Montag, 2. März 2015

86 Die linke Hand


(Anmerkung: in Österreich verwendet man das Wort „Hand“ auch für den ganzen Arm. Und das korrekt.)

Mein Vater war Rechtshänder. Mit siebzehn Jahren meldete er sich freiwillig zur Waffen-SS, weil er zur Polizei wollte und dies angeblich über diesen Weg schneller ging. Gelernt hatte er Gerber und weil sein Chef dann schon im Krieg war, mußte er bereits im dritten Lehrjahr den Betrieb alleine führen und zwar gehandicapt durch die Schikanen einer bösartigen und sekkanten Chefin, die im auch noch unzählige Haushaltsarbeiten auferlegte. Aber es gelangt ihm. Also war er sehr tüchtig.
Er wollte auch in den Krieg, weil er glaubte, die deutsche Armee würde bald alle besiegt haben, auch das war ein Grund, sich freiwillig zu melden – daß auch er noch etwas vom Krieg und den großen Siegen erlebe.

Nach der Ausbildung ging es zum Fronteinsatz und da sie Moskitonetze ausfassten dachten alle, es ginge in den Süden. Nein, es ging in den Norden, nach Finnland gegen die Sowjets. Panzerschlachten. Ich weiß nicht, wie das militärisch heißt, aber er saß nicht im Panzer, sondern seine Truppe sollte die sowjetischen Panzer ausschalten. Er hat das so erzählt: Gleich nachdem der Panzer geschossen hatte und nachladen mußte, hinrobben, Sprengsatz anbringen, weg, in Deckung.

Dann hat es ihn erwischt. Hoher Blutverlust, er war bewußtlos, konnte aus der Frontlinie gebracht werden und kam schließlich in ein Lazarett. Dort erst kam er wieder zu Bewußtsein, konnte sich kaum rühren, seine Arme nicht bewegen. Weil es heiß war bat er den Sanitäter, ihm die Arme, die unter der Decke lagen, auf diese zu legen. Der Sanitäter tat ihm den rechten Arm auf die Bettdecke und ging weg. Mein Vater rief ihm nach: „Und was ist mit dem linken?“ Der Sanitäter kam verwundert zurück, schaute nochmals genau und sagte zu ihm: „du hast keinen linken Arm!“ So hat er es erfahren. Er war damals neunzehn Jahre alt.

Ich selber bin Linkshänder. Aber damals war das noch die „schiache“ Hand (für Nichtösterreicher: die häßliche Hand). Man durfte weder im Kindergarten, noch in der Schule mit der linken Hand zeichnen und schreiben. So wurde ich auf rechts umgepolt. Das Ergebnis: zwei linke Hände; vor allem mein Vater sagte mir das ständig, daß ich zwei linke Hände hätte und zu nichts zu gebrauchen sei, daß ich nichts könne. Er meinte, daß ich im Praktischen und Handwerklichen sehr ungeschickt sei.

Ich fühlte mich sowieso in Kirche und Gymnasium besser aufgehoben als beim Handwerklichen. Ich begann dann trotz massiver Bedenken der Eltern Theologie zu studieren und zog deswegen nach Graz. Ich hatte auch Psychologie erwogen, aber da mir der Berufsberater sagte, daß viele den Fehler machten, wegen psychischer Probleme Psychlogie zu studieren um dann enttäuscht zu sein und ich mich bei dieser Aussage ertappt fühlte, entschied ich mich für Theologie und Philosophie. Diese Fächerkombination war aber in Graz gesperrt – wie ich erst beim Inskribieren erfuhr. Vermutlich wegen des positivistischen Philosophieinstituts, die Leute dort wollten mit unaufgeklärten Religiösen nichts zu tun haben. Das war die erste von vielen Irritationen beim Studienbeginn.

Nach einem guten Jahr fleißigen und braven Studierens mit ersten Erfolgen entwickelte ich mich immer mehr zum Mensasitzer. Ich begann, mein Studium zu vernachlässigen. Ich fand mich weder im katholischen Studentenheim mit seinen tüchtigen, engagierten und selbständigen Studenten zurecht, noch mit all den Anforderungen und Umstellungen rundherum. Ich war nicht tüchtig.
Ich kam in die nachachtundsechziger Politszene und geriet zu meinem Theologiestudium in einen für mich damals unhaltbaren Gegensatz.

Einen Sommer plante ich eine Interrailreise zu machen, dabei kaufte man eine Karte, mit der man ein Monat lang in Europa mit dem Zug herumfahren konnte. Ich dachte mir, der Norden ist teuer, so billig komme ich da nie mehr hinauf. Schon ein kluger Gedanke, aber ich glaube, ich hatte einfach Angst vor dem Süden. Die Lebendigkeit, das Laute, die Lebhaftigkeit, die Kommunikationfreudigkeit, das gefürchtete Machogetue – was ich mir halt alles so an Schrecklichem vorstellte. Nein, der distanzierte, kühle und stillere Norden war für mich weniger angsteinflößend.

Ich hatte später noch jahrzehntelang immer wieder Träume davon, in den Süden aufzubrechen und an einer bestimmten Stelle in Nordjugoslawien stecken zu bleiben. Ich stand dann an einer bestimmten Stelle, in allen Träumen immer die gleiche, eine Straße durch einen Wald, die Vegetation fast wie bei uns, nur etwas trockener und mediterraner, und kam nicht weiter.

Also in den Norden. Ich schaffte es auch im kühlen und distanzierten Norden öffentlich blamiert zu werden, als eine dänische Jugendherbergsmutter (wie es damals noch hieß) mich anpfauchte, wieso ich so blöd herumstehe und nicht die Mädchen anquatsche und dabei ungläubig und verächtlich ihren Kopf schüttelte. Peinlich, peinlich! Vor allen anderen! Aber mit Alkohol fühlte ich mich besser. So war das auszuhalten.

Ich war auf dieser Reise auch in Schweden, Norwegen und Finnland – immer die Zugstrecken entlang. Im Zug von Kemi nach Rovaniemi kam ich gegenüber einem Mann zu sitzen, der mit seinen zwei kleinen Kindern unterwegs war. Ich konnte und kann kaum Englisch, aber irgendwie schafften wir es zu kommunizieren. Er war Schafzüchter, der Schafkäse oder Schafe verkauft und jetzt Geld verdient hatte, wie er mir stolz erklärte, und jetzt nach Hause auf seinen Hof fuhr. Er war schon betrunken und wir unterhielten uns. Dann sagte er mir, er werde bald aussteigen und lud mich zu sich auf seinen Hof ein. Ich fragte ihn, was seine Frau dazu sagen würde. Er aber machte eine wegwerfende Handbewegung, mit der Inbrunst eines Betrunkenen, und bedeutete mir so, mir deswegen keine Sorgen zu machen. Gut dachte ich, im hohen Norden passiert das nicht so oft. Ich nehme die Einladung an. Wir stiegen in dem kleinen Dorf Misi aus, ein Taxi wartete schon und brachte uns zu seinem etwas abgelegenen Anwesen, natürlich an einem See, in wunderschöner Landschaft.

Es stellte sich heraus, daß gar keine Frau da war, daß sie ihn schon länger verlassen hatte. Im Haus herrschte das reinste Chaos. Ich sage das ganz ohne Bewertung. Am Boden lag ein Berg Wäsche, aus dem der kleine Junge, den ich zu diesem Zeitpunkt noch für ein Mädchen hielt, etwa eineinhalb Jahre alt, glücklich zwei Socken fischte, die er sich anzuziehen bemühte. Seine Schwester, vielleicht acht, sicher nicht viel älter, eher noch jünger, half ihm dabei. Der kleine Bub ging mir überhaupt sehr zu und ich bin mit ihm an der Hand ein wenig im Garten herumspaziert.

Das Mädchen aber schämte sich sehr für die Unordnung. Unser Abendessen bestand aus meinen Jausenbroten und etwas Schafkäse. Der Mann war ordentlich betrunken und ich weiß nicht mehr, ob ich schon im Zug mit ihm mitgetrunken hatte, jetzt jedenfalls trank ich mit ihm Wodka. Das kleine Mädchen begann, das Haus zu putzen – sie schämte sich so – wir aber tranken weiter und diskutierten - wie das bei unseren schlechten Englischkenntnissen funktioniert hat, ist mir ein Rätsel. Aber vielleicht haben wir uns auf einer ganz anderen Ebene verstanden. Weil das Mädchen – voll die Rolle der Hausfrau übernehmend – den Boden aufwaschen wollte, jagte sie uns schimpfend und keifend in ein anderes Zimmer. Uns war das egal! Wir tranken und redeten. Über Naturwissenschaft. Ich war ja auch noch von der positivistischen Philosophie in Graz beeinflußt. In seiner Hingabe an seinen Vortrag nahm der Mann einen Bleistift und begann, auf die nackte Wand irgendeine Graphik zu zeichnen. Um sie zu erklären suchte er irgendein Wort. Als ich „exakt“ vorschlug nahm er es begeistert auf, wiederholte es mehrmals ganz andächtig und langsam - exakt,...exakt...exakt -  und schrieb es mehrmals an die Wand. Jetzt war die arme, tüchtige Tochter mit jenem Zimmer fertig und nahm sich dieses vor, in dem wir tranken. Wieder jagte sie uns in ein anderes Zimmer. Wir waren schon sehr betrunken. Ich kann mich nur mehr erinnern, daß der Mann von der Sowjetunion begeistert war, aber nicht wegen Sozialismus und so, sondern weil es dort KEINE Demokratie gab und deshalb die naturwissenschaftlichen Experten ungehindert durch das blöde Volk arbeiten und ihr vernünftiges Werk entfalten konnten. Ich stimmte zu, weil ich sowieso gerne zustimme und sowieso alle Leute verstehe - besonders in so einem Rausch.

Es war spät. Es wurde zwar nicht dunkel, aber wir waren müde und betrunken. Der Mann stellte es mir frei, ob ich bei ihnen im Haus oder in seinem Gartenhäuschen draußen schlafen will.
Ich überlegte – durch den Rausch verlangsamt – hin und her und entschied mich dann – vor allem aus Rücksicht auf das tapfere Mädchen – für das Gartenhaus. Der Mann sagte noch, ich könne mir jederzeit ein Feuer machen, Holz sei genug da. Ich nahm also meinen Rucksack, ging zum Gartenhaus, packte den Schlafsack aus und nach einer kleinen Rundfahrt mit dem Boot auf dem See legte ich mich hin. Es wurde eine der schrecklichsten Nächte meines Lebens.

Die Gelsen fraßen mich auf. Also die Moskitos. Ich wickelte mich in den Schlafsack, der hatte eine Kapuze, die zog ich mir über den Kopf, fast über das ganze Gesicht. Myriaden von Moskitos saugten an der einzigen kleinen, unbedeckten Stelle. Ich machte Feuer im offenen Kamin, mit viel Rauch, es half nicht wirklich. Es waren ihrer zu viele. Ich wälzte mich so hin, ich wälzte mich anders hin, drehte mich so und so, legte mich auf den Bauch, das Gesicht im Polster vergraben – es half nichts.
In meiner Verzweiflung sprang ich aus dem Schlafsack, riss mir das Hemd auf und schrie: „da habt's, ihr Arschlöcher!“ Die „Arschlöcher“ nahmen das Angebot gerne an und mein Vorsatz, einfach nicht mehr auf die Biester zu reagieren, hielt nicht lange an.

Ich hatte diese Nacht nicht geschlafen. Am Morgen machten wir uns ein bescheidenes Frühstück, ich bedankte mich bei meinem Gastgeber und verabschiedete mich und machte mich auf den Weg zurück zum Bahnhof.
Bei der Hinfahrt mit dem Taxi ging es relativ schnell, zu Fuß brauchte ich recht lange, noch dazu, wo ich auf dem Weg eine falsche Abzweigung genommen hatte. Glücklicherweise kam ich an einem Bauernhaus vorbei und konnte dort nachfragen.

Endlich an der Bahnstation von Misi stellte sich heraus, daß der nächste Zug nach Helsinki – nur wieder in den Süden! - erst am Abend ging und so kaufte ich in dem einzigen, kleinen Geschäft etwas zu essen, legte mich mit dem Schlafsack in eine Wiese neben dem Bahnhof und versuchte zu schlafen und meinen Kater loszuwerden. So ging die Reise weiter.

Zwei, drei Wochen später, auf dem Rückweg nach Graz, schaute ich für ein paar Tage bei meinen Eltern vorbei, die ich sowieso recht selten besuchte, und erzählte beim Zusammensitzen auch diese Geschichte. Da sagte mein Vater: „Dort habe ich meine Hand verloren“. Ich schaue ihn ungläubig und verwirrt an und frage: „Da? In Misi?“ „Ja, in der Nähe von Misi.“

Irgendwann mußte ich einsehen, daß das mit dem Studieren nicht weiterging. Ich versuchte nochmals, ein anderes Studium zu beginnen – dem Zeitgeist entsprechen Soziologie, aber ich war schon zu weit abgedriftet.
Beim Ferienalternativcamp 1977 am Edersee, nahe Kassel, veranstaltet von einer Emmausgesellschaft oder so ähnlich, riet mir ein Obergenosse, ein zwielichtiger Typ, der die RAF toll fand, ein ordentliches Handwerk zu lernen, „aber nicht töpfern und so, sondern Schreiner zum Beispiel.“

Vielleicht ist das der Ausweg, dachte ich dann und ließ mich in Graz auf Staatskosten zum Tischler umschulen, auch in der Hoffnung, meine zwei linken Hände loszuwerden.
Auch das ist letztlich schiefgegangen; losgeworden bin ich nur meinen halben linken Daumen an der Kreissäge.

Aber das geht. Das stört mich kaum.


©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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