Sonntag, 1. März 2015

84 Fut frißt Hose


Für nicht-österreichische Leser: „Fut“ ist ein österreichisches Wort für Vagina und „Fut frißt Hose“ heißt, daß die Frau eine so enge Hose respektive Leggings anhat, daß sich die Schamlippen durch den Stoff abzeichnen und somit der Eindruck entsteht, daß die Vagina die Hose zum Auffressen „in den Mund“ nimmt. Ich weiß nicht mehr, wo ich diese Formulierung (FfH) vor Kurzem gelesen habe.

Es muß so anfang der Neunzigerjahre gewesen sein, circa ein Jahr vorher war ich beim Astrologen Döbereiner in der Beratung und er hatte mir deutlich klar gemacht, daß meine künstlerische Tätigkeit, das Malen und Zeichnen, das ich damals ausübte, ein Dreck sei und meine wirkliche Berufung die Theologie wäre. Ich habe das angenommen, mit Verwunderung zwar, aber schließlich bin ich ja zu ihm in die Beratung gegangen, weil ich selber nicht wußte, was in meinem Leben nicht stimmt, und obwohl ich damals aus der (katholischen) Kirche ausgetreten war und freiwillig nie mehr dorthin zurückgekehrt wäre, habe ich mir gedacht „auf Dein Wort hin“ und bin wieder eingetreten und habe mich aufgemacht, mein abgebrochenes Theologiestudium abzuschließen. Nebenbei jobbte ich abends bei der Post in der Briefumleitung, einer Halle mit vielen Leuten, die Briefe umsortieren.

In dieser Zeit habe ich mich aufrichtig bemüht, wieder zur katholischen Kirche zurückzufinden, ja, richtig fromm zu werden, keusch zu leben (und das meine ich nicht zynisch! Es war mir ernst damit und ich halte auch heute noch Keuschheit für keine schlechte Sache, wenn auch nicht aus kirchlich motivierten Gründen), aber je mehr ich mich dort hinzudrängen versuchte, desto stärker geriet ich in sexuelle Zwangshandlungen wie Frauenanstarren.

Nebenbei jobbte ich also bei der Post und dort arbeitete auch eine Frau, deren Leggings von der Fut aufgefressen zu werden drohten. Und ich starrte immer wieder hin. Irgendwann schmiss sie den Packen Großbriefe genervt auf das Fließband, an dem wir arbeiteten, und ging zum Aufsichtsbeamten, dort Revident genannt.

Nun bin ich ja – wie Döbereiner bei meinem Geburtsdatum richtig sagt - „scheinanwesend“ und glaube immer, man (respektive Frau) sieht mich nicht, aber das ist mir dann doch aufgefallen und ich denke mir „Uii! Jetzt hat sie mich wegen sexueller Belästigung gemeldet!“, aber weil nichts weiter passiert ist, habe ich das – erinnern Sie sich: „scheinanwesend“ - wieder vergessen.

Am nächsten Tag stapfte ich wieder frisch und munter zum Dienst, doch als ich entgegen meiner damaligen Dienstverwendung zum Großbriefkartieren (=sortieren) eingeteilt wurde, war ich irgendwie alarmiert, ohne zu wissen, wieso (gestriger Vorfall vergessen!) und mein innerer Alarm steigerte sich immer mehr.

Das Großbriefkartieren läuft so ab: vor sich hat man eine Art Stellwand aus lauter Fächern, so hoch hinauf, daß man die oberen Fächer gerade noch erreichen kann; in die Fächer sortiert man stehend die Briefe nach Postleitzahlen. An der Rückseite der Fächer sind Holzleisten angebracht, die die Briefe beim Reingeschleudertwerden daran hindern, in die Fächer der nächsten Fächerkastens dahinter zu rutschen, der mit meinem Fächerkasten sozusagen „Rücken an Rücken“ steht. So entstehen Kojen, wo je zwei Leute Rücken an Rücken einsortieren und hinter der Wand aus den zwei Rückseite an Rückseite stehende Fächerkästen ist wieder eine Koje mit zwei Leuten usw.

Also. Auf's Höchste alarmiert rede ich bei der Arbeit mit meinem Kojenkompagnon und rede und rede wie die ganzen drei Jahre vorher zusammengenommen nicht und wundere mich selber, was mit mir los ist und verstehe mich nicht. Irgendwann denke ich, ich schaue nach, wer da auf der anderen Seite meiner Fächerwand arbeitet und werfe einen Blick durch eines der Fächer durch auf die andere Seite und sehe – es ist die FfH-Frau! Unwillkürlich und sofort drehe ich meinen Kopf nach links und sehe, wie der Revident – ich höre nicht, was er zum Nebenstehenden sagt; da ist er zu weit weg – wie er - mich die ganze Zeit beobachtend – sich also mit der Hand auf den Oberschenkel schlägt, in einer Geste, die sagt: „Also doch! Wirklich! Das hätt' ich mir vom Rumpf nicht gedacht!“

Mit einem Schlag durchschaute ich das Manöver! Die Frau hat meinen sexuellen Übergriff gemeldet und sie haben mir eine Falle gestellt! Und mein Blick durchs Fach ist der Beweis! Eine saudumme Falle und ein saudummer Beweis! Denn dieser Blick durch das Fach auf die andere Seite hatte nichts mit Voyeurismus zu tun, sondern ich war einfach nur neugierig, wer auf der anderen Seite arbeitet. Aber sei's drum! Der falsche Test, aber das richtige Ergebnis.
(Nebenbei gesagt: wenn jemand bei sexuellen Belästigungen über einen Beschuldigten sagt, „aber der doch nicht! Der niemals! Der ist doch...was weiß ich... anständig, brav etc.“, dann vermute ich sehr stark, daß er es war.)

„Gut! Gut“, denke ich mir, „jetzt ist es passiert!“ Ich wurde wieder vom Großbriefkartieren abgezogen und zu meiner damals üblichen Tätigkeit beordert und weiter passierte nichts. „Gut,“ dachte ich, „es ist später Abend, die Abteilungsleitung ist längst nicht mehr im Haus, ich werde wohl morgen in die Abteilungsleitung zitiert.“ Und ich mache meine Arbeit weiter.

Ich merke aber, irgendwas stimmt nicht mit mir. Ich höre permanent ein starkes Sausen in den Ohren und fühle mich wie in Trance und höre, was die Leute reden, obwohl ich es von der Entfernung her nicht hören können sollte. So sagt z.B. einer zum andern: „Hast g'hört, der Rumpf hat … (unverständlich) .. eine Kollegin...“ Der andere: „Was? Geh! Ich habe immer geglaubt, das ist ein Warmer!“ ("Warmer": österreichisch für Schwuler).

In diesem Trancezustand habe ich meinen Dienst zu Ende gebracht und bin dann in meine Einsiedelei nach Hause gegangen und habe mich schlafen gelegt und bin bald erschöpft eingeschlafen.

Dann bin ich in einem Traum. In einem sehr stabilen und realistischen Traum, nichts verschwimmt und verwandelt sich: Ich durchquere eine grau-gelbliche Ödnis, eine Landschaft wie mit Sanddünen. Es lastet ein ungeheurer Druck auf mir, ich komme nicht mehr weiter, ich bekomme kaum noch Luft, so wie in einem extremen Sturm, nur ohne Sturm, ein stiller, beständiger, konstanter Druck, der nur als Druck gespürt, aber sonst nicht wahrgenommen werden kann. Ich komme nicht mehr weiter. Ich habe Angst. Die größte Angst. So eine Angst hatte ich noch nie erlebt, weder in der Alltagswelt, noch in den schrecklichsten Albträumen meiner Kindheit. Es ist die schiere Todesangst. Ich weiß, ich sterbe. Aber etwas an dieser schrecklichen, übergroßen, mächtigen Angst gefällt mir: sie hat nichts mit Angst vor Menschen zu tun, nichts mit den sozialen Ängsten, die ich so gut kenne, denn diese Wüste ist menschenleer, nichts damit, ob oder daß ich blamiert bin, bloßgestellt, blöd dastehe, oder ertappt oder sonstwas bin – es ist die reine Todesangst. Es ist die Angst einer Kreatur, die stirbt.

Der Druck dieser unsichtbaren Macht oder dieser Mächte auf mich wird allmählich immer stärker, ich weiß, es ist aus; und ich werde zornig, daß sich diese Mächte nicht zeigen! Ich bekomme einen regelrechten Wutanfall und mir wird alles wurscht, ich brülle mit aller Kraft den Mächten hinter der nächsten Düne zu „Zeigt's Euch! Kommt's her! Kommt's fiara von da hinten!“ Ich balle die Fäuste dabei und bin zum Kampf bereit. „Zeigt's euch gefälligst!“ Das wäre wohl das Mindeste, was sie tun können, bevor sie mich zermalmen. Da ich aber kaum atmen kann – wie bei extrem starkem Sturm – kommt aus meine Kehle aber trotz allergrößter Brüllanstrengung nur ein klägliches Gewinsel heraus. Ich denke mir „Oh je! Das gibt aber nicht viel her, damit werde ich die Kräfte nicht beeindrucken!“, aber es ist mir egal, daß ich diesen Kampf sicher verlieren werde und muß fast lachen über mein erbärmliches Gewinsel und denke „egal! Was wiegt's, das hat's!“

Dieser Wutanfall aber reißt mich aus dem Traum und ich wache in meinem Bett auf. Da erlebe ich die nächste schockierende Überraschung: ich bin an zwei Orten gleichzeitig! Nicht weit auseinander, nur ein paar Zentimeter, aber eindeutig zwei Orte.

Einerseits nehme ich mich als am Rücken liegend wahr, so, wie mein Körper tatsächlich im Bett liegt. Bei meinem Bauch ist mein Energiefeld, das ich deutlich spüre, aufgerissen; es wurlt um diese Lücke und aus dieser Lücke fließt mein Innerstes nach außen, wie ein Energiekörper, der sich dann rechts von meinem normalen Körper in Embryostellung zusammenrollt. Immer mehr fließt da von Innen rüber, ein ständiges Gewurl und ich nehme mich – andrerseits – als dieser rechts neben mir liegende Energiekörper wahr. Ich bin auch in diesem Energiehaufen.
Also gleichzeitig: ich fühle mich als Körper am Rücken liegend mit Lücke mit Gewurl am Bauch UND als daneben eingerollt liegend.

Instinktiv mache ich das Richtige (wie ich glaube): ich lege mich mit meinem Alltagskörper auch in Embryostellung nach rechts, sodaß sich Energiekörper und Normalkörper wieder vereinen können und die ausgeflossene Energie im Inneren meines realen Körpers zu liegen kommt.

Ich weiß nicht mehr, ob ich dann wieder eingeschlafen bin, jedenfalls bin ich lange so gelegen und als ich aufstehe, bin ich wieder ganz und einheitlich.

Ich bin noch heute davon überzeugt – ob zu Recht oder zu Unrecht weiß ich nicht - , daß ich damals gestorben wäre, wenn ich den Prozeß des Energieaustritts nicht gestoppt und wieder rückgängig gemacht hätte. Das Ganze hat mir aber gefallen und ich hatte gehofft, das in der nächsten Nacht wieder zu erleben.

Nun, am nächsten Tag in der Arbeit bei der Post ist wieder nichts geschehen, aber ich habe mitbekommen, daß diese Frau jetzt in einer anderen Abteilung arbeitet. Daraus habe ich geschlossen – es hat nie wer mit mir darüber geredet -, daß man mich schonen wollte – aus welchen Gründen auch immer, ich war ja sonst ein braver Arbeiter – und mit der Frau den Kompromiß abgemacht hatte, sie in eine andere Abteilung zu versetzen, wo ich ihr nicht mehr über den Weg laufe.

Das hat mich aber erst recht irritiert und war mich unheimlich! Ich hatte erwartet, daß ich zur Rede gestellt werde und ich hätte auch gesagt „Ja, das habe ich getan!“ Vielleicht hätte ich auch einen Hinweis gewagt auf die gefressen werdende Hose (in echt wohl eher nicht), aber gleich angefügt, daß ein Mann, der sein Salz wert ist, sich nicht zu sowas hinreißen läßt. (Ich wollte hier eigentlich „provozieren läßt" hinschreiben, aber das traue ich mich nicht).

Jedenfalls hatte mich meine Schonung so entsetzt, daß ich am nächsten Werktag in die Abteilungsleitung gegangen bin und mit der zwar den Tatsachen entsprechenden, aber nicht ausschlaggebenden, sondern vorgeschobenen Begründung, daß ich gerade bei einer wichtigen Prüfung an der Uni durchgefallen sei, weil ich wegen des Jobs nicht genug Zeit zum Lernen hätte, gekündigt habe.

Wie ich zur Abteilungsleitung reingegangen bin, ist mir noch aufgefallen, daß die Sekretärin, meiner ansichtig werdend, plötzlich  - mit starrem Blick auf die Schreibmaschine - geradezu fanatisch zu schreiben begonnen hat. Der Abteilungsleiter versicherte mir noch, daß ich jederzeit hier wieder arbeiten könne.

Das war's dann. Ich bin dann nie mehr dort hingegangen. Ich hatte nur mehr Aushilfs- und Tagelöhnerjobs und so kam es zu meiner achtjährigen versicherungslosen Zeit, also auch ohne Krankenversicherung, wo ich mir im Winter das Heizen nur sporadisch leisten konnte und es in meiner armseligen, aber durchaus geliebten zwölf Quadratmeter großen Erdgeschoßwohnung im Winter meistens zwölf Grad hatte. Das ging noch. Hart wurde es bei acht Grad, da kann man sich mit fünf Decken zudecken und es wird einem nicht mehr warm. Aber ich habe das alles überlebt.

Jetzt habe ich noch das starke Bedürfnis, Karl Ove Knausgård meinen herzlichen Dank auszusprechen. Wer ihn gelesen hat, wird mich verstehen.

©Peter Rumpf 2015     peteraloisrumpf@gmail.com

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