Donnerstag, 5. März 2015

88 Die Pachernegg-Szene


Ich war nie ein „richtiger“ Bub. Ich war ängstlich, schwach, lebensfremd. Meistens irgendwie daneben.

Da gab es zum Beispiel einen Scherz unter den Buben, wo der eine fragt: „bist du stark?“ und der andere antwortet natürlich: „ja sicher!“ Dann spuckt der erste auf den Boden und fordert den anderen auf: „dann klaub's auf!“
Bei mir hatte das nicht recht funktioniert. Als mich einer fragte: „bist du stark?“ antwortete ich: „nein“. Darauf er: „Naah, du mußt schon 'ja' sagen! Sag ja!“ Ich brav: „Ja“. Sicher ohne Rufzeichen, denn ich hatte schon Angst, was jetzt auf mich zukommt. Aber der Bub konnte endlich auf den Boden spucken und seinen Spruch sagen und ich war erleichtert, daß der Scherz so harmlos war.

Soweit ich mich erinnern kann war ich immer mit so „Gangs“ von ein paar Jahre älteren Buben zusammen. Die konnten mit mir machen was sie wollten. Bis in die Volksschulzeit hinein. Manchmal haben sie mich regelrecht bei meiner Mutter abgeholt für ihre Spielchen.

Einmal hatte mich die Bande unter Anführung vom Hackl Sepp überredet, auf einen Baum zu klettern.
Der Baum stand in der „Teufelsgrube“, die sich ins weite, flache Ennstal öffnete, schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Ennstales der mächtige Grimming. Ein schöner Platz, ein schöner Baum, etwas abseits vom Ort.

Ich hatte einfach Angst, auf den Baum zu klettern. In ein paar Metern Höhe hatten die Buben eine Plattform aus Holzbrettern gebaut gehabt; geplant war, daß daraus einmal ein Baumhaus werden sollte.
Ich hatte große Angst und mir kam das so hoch vor – Ich war noch im Kindergartenalter. Aber sie halfen mir hinauf, zeigten mir die Tritte, wo ich auftreten konnte, die Griffe zum Anhalten mit den Händen, und wenn es nicht anders ging, schoben sie mich an.
Ich hatte Angst, Angst, Angst. Ich zitterte am ganzen Körper. Auch oben auf der ungeschützten Plattform hatte ich Angst, Angst herunterzufallen. Ich konnte mich überhaupt nicht entspannen.

Dann stiegen meine „Freunde“ vom Baum und ließen mich alleine oben sitzen. Sie richteten mir aus, daß sie jetzt weggehen würden. Ich werde wohl geweint haben. Da überlegten sie es sich anders, blieben da und entzündeten am Fuße des Baumes ein Feuer. Jetzt drohten sie damit, den Baum anzuzünden. Ich glaubte es ihnen und erlitt Todesängste. Dann legten sie noch mehr Zweige ins Feuer und lange Stangen, damit die am oberen Ende zu brennen beginnen und fuchtelten mit den brennenden Stangen herauf zu mir auf die Plattform. Dann verkündeten sie, das rudimentäre Baumhüttl anzuzünden und versuchten, brennende Zweige heraufzuwerfen, was ihnen aber nicht gelang.

Ich werde geschrien haben vor Angst, aber der schöne, große, herrliche, einsame Baum stand am Fuße der Teufelsgrube, die den letzten Abhang des Schwemmkegels bildete, auf dem Irdning steht, und gerade von dort konnte mich niemand hören und uns niemand sehen.

Natürlich hatten sie nicht wirklich vorgehabt, mich zu verbrennen. Sie hatten sich ihren Spaß mit mir ängstlichem und leichtgläubigem Kind gemacht und halfen mir dann wieder vom Baum. Ich habe nur mehr geweint und gezittert und war doch froh, wieder am Boden zu sein. Und ich schämte mich.

Ich kam gar nicht auf den Gedanken, das zu Hause zu erzählen, da hatte ich viel zu viel Angst vor dem Hass und der Verachtung, die ich von meinen Eltern für meine Schwäche ernten würde. Das wußten alle diese Banden auch, daß ich nie davon erzählen werde.

Als ich in die Volksschule ging, waren diese Buben in der Hauptschule. Da ging es in ähnlicher Tonart weiter, bis zu kleineren sexuellen Übergriffen.

Als ich dann älter war, ging ich aufs Gymnasium, die ehemaligen „Freunde“ waren Lehrlinge. Ich hatte immer noch Angst vor ihnen und den anderen Hauptschülern und Lehrlingen, vor den Arbeitern und Bauern. Gerade als Gymnasiast. Das sind in ihren Augen doch die, die sich einbilden, etwas Besseres zu sein, ohne wirklich etwas darzustellen – so dachte ich.

Jetzt war ich schon in der Oberstufe des Gymnasiums, ich lauschte schon täglich andächtig und aufmerksam der Musicbox, einer gerade erst erfundenen „progressiven“ Radiosendung des ORF. Da lernte ich schnell „intellektuell“ zu reden, aber auch gute Popmusik kennen (Cream, John Hisemans Colosseum und...).

Mit dem Körper ein verklemmter, braver Bub, der sich vor den Eltern, den Lehrern und dem Leben fürchtet, mit dem Geist in der „progressiven“, linken Achtundsechziger Pop- und Politwelt auf Reisen.
Als gutes Beispiel: kamen irgendwo sexuelle Themen auf, war das für mich furchtbar. Ob Witze, ob Aufklärungsunterricht oder sonst irgendwie – ich wurde rot bis über beide Ohren, verlegen, fing zu stottern an.... bis ich daraufkam, wie man intellektuell darüberredete – so à la Musicbox.: „wie Freud sagt....nach Wilhelm Reich geht es...“ etc.etc. Kein Erröten mehr (solange ich intellektuell bleiben konnte) – ja, das war angenehmer.

Die Musicbox war „links“ und ich übernahm das brav und als Linker ist man für die Arbeiterklasse. Das waren genau die, vor denen ich mich am meisten fürchtete.

Dieser intellektuelle „Höhenflug“ hinderte mich nicht daran, von dummen Gymnasiastenscherzen begeistert zu sein, wie zum Beispiel: wie sagt man „die dümmsten Bauern haben die größten Erdäpfel?“ auf wissenschaftlich? „die voluminöse Expansion der subterralen Knollenblättergewächse (sic! Ich weiß, falsch, aber so haben wir das gesagt) steht in reziproker Proportion zum geistigen Intellekt des Agrarökonomen.“

Einmal war mein Cousin auf Besuch in Irdning. Mein Onkel hatte eine Werkstatt und es war wohl geplant, daß er diese bzw. seines Vaters Anteile daran einmal übernehmen werde. So lernte er Mechaniker, er war also Mechanikerlehrling.
Wir saßen beim Pachernegg im Café. Er erzählte von den Lehrlingen in der Berufsschule, wie arg viele seien, wie beschränkt, wie lernunwillig, manche so richtig ungute Typen. Ich, als gymnasialer Musicboxlinker verteidigte die Lehrlinge. So ging es hin und her. Nicht ohne Ironie die Situation. Zur besonderen Würze saßen zwei Tische weiter eine Partie schon etwas angeheiterter Lehrlinge. Sie mußten mitgehört haben, was wir sprachen, den einer von ihnen stand auf und kam wankend auf mich zu und sagte: „Du bist ein klasser Typ!“

Schon wie er auf mich zugegangen ist, wankend, muß bei mir die Teufelsgrubenangst voll duchgeschlagen haben, denn mit einer Arroganz, wie ich sie an mir gar nicht kannte, schnauzte ich zurück: „Was willst du? Du weißt ja nicht einmal, was 'die voluminöse Expansion der subterralen Knollenblättergewächse steht in reziproker Proportion zum geistigen Intellekt des Agrarökonomen' heißt.“
Er zuckte zurück, mir stand der Mund offen vor Schock. Ich hatte mich das wie einen Fremden sagen hören, ein Teil hörte und sah mir von außen entsetzt zu und konnte es weder verstehen, noch stoppen.
Der Lehrling ging enttäuscht an seinen Tisch zurück, ich hörte sie noch reden „die sind doch alle gleich!“, ich war glühend rot im Gesicht.
Mein Cousin sagte – wohl um mir eine Brücke zu bauen - „der war ein Trottel“ oder so etwas Ähnliches, ich sagte noch: „nein, das war er nicht, er war nett! Ich weiß nicht, wie das aus mir herauskommen konnte!“
Es wird schon in mir drinnen gewesen sein; aus welchen Gründen auch immer.

Ich weiß nicht, ob ihr das kennt, daß ihr Erlebnisse in eurem Leben habt, für die ihr euch in den Boden schämt? Wo es vorkommt, daß irgendwann vorm Einschlafen, wenn der Geist frei herumzukreisen anfängt, er dann plötzlich auf so ein beschämendes Erlebnis stößt und ihr rot werdet? Ganz alleine im Bett rot werdet vor Scham?
Die Pachernegg-Szene ist für mich so ein Erlebnis.


©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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