86 Die linke Hand
(Anmerkung: in Österreich verwendet
man das Wort „Hand“ auch für den ganzen Arm. Und das korrekt.)
Mein Vater war Rechtshänder. Mit
siebzehn Jahren meldete er sich freiwillig zur Waffen-SS, weil er zur
Polizei wollte und dies angeblich über diesen Weg schneller ging.
Gelernt hatte er Gerber und weil sein Chef dann schon im Krieg war,
mußte er bereits im dritten Lehrjahr den Betrieb alleine führen und
zwar gehandicapt durch die Schikanen einer bösartigen und sekkanten
Chefin, die im auch noch unzählige Haushaltsarbeiten auferlegte.
Aber es gelangt ihm. Also war er sehr tüchtig.
Er wollte auch in den Krieg, weil er
glaubte, die deutsche Armee würde bald alle besiegt haben, auch das
war ein Grund, sich freiwillig zu melden – daß auch er noch etwas
vom Krieg und den großen Siegen erlebe.
Nach der Ausbildung ging es zum
Fronteinsatz und da sie Moskitonetze ausfassten dachten alle, es
ginge in den Süden. Nein, es ging in den Norden, nach Finnland gegen
die Sowjets. Panzerschlachten. Ich weiß nicht, wie das militärisch
heißt, aber er saß nicht im Panzer, sondern seine Truppe sollte die
sowjetischen Panzer ausschalten. Er hat das so erzählt: Gleich
nachdem der Panzer geschossen hatte und nachladen mußte, hinrobben,
Sprengsatz anbringen, weg, in Deckung.
Dann hat es ihn erwischt. Hoher
Blutverlust, er war bewußtlos, konnte aus der Frontlinie gebracht
werden und kam schließlich in ein Lazarett. Dort erst kam er wieder
zu Bewußtsein, konnte sich kaum rühren, seine Arme nicht bewegen.
Weil es heiß war bat er den Sanitäter, ihm die Arme, die unter der
Decke lagen, auf diese zu legen. Der Sanitäter tat ihm den rechten
Arm auf die Bettdecke und ging weg. Mein Vater rief ihm nach: „Und
was ist mit dem linken?“ Der Sanitäter kam verwundert zurück,
schaute nochmals genau und sagte zu ihm: „du hast keinen linken
Arm!“ So hat er es erfahren. Er war damals neunzehn Jahre alt.
Ich selber bin Linkshänder. Aber
damals war das noch die „schiache“ Hand (für Nichtösterreicher:
die häßliche Hand). Man durfte weder im Kindergarten, noch in der
Schule mit der linken Hand zeichnen und schreiben. So wurde ich auf
rechts umgepolt. Das Ergebnis: zwei linke Hände; vor allem mein
Vater sagte mir das ständig, daß ich zwei linke Hände hätte und
zu nichts zu gebrauchen sei, daß ich nichts könne. Er meinte, daß
ich im Praktischen und Handwerklichen sehr ungeschickt sei.
Ich fühlte mich sowieso in Kirche und
Gymnasium besser aufgehoben als beim Handwerklichen. Ich begann dann
trotz massiver Bedenken der Eltern Theologie zu studieren und zog
deswegen nach Graz. Ich hatte auch Psychologie erwogen, aber da mir
der Berufsberater sagte, daß viele den Fehler machten, wegen
psychischer Probleme Psychlogie zu studieren um dann enttäuscht zu
sein und ich mich bei dieser Aussage ertappt fühlte, entschied ich
mich für Theologie und Philosophie. Diese Fächerkombination war
aber in Graz gesperrt – wie ich erst beim Inskribieren erfuhr. Vermutlich wegen des positivistischen Philosophieinstituts, die Leute dort wollten mit
unaufgeklärten Religiösen nichts zu tun haben. Das war die
erste von vielen Irritationen beim Studienbeginn.
Nach einem guten Jahr fleißigen und
braven Studierens mit ersten Erfolgen entwickelte ich mich immer mehr
zum Mensasitzer. Ich begann, mein Studium zu vernachlässigen. Ich
fand mich weder im katholischen Studentenheim mit seinen tüchtigen,
engagierten und selbständigen Studenten zurecht, noch mit all den
Anforderungen und Umstellungen rundherum. Ich war nicht tüchtig.
Ich kam in die nachachtundsechziger
Politszene und geriet zu meinem Theologiestudium in einen für mich
damals unhaltbaren Gegensatz.
Einen Sommer plante ich eine
Interrailreise zu machen, dabei kaufte man eine Karte, mit der man
ein Monat lang in Europa mit dem Zug herumfahren konnte. Ich dachte
mir, der Norden ist teuer, so billig komme ich da nie mehr hinauf.
Schon ein kluger Gedanke, aber ich glaube, ich hatte einfach Angst
vor dem Süden. Die Lebendigkeit, das Laute, die Lebhaftigkeit, die
Kommunikationfreudigkeit, das gefürchtete Machogetue – was ich mir
halt alles so an Schrecklichem vorstellte. Nein, der distanzierte,
kühle und stillere Norden war für mich weniger angsteinflößend.
Ich hatte später noch jahrzehntelang
immer wieder Träume davon, in den Süden aufzubrechen und an einer
bestimmten Stelle in Nordjugoslawien stecken zu bleiben. Ich stand
dann an einer bestimmten Stelle, in allen Träumen immer die gleiche,
eine Straße durch einen Wald, die Vegetation fast wie bei uns, nur
etwas trockener und mediterraner, und kam nicht weiter.
Also in den Norden. Ich schaffte es
auch im kühlen und distanzierten Norden öffentlich blamiert zu
werden, als eine dänische Jugendherbergsmutter (wie es damals noch
hieß) mich anpfauchte, wieso ich so blöd herumstehe und nicht die
Mädchen anquatsche und dabei ungläubig und verächtlich ihren Kopf
schüttelte. Peinlich, peinlich! Vor allen anderen! Aber mit Alkohol
fühlte ich mich besser. So war das auszuhalten.
Ich war auf dieser Reise auch in
Schweden, Norwegen und Finnland – immer die Zugstrecken entlang. Im
Zug von Kemi nach Rovaniemi kam ich gegenüber einem Mann zu sitzen,
der mit seinen zwei kleinen Kindern unterwegs war. Ich konnte und
kann kaum Englisch, aber irgendwie schafften wir es zu kommunizieren.
Er war Schafzüchter, der Schafkäse oder Schafe verkauft und jetzt
Geld verdient hatte, wie er mir stolz erklärte, und jetzt nach Hause
auf seinen Hof fuhr. Er war schon betrunken und wir unterhielten uns.
Dann sagte er mir, er werde bald aussteigen und lud mich zu sich auf
seinen Hof ein. Ich fragte ihn, was seine Frau dazu sagen würde. Er
aber machte eine wegwerfende Handbewegung, mit der Inbrunst eines
Betrunkenen, und bedeutete mir so, mir deswegen keine Sorgen zu
machen. Gut dachte ich, im hohen Norden passiert das nicht so oft.
Ich nehme die Einladung an. Wir stiegen in dem kleinen Dorf Misi aus,
ein Taxi wartete schon und brachte uns zu seinem etwas abgelegenen
Anwesen, natürlich an einem See, in wunderschöner Landschaft.
Es stellte sich heraus, daß gar keine
Frau da war, daß sie ihn schon länger verlassen hatte. Im Haus herrschte das
reinste Chaos. Ich sage das ganz ohne Bewertung. Am Boden lag ein
Berg Wäsche, aus dem der kleine Junge, den ich zu diesem Zeitpunkt
noch für ein Mädchen hielt, etwa eineinhalb Jahre alt, glücklich
zwei Socken fischte, die er sich anzuziehen bemühte. Seine
Schwester, vielleicht acht, sicher nicht viel älter, eher noch
jünger, half ihm dabei. Der kleine Bub ging mir überhaupt sehr zu
und ich bin mit ihm an der Hand ein wenig im Garten herumspaziert.
Das Mädchen aber schämte sich sehr
für die Unordnung. Unser Abendessen bestand aus meinen Jausenbroten
und etwas Schafkäse. Der Mann war ordentlich betrunken und ich weiß
nicht mehr, ob ich schon im Zug mit ihm mitgetrunken hatte, jetzt
jedenfalls trank ich mit ihm Wodka. Das kleine Mädchen begann, das
Haus zu putzen – sie schämte sich so – wir aber tranken weiter
und diskutierten - wie das bei unseren schlechten
Englischkenntnissen funktioniert hat, ist mir ein Rätsel. Aber
vielleicht haben wir uns auf einer ganz anderen Ebene verstanden.
Weil das Mädchen – voll die Rolle der Hausfrau übernehmend –
den Boden aufwaschen wollte, jagte sie uns schimpfend und keifend in
ein anderes Zimmer. Uns war das egal! Wir tranken und redeten. Über
Naturwissenschaft. Ich war ja auch noch von der positivistischen
Philosophie in Graz beeinflußt. In seiner Hingabe an seinen Vortrag
nahm der Mann einen Bleistift und begann, auf die nackte Wand
irgendeine Graphik zu zeichnen. Um sie zu erklären suchte er
irgendein Wort. Als ich „exakt“ vorschlug nahm er es begeistert
auf, wiederholte es mehrmals ganz andächtig und langsam - exakt,...exakt...exakt - und schrieb es mehrmals an die Wand. Jetzt war die arme, tüchtige
Tochter mit jenem Zimmer fertig und nahm sich dieses vor, in dem wir
tranken. Wieder jagte sie uns in ein anderes Zimmer. Wir waren schon
sehr betrunken. Ich kann mich nur mehr erinnern, daß der Mann von
der Sowjetunion begeistert war, aber nicht wegen Sozialismus und so,
sondern weil es dort KEINE Demokratie gab und deshalb die
naturwissenschaftlichen Experten ungehindert durch das blöde Volk
arbeiten und ihr vernünftiges Werk entfalten konnten. Ich stimmte
zu, weil ich sowieso gerne zustimme und sowieso alle Leute verstehe -
besonders in so einem Rausch.
Es war spät. Es wurde zwar nicht
dunkel, aber wir waren müde und betrunken. Der Mann stellte es mir
frei, ob ich bei ihnen im Haus oder in seinem Gartenhäuschen draußen
schlafen will.
Ich überlegte – durch den Rausch
verlangsamt – hin und her und entschied mich dann – vor allem aus
Rücksicht auf das tapfere Mädchen – für das Gartenhaus. Der Mann
sagte noch, ich könne mir jederzeit ein Feuer machen, Holz sei genug
da. Ich nahm also meinen Rucksack, ging zum Gartenhaus, packte den
Schlafsack aus und nach einer kleinen Rundfahrt mit dem Boot auf dem
See legte ich mich hin. Es wurde eine der schrecklichsten Nächte
meines Lebens.
Die Gelsen fraßen mich auf. Also die
Moskitos. Ich wickelte mich in den Schlafsack, der hatte eine Kapuze,
die zog ich mir über den Kopf, fast über das ganze Gesicht.
Myriaden von Moskitos saugten an der einzigen kleinen, unbedeckten Stelle. Ich
machte Feuer im offenen Kamin, mit viel Rauch, es half nicht
wirklich. Es waren ihrer zu viele. Ich wälzte mich so hin, ich
wälzte mich anders hin, drehte mich so und so, legte mich auf den
Bauch, das Gesicht im Polster vergraben – es half nichts.
In meiner Verzweiflung sprang ich aus
dem Schlafsack, riss mir das Hemd auf und schrie: „da habt's, ihr
Arschlöcher!“ Die „Arschlöcher“ nahmen das Angebot gerne an
und mein Vorsatz, einfach nicht mehr auf die Biester zu reagieren, hielt
nicht lange an.
Ich hatte diese Nacht nicht geschlafen.
Am Morgen machten wir uns ein bescheidenes Frühstück, ich bedankte
mich bei meinem Gastgeber und verabschiedete mich und machte mich auf
den Weg zurück zum Bahnhof.
Bei der Hinfahrt mit dem Taxi ging es
relativ schnell, zu Fuß brauchte ich recht lange, noch dazu, wo ich
auf dem Weg eine falsche Abzweigung genommen hatte. Glücklicherweise
kam ich an einem Bauernhaus vorbei und konnte dort nachfragen.
Endlich an der Bahnstation von Misi
stellte sich heraus, daß der nächste Zug nach Helsinki – nur
wieder in den Süden! - erst am Abend ging und so kaufte ich in dem
einzigen, kleinen Geschäft etwas zu essen, legte mich mit dem
Schlafsack in eine Wiese neben dem Bahnhof und versuchte zu schlafen
und meinen Kater loszuwerden. So ging die Reise weiter.
Zwei, drei Wochen später, auf dem
Rückweg nach Graz, schaute ich für ein paar Tage bei meinen Eltern
vorbei, die ich sowieso recht selten besuchte, und erzählte beim Zusammensitzen auch
diese Geschichte. Da sagte mein Vater: „Dort habe ich meine Hand
verloren“. Ich schaue ihn ungläubig und verwirrt an und frage:
„Da? In Misi?“ „Ja, in der Nähe von Misi.“
Irgendwann mußte ich einsehen, daß
das mit dem Studieren nicht weiterging. Ich versuchte nochmals, ein
anderes Studium zu beginnen – dem Zeitgeist entsprechen Soziologie,
aber ich war schon zu weit abgedriftet.
Beim Ferienalternativcamp 1977 am
Edersee, nahe Kassel, veranstaltet von einer Emmausgesellschaft oder so ähnlich, riet mir ein Obergenosse, ein zwielichtiger
Typ, der die RAF toll fand, ein ordentliches Handwerk zu lernen,
„aber nicht töpfern und so, sondern Schreiner zum Beispiel.“
Vielleicht ist das der Ausweg, dachte
ich dann und ließ mich in Graz auf Staatskosten zum Tischler
umschulen, auch in der Hoffnung, meine zwei linken Hände
loszuwerden.
Auch das ist letztlich schiefgegangen;
losgeworden bin ich nur meinen halben linken Daumen an der Kreissäge.
Aber das geht. Das stört mich kaum.
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite