84 Fut frißt Hose
Für nicht-österreichische Leser:
„Fut“ ist ein österreichisches Wort für Vagina und „Fut frißt
Hose“ heißt, daß die Frau eine so enge Hose respektive Leggings
anhat, daß sich die Schamlippen durch den Stoff abzeichnen und
somit der Eindruck entsteht, daß die Vagina die Hose zum Auffressen
„in den Mund“ nimmt. Ich weiß nicht mehr, wo ich diese
Formulierung (FfH) vor Kurzem gelesen habe.
Es muß so anfang der Neunzigerjahre
gewesen sein, circa ein Jahr vorher war ich beim Astrologen Döbereiner in
der Beratung und er hatte mir deutlich klar gemacht, daß meine
künstlerische Tätigkeit, das Malen und Zeichnen, das ich damals
ausübte, ein Dreck sei und meine wirkliche Berufung die Theologie
wäre. Ich habe das angenommen, mit Verwunderung zwar, aber
schließlich bin ich ja zu ihm in die Beratung gegangen, weil ich
selber nicht wußte, was in meinem Leben nicht stimmt, und obwohl ich
damals aus der (katholischen) Kirche ausgetreten war und freiwillig
nie mehr dorthin zurückgekehrt wäre, habe ich mir gedacht „auf
Dein Wort hin“ und bin wieder eingetreten und habe mich aufgemacht,
mein abgebrochenes Theologiestudium abzuschließen. Nebenbei jobbte
ich abends bei der Post in der Briefumleitung, einer Halle mit vielen
Leuten, die Briefe umsortieren.
In dieser Zeit habe ich mich aufrichtig
bemüht, wieder zur katholischen Kirche zurückzufinden, ja, richtig
fromm zu werden, keusch zu leben (und das meine ich nicht zynisch! Es
war mir ernst damit und ich halte auch heute noch Keuschheit für
keine schlechte Sache, wenn auch nicht aus kirchlich motivierten
Gründen), aber je mehr ich mich dort hinzudrängen versuchte, desto
stärker geriet ich in sexuelle Zwangshandlungen wie Frauenanstarren.
Nebenbei jobbte ich also bei der Post
und dort arbeitete auch eine Frau, deren Leggings von der Fut
aufgefressen zu werden drohten. Und ich starrte immer wieder hin.
Irgendwann schmiss sie den Packen Großbriefe genervt auf das
Fließband, an dem wir arbeiteten, und ging zum Aufsichtsbeamten,
dort Revident genannt.
Nun bin ich ja – wie Döbereiner bei
meinem Geburtsdatum richtig sagt - „scheinanwesend“ und glaube
immer, man (respektive Frau) sieht mich nicht, aber das ist mir dann
doch aufgefallen und ich denke mir „Uii! Jetzt hat sie mich wegen
sexueller Belästigung gemeldet!“, aber weil nichts weiter passiert
ist, habe ich das – erinnern Sie sich: „scheinanwesend“ -
wieder vergessen.
Am nächsten Tag stapfte ich wieder
frisch und munter zum Dienst, doch als ich entgegen meiner damaligen
Dienstverwendung zum Großbriefkartieren (=sortieren) eingeteilt
wurde, war ich irgendwie alarmiert, ohne zu wissen, wieso (gestriger
Vorfall vergessen!) und mein innerer Alarm steigerte sich immer mehr.
Das Großbriefkartieren läuft so ab:
vor sich hat man eine Art Stellwand aus lauter Fächern, so hoch
hinauf, daß man die oberen Fächer gerade noch erreichen kann; in
die Fächer sortiert man stehend die Briefe nach Postleitzahlen. An
der Rückseite der Fächer sind Holzleisten angebracht, die die
Briefe beim Reingeschleudertwerden daran hindern, in die Fächer der
nächsten Fächerkastens dahinter zu rutschen, der mit meinem
Fächerkasten sozusagen „Rücken an Rücken“ steht. So entstehen Kojen, wo je zwei Leute Rücken an Rücken einsortieren und hinter
der Wand aus den zwei Rückseite an Rückseite stehende Fächerkästen
ist wieder eine Koje mit zwei Leuten usw.
Also. Auf's Höchste alarmiert rede ich
bei der Arbeit mit meinem Kojenkompagnon und rede und rede wie die
ganzen drei Jahre vorher zusammengenommen nicht und wundere mich
selber, was mit mir los ist und verstehe mich nicht. Irgendwann denke
ich, ich schaue nach, wer da auf der anderen Seite meiner Fächerwand
arbeitet und werfe einen Blick durch eines der Fächer durch auf die
andere Seite und sehe – es ist die FfH-Frau! Unwillkürlich und
sofort drehe ich meinen Kopf nach links und sehe, wie der Revident –
ich höre nicht, was er zum Nebenstehenden sagt; da ist er zu weit
weg – wie er - mich die ganze Zeit beobachtend – sich also mit
der Hand auf den Oberschenkel schlägt, in einer Geste, die sagt:
„Also doch! Wirklich! Das hätt' ich mir vom Rumpf nicht gedacht!“
Mit einem Schlag durchschaute ich das
Manöver! Die Frau hat meinen sexuellen Übergriff gemeldet und sie
haben mir eine Falle gestellt! Und mein Blick durchs Fach ist der
Beweis! Eine saudumme Falle und ein saudummer Beweis! Denn dieser
Blick durch das Fach auf die andere Seite hatte nichts mit
Voyeurismus zu tun, sondern ich war einfach nur neugierig, wer auf
der anderen Seite arbeitet. Aber sei's drum! Der falsche Test, aber
das richtige Ergebnis.
(Nebenbei gesagt: wenn jemand bei
sexuellen Belästigungen über einen Beschuldigten sagt, „aber der
doch nicht! Der niemals! Der ist doch...was weiß ich... anständig,
brav etc.“, dann vermute ich sehr stark, daß er es war.)
„Gut! Gut“, denke ich mir, „jetzt
ist es passiert!“ Ich wurde wieder vom Großbriefkartieren
abgezogen und zu meiner damals üblichen Tätigkeit beordert und
weiter passierte nichts. „Gut,“ dachte ich, „es ist später
Abend, die Abteilungsleitung ist längst nicht mehr im Haus, ich
werde wohl morgen in die Abteilungsleitung zitiert.“ Und ich mache
meine Arbeit weiter.
Ich merke aber, irgendwas stimmt nicht
mit mir. Ich höre permanent ein starkes Sausen in den Ohren und
fühle mich wie in Trance und höre, was die Leute reden, obwohl ich
es von der Entfernung her nicht hören können sollte. So sagt z.B.
einer zum andern: „Hast g'hört, der Rumpf hat … (unverständlich)
.. eine Kollegin...“ Der andere: „Was? Geh! Ich habe immer
geglaubt, das ist ein Warmer!“ ("Warmer": österreichisch für Schwuler).
In diesem Trancezustand habe ich meinen
Dienst zu Ende gebracht und bin dann in meine Einsiedelei nach Hause
gegangen und habe mich schlafen gelegt und bin bald erschöpft
eingeschlafen.
Dann bin ich in einem Traum. In einem
sehr stabilen und realistischen Traum, nichts verschwimmt und
verwandelt sich: Ich durchquere eine grau-gelbliche Ödnis, eine
Landschaft wie mit Sanddünen. Es lastet ein ungeheurer Druck auf
mir, ich komme nicht mehr weiter, ich bekomme kaum noch Luft, so wie
in einem extremen Sturm, nur ohne Sturm, ein stiller, beständiger,
konstanter Druck, der nur als Druck gespürt, aber sonst nicht
wahrgenommen werden kann. Ich komme nicht mehr weiter. Ich habe
Angst. Die größte Angst. So eine Angst hatte ich noch nie erlebt,
weder in der Alltagswelt, noch in den schrecklichsten Albträumen
meiner Kindheit. Es ist die schiere Todesangst. Ich weiß, ich
sterbe. Aber etwas an dieser schrecklichen, übergroßen, mächtigen
Angst gefällt mir: sie hat nichts mit Angst vor Menschen zu tun,
nichts mit den sozialen Ängsten, die ich so gut kenne, denn diese
Wüste ist menschenleer, nichts damit, ob oder daß ich blamiert bin,
bloßgestellt, blöd dastehe, oder ertappt oder sonstwas bin – es
ist die reine Todesangst. Es ist die Angst einer Kreatur, die stirbt.
Der Druck dieser unsichtbaren Macht
oder dieser Mächte auf mich wird allmählich immer stärker, ich
weiß, es ist aus; und ich werde zornig, daß sich diese Mächte
nicht zeigen! Ich bekomme einen regelrechten Wutanfall und mir wird
alles wurscht, ich brülle mit aller Kraft den Mächten hinter der
nächsten Düne zu „Zeigt's Euch! Kommt's her! Kommt's fiara von da
hinten!“ Ich balle die Fäuste dabei und bin zum Kampf bereit.
„Zeigt's euch gefälligst!“ Das wäre wohl das Mindeste, was sie
tun können, bevor sie mich zermalmen. Da ich aber kaum atmen kann –
wie bei extrem starkem Sturm – kommt aus meine Kehle aber trotz
allergrößter Brüllanstrengung nur ein klägliches Gewinsel heraus.
Ich denke mir „Oh je! Das gibt aber nicht viel her, damit werde ich
die Kräfte nicht beeindrucken!“, aber es ist mir egal, daß ich
diesen Kampf sicher verlieren werde und muß fast lachen über mein
erbärmliches Gewinsel und denke „egal! Was wiegt's, das hat's!“
Dieser Wutanfall aber reißt mich aus
dem Traum und ich wache in meinem Bett auf. Da erlebe ich die nächste
schockierende Überraschung: ich bin an zwei Orten gleichzeitig!
Nicht weit auseinander, nur ein paar Zentimeter, aber eindeutig zwei
Orte.
Einerseits nehme ich mich als am Rücken
liegend wahr, so, wie mein Körper tatsächlich im Bett liegt. Bei
meinem Bauch ist mein Energiefeld, das ich deutlich spüre,
aufgerissen; es wurlt um diese Lücke und aus dieser Lücke fließt
mein Innerstes nach außen, wie ein Energiekörper, der sich dann
rechts von meinem normalen Körper in Embryostellung zusammenrollt.
Immer mehr fließt da von Innen rüber, ein ständiges Gewurl und ich
nehme mich – andrerseits – als dieser rechts neben mir liegende
Energiekörper wahr. Ich bin auch in diesem Energiehaufen.
Also gleichzeitig: ich fühle mich als
Körper am Rücken liegend mit Lücke mit Gewurl am Bauch UND als
daneben eingerollt liegend.
Instinktiv mache ich das Richtige (wie
ich glaube): ich lege mich mit meinem Alltagskörper auch in
Embryostellung nach rechts, sodaß sich Energiekörper und
Normalkörper wieder vereinen können und die ausgeflossene Energie
im Inneren meines realen Körpers zu liegen kommt.
Ich weiß nicht mehr, ob ich dann
wieder eingeschlafen bin, jedenfalls bin ich lange so gelegen und als
ich aufstehe, bin ich wieder ganz und einheitlich.
Ich bin noch heute davon überzeugt –
ob zu Recht oder zu Unrecht weiß ich nicht - , daß ich damals
gestorben wäre, wenn ich den Prozeß des Energieaustritts nicht
gestoppt und wieder rückgängig gemacht hätte. Das Ganze hat mir
aber gefallen und ich hatte gehofft, das in der nächsten Nacht
wieder zu erleben.
Nun, am nächsten Tag in der Arbeit bei
der Post ist wieder nichts geschehen, aber ich habe mitbekommen, daß
diese Frau jetzt in einer anderen Abteilung arbeitet. Daraus habe ich
geschlossen – es hat nie wer mit mir darüber geredet -, daß man
mich schonen wollte – aus welchen Gründen auch immer, ich war ja
sonst ein braver Arbeiter – und mit der Frau den Kompromiß
abgemacht hatte, sie in eine andere Abteilung zu versetzen, wo ich
ihr nicht mehr über den Weg laufe.
Das hat mich aber erst recht irritiert
und war mich unheimlich! Ich hatte erwartet, daß ich zur Rede
gestellt werde und ich hätte auch gesagt „Ja, das habe ich getan!“
Vielleicht hätte ich auch einen Hinweis gewagt auf die gefressen
werdende Hose (in echt wohl eher nicht), aber gleich angefügt, daß ein Mann, der sein Salz
wert ist, sich nicht zu sowas hinreißen läßt. (Ich wollte
hier eigentlich „provozieren läßt" hinschreiben, aber das traue ich
mich nicht).
Jedenfalls hatte mich meine Schonung so
entsetzt, daß ich am nächsten Werktag in die Abteilungsleitung
gegangen bin und mit der zwar den Tatsachen entsprechenden, aber nicht ausschlaggebenden, sondern vorgeschobenen Begründung,
daß ich gerade bei einer wichtigen Prüfung an der Uni durchgefallen sei, weil ich wegen des Jobs nicht genug Zeit zum Lernen hätte,
gekündigt habe.
Wie ich zur Abteilungsleitung
reingegangen bin, ist mir noch aufgefallen, daß die Sekretärin, meiner
ansichtig werdend, plötzlich - mit starrem Blick auf die
Schreibmaschine - geradezu fanatisch zu schreiben begonnen hat. Der
Abteilungsleiter versicherte mir noch, daß ich jederzeit hier wieder
arbeiten könne.
Das war's dann. Ich bin dann nie mehr
dort hingegangen. Ich hatte nur mehr Aushilfs- und Tagelöhnerjobs
und so kam es zu meiner achtjährigen versicherungslosen Zeit, also
auch ohne Krankenversicherung, wo ich mir im Winter das Heizen nur
sporadisch leisten konnte und es in meiner armseligen, aber durchaus
geliebten zwölf Quadratmeter großen Erdgeschoßwohnung im Winter
meistens zwölf Grad hatte. Das ging noch. Hart wurde es bei acht
Grad, da kann man sich mit fünf Decken zudecken und es wird einem nicht
mehr warm. Aber ich habe das alles überlebt.
Jetzt habe ich noch das starke
Bedürfnis, Karl Ove Knausgård
meinen herzlichen Dank auszusprechen. Wer ihn gelesen hat, wird mich
verstehen.
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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