schräg gegenüber, auf
der anderen Seite des Ennstales der mächtige Grimming. Ein schöner
Platz, ein schöner Baum, etwas abseits vom Ort.
Ich hatte einfach Angst, auf den Baum
zu klettern. In ein paar Metern Höhe hatten die Buben eine Plattform
aus Holzbrettern gebaut gehabt; geplant war, daß daraus einmal ein
Baumhaus werden sollte.
Ich hatte große Angst und mir kam das
so hoch vor – Ich war noch im Kindergartenalter. Aber sie halfen
mir hinauf, zeigten mir die Tritte, wo ich auftreten konnte, die
Griffe zum Anhalten mit den Händen, und wenn es nicht anders ging,
schoben sie mich an.
Ich hatte Angst, Angst, Angst. Ich
zitterte am ganzen Körper. Auch oben auf der ungeschützten
Plattform hatte ich Angst, Angst herunterzufallen. Ich konnte mich
überhaupt nicht entspannen.
Dann stiegen meine „Freunde“ vom
Baum und ließen mich alleine oben sitzen. Sie richteten mir aus, daß
sie jetzt weggehen würden. Ich werde wohl geweint haben. Da
überlegten sie es sich anders, blieben da und entzündeten am Fuße des Baumes
ein Feuer. Jetzt drohten sie damit, den Baum anzuzünden. Ich glaubte
es ihnen und erlitt Todesängste. Dann legten sie noch mehr Zweige
ins Feuer und lange Stangen, damit die am oberen Ende zu brennen
beginnen und fuchtelten mit den brennenden Stangen herauf zu mir auf
die Plattform. Dann verkündeten sie, das rudimentäre Baumhüttl
anzuzünden und versuchten, brennende Zweige heraufzuwerfen, was
ihnen aber nicht gelang.
Ich werde geschrien haben vor Angst,
aber der schöne, große, herrliche, einsame Baum stand am Fuße der
Teufelsgrube, die den letzten Abhang des Schwemmkegels bildete, auf
dem Irdning steht, und gerade von dort konnte mich niemand hören und
uns niemand sehen.
Natürlich hatten sie nicht wirklich
vorgehabt, mich zu verbrennen. Sie hatten sich ihren Spaß mit mir
ängstlichem und leichtgläubigem Kind gemacht und halfen mir dann
wieder vom Baum. Ich habe nur mehr geweint und gezittert und war doch
froh, wieder am Boden zu sein. Und ich schämte mich.
Ich kam gar nicht auf den Gedanken, das
zu Hause zu erzählen, da hatte ich viel zu viel Angst vor dem Hass
und der Verachtung, die ich von meinen Eltern für meine Schwäche ernten würde. Das
wußten alle diese Banden auch, daß ich nie davon erzählen werde.
Als ich in die Volksschule ging, waren
diese Buben in der Hauptschule. Da ging es in ähnlicher Tonart
weiter, bis zu kleineren sexuellen Übergriffen.
Als ich dann älter war, ging ich aufs
Gymnasium, die ehemaligen „Freunde“ waren Lehrlinge. Ich hatte
immer noch Angst vor ihnen und den anderen Hauptschülern und
Lehrlingen, vor den Arbeitern und Bauern. Gerade als Gymnasiast. Das
sind in ihren Augen doch die, die sich einbilden, etwas Besseres zu
sein, ohne wirklich etwas darzustellen – so dachte ich.
Jetzt war ich schon in der Oberstufe
des Gymnasiums, ich lauschte schon täglich andächtig und aufmerksam
der Musicbox, einer gerade erst erfundenen „progressiven“
Radiosendung des ORF. Da lernte ich schnell „intellektuell“ zu
reden, aber auch gute Popmusik kennen (Cream, John Hisemans Colosseum
und...).
Mit dem Körper ein verklemmter, braver
Bub, der sich vor den Eltern, den Lehrern und dem Leben fürchtet,
mit dem Geist in der „progressiven“, linken Achtundsechziger Pop-
und Politwelt auf Reisen.
Als gutes Beispiel: kamen irgendwo
sexuelle Themen auf, war das für mich furchtbar. Ob Witze, ob
Aufklärungsunterricht oder sonst irgendwie – ich wurde rot bis
über beide Ohren, verlegen, fing zu stottern an.... bis ich
daraufkam, wie man intellektuell darüberredete – so à
la Musicbox.: „wie Freud sagt....nach Wilhelm Reich geht es...“
etc.etc. Kein Erröten mehr (solange ich intellektuell bleiben
konnte) – ja, das war angenehmer.
Die Musicbox war „links“ und ich
übernahm das brav und als Linker ist man für die Arbeiterklasse.
Das waren genau die, vor denen ich mich am meisten fürchtete.
Dieser intellektuelle „Höhenflug“
hinderte mich nicht daran, von dummen Gymnasiastenscherzen begeistert
zu sein, wie zum Beispiel: wie sagt man „die dümmsten Bauern haben
die größten Erdäpfel?“ auf wissenschaftlich? „die voluminöse
Expansion der subterralen Knollenblättergewächse (sic! Ich weiß,
falsch, aber so haben wir das gesagt) steht in reziproker Proportion
zum geistigen Intellekt des Agrarökonomen.“
Einmal war mein Cousin auf Besuch in
Irdning. Mein Onkel hatte eine Werkstatt und es war wohl geplant, daß
er diese bzw. seines Vaters Anteile daran einmal übernehmen werde. So
lernte er Mechaniker, er war also Mechanikerlehrling.
Wir saßen beim Pachernegg im Café.
Er erzählte von den Lehrlingen in der Berufsschule, wie arg viele
seien, wie beschränkt, wie lernunwillig, manche so richtig ungute
Typen. Ich, als gymnasialer Musicboxlinker verteidigte die Lehrlinge.
So ging es hin und her. Nicht ohne Ironie die Situation. Zur
besonderen Würze saßen zwei Tische weiter eine Partie schon etwas
angeheiterter Lehrlinge. Sie mußten mitgehört haben, was wir
sprachen, den einer von ihnen stand auf und kam wankend auf mich zu
und sagte: „Du bist ein klasser Typ!“
Schon
wie er auf mich zugegangen ist, wankend, muß bei mir die
Teufelsgrubenangst voll duchgeschlagen haben, denn mit einer
Arroganz, wie ich sie an mir gar nicht kannte, schnauzte ich zurück:
„Was willst du? Du weißt ja nicht einmal, was 'die voluminöse Expansion der
subterralen Knollenblättergewächse steht in reziproker Proportion
zum geistigen Intellekt des Agrarökonomen' heißt.“
Er
zuckte zurück, mir stand der Mund offen vor Schock. Ich hatte mich
das wie einen Fremden sagen hören, ein Teil hörte und sah mir von
außen entsetzt zu und konnte es weder verstehen, noch stoppen.
Der
Lehrling ging enttäuscht an seinen Tisch zurück, ich hörte sie
noch reden „die sind doch alle gleich!“, ich war glühend rot im
Gesicht.
Mein
Cousin sagte – wohl um mir eine Brücke zu bauen - „der war ein
Trottel“ oder so etwas Ähnliches, ich sagte noch: „nein, das war
er nicht, er war nett! Ich weiß nicht, wie das aus mir herauskommen
konnte!“
Es
wird schon in mir drinnen gewesen sein; aus welchen Gründen auch
immer.
Ich
weiß nicht, ob ihr das kennt, daß ihr Erlebnisse in eurem Leben
habt, für die ihr euch in den Boden schämt? Wo es vorkommt, daß
irgendwann vorm Einschlafen, wenn der Geist frei herumzukreisen
anfängt, er dann plötzlich auf so ein beschämendes Erlebnis stößt
und ihr rot werdet? Ganz alleine im Bett rot werdet vor Scham?
Die
Pachernegg-Szene ist für mich so ein Erlebnis.
©Peter
Rumpf 2015
peteraloisrumpf@gmail.com
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