87 Maler Krönchen
Es war mitten in den Achzigerjahren.
Ich lebte als Wohngemeinschaft mit einer Frau im geliebten siebenten
Bezirk in Wien. Darauf lege ich wert: es war eine reine WG, wir
hatten nichts miteinander. Dabei war diese Frau äußerst begehrt –
aber das ist ein anderes Kapitel.
Die Wohnung könnte man - zumindest auf
die üblichen Standards bezogen - durchaus als etwas vernachlässigt
bezeichnen. Wir hatten auch nicht genug Geld zum Renovieren und als
im Sternzeichen der Fische Geborene nicht allzuviel Sinn für die
äußere Realität. Zum Beispiel heizten wir im Winter meistens nur
mit dem Backrohr in der Küche. Aber Kunst interessierte uns. Wenn
ich mich richtig erinnere, hatten wir am Anfang auch gar kein
Telefon.
Ich war damals noch bei der Wiener
Künstlergruppe REM und wenn man mich erreichen wollte wußte jeder:
so ab 22 Uhr in der Blue Box.
Die Blue Box war mein Wohnzimmer und
meine Kommunikationszentrale. Dort traf ich Leute, dort fühlte ich
mich angenommen, dort fühlte ich mich selbstverständlich, dort war
ich fast jeden Tag.
Ohne Trinken ging es natürlich nicht.
Aber ich brauchte nie viel Alkohol um mich wohl zu fühlen.
Manchmal hatte ich nicht genug Geld, um
mir etwas zum Trinken kaufen zu können und ging trotzdem in die Blue
Box in der Hoffnung, jemand zu treffen, der mich auf ein Bier oder
ein Glas Wein einlud. Meistens funktionierte das, die Leute kannten
mich und wenn ich mehr Geld hatte, gab auch ich Runden aus.
Ich brauchte nicht viel trinken um mich
wohl zu fühlen, aber es geschah schon häufig, daß ich ziemlich
betrunken nach Hause wankte. Ich liebte das Gefühl der Freiheit im
Rausch, die Gleichgültigkeit gegen die eigenen und die fremden
Erwartungen, die Hingabe.
Ich führte mich dort schon oft
auf; wenn ich „gut“ drauf war konnte ich schon Performances
hinlegen, daß das halbe Lokal lachte. So bin ich zum Beispiel einmal
mit einem Hund auf allen Vieren im Lokal herumgetollt, in der
Annahme, der Hund gehöre einer jungen Frau, die mir gefiel. Das war
zwar ein Irrtum, aber das machte nichts. Nur dann bei ihr zuhause
wußte ich nicht weiter, ich war aus der Rauscheuphorie rausgefallen.
Es kam öfters vor, daß ich in der
Euphorie meines Rausches und in der Hingabe an meine Performance
einen ziemliche Witz, einen ziemlichen Charme entwickeln konnte, oder
eine ziemliche Frechheit, für die oder für den manche Frauen
durchaus anfällig waren - nicht zu vergessen: alles unter der
Überschrift „Künstler“. Aber außerhalb der Blue Box war ich dann
oft sehr unsicher.
Manchmal war meine rauschige Hingabe
auch ganz religiös. So stand ich einmal – gut illuminiert – in
der Blue Box - vielleicht auch von der Musik ergriffen – und rief
allen im Lokal laut zu: „ich liebe euch! Ich liebe euch!“ Und ich meinte es ganz
ernst und empfand diese Verbundenheit mit allem und allen ganz tief. In meinem Rausch konnte ich die Welt
und die Menschen lieben und mir verzeihen.
Mein Lieblingsplatz war auf einem
niedrigen Fensterbankerl in einer Fensternische, vor allem im Winter,
der Heizkörper darunter; da saß ich oft im Mantel, den Schal wie
die Stola eines Beichtvaters offen und tatsächlich setzten sich
immer wieder Leute zu mir auf die Fensterbank und erzählten, was sie
auf dem Herzen hatten. Manchmal zahlte mir einer ein Bier. Dann gingen
sie wieder zu ihren Tischen oder an die Bar und jemand anderer setzte
sich her. Ich war schon einer der Älteren hier.
Wie man schon sehen kann war die Blue
Box kein Lokal, wo die Leute nur brav an den Tischen saßen, sondern
umherschwirrten, mal zu dem an den Tisch, dann zu der an der Bar,
dann zu einer anderen Gruppe, herumgehend, herumstehend. Darum
schrieben die Kellner und Kellnerinnen die Konsumation nicht nach
Tischen auf, sondern erfanden zumindest für jeden Stammgast ein
Kürzel. Von manchen werden sie die Namen gekannt haben, für andere
kreierten sie eine Kurzbezeichnung. Ich zum Beispiel war anfangs der
„Mann mit Hut“. Diese Kürzel waren übrigens ein sorgsam
gehütetes Geheimnis, aber meine habe ich später einmal
herausgefunden.
Das Verhältnis der Kellner und
Kellnerinnen zu den Gästen war durchaus freundschaftlich, sie waren
ungefähr gleich alt und kamen meistens aus demselben kreativen
Milieu. Zu mir waren sie besonders nett und rücksichtsvoll. Als
manche Kellnerinnen merkten, daß ich oft kein Geld hatte, weil ich
auf die Frage, was ich wolle, verlegen herumdruckste und verschämt
„ich weiß noch nicht, später“ murmelte, da fragten sie mich
gar nicht mehr von sich aus, was ich bestellen wolle, sondern ließen
mich in meiner Nische sitzen und warteten, bis ich von mir aus etwas
bestellte. So eine Rücksichtnahme! Ihr Lieben, danke, das werde ich
euch nie vergessen! Danke tausendmal! (während ich das hinschreibe
muß ich weinen.)
Ich war also der „Mann mit Hut“,
aber eines Tages änderte sich das. Und das kam so:
Ich hatte einmal eine eigenartige
Nicht-Beziehung zu einer Frau. Irgendwie war etwas, aber doch wieder
nicht. Wir kamen nicht weiter, aber nichts war es auch nicht. Ich
selber war zwiegespalten – will ich? Will ich nicht? - Sie hatte
sich von ihrem Freund gerade getrennt, oder doch nicht? Auch das
alles unklar. Dieser Mann war ein ordentlicher Macho (ich sage das
ohne Bewertung), gerüchteweise war auch Gewalt im Spiel und
Kriminelles. Jedenfalls war er mir an Lebenserfahrung und
Lebenstüchtigkeit weit überlegen – zumindest sah ich das so. Und
man kann sagen, ich fürchtete mich vor ihm.
Eines Tages lud uns diese Frau ins
Serapionstheater zum Stück „Axolotl“ ein – es waren vier
Personen: ich, ihr Ex-Freund-Freund, ihre beste Freundin, sie selber.
Es gab keine vier Plätze nebeneinander, sondern nur je zwei Plätze.
Sie löste das Dilemma so: sie und ihre Freundin nebeneinander, und
in einer ganz anderen Reihe ich und ihr Freund. Ich blieb brav sitzen
so wie hingesetzt, er aber ließ sich das nicht gefallen, ging zu den
zwei Frauen hin und setzte einen Tausch durch; jetzt ich neben ihrer
Freundin und er bei ihr. So macht man das!
Das Stück hieß „Axolotl“ und
dieses Tier ist das einzige, das sich im Larvenstadium fortpflanzen
kann. Alle Besucher bekamen beim Eintritt so ein Froschkönigkrönchen
aus Papier. Der Froschkönig ist ja auch eine Geschichte über einen
Mann, der als Frosch – vom Prinz-Sein aus gesehen - im
Larvenstadium stecken geblieben ist („wenn du mich nicht in dein
Bett lässt, dann sag ich's aber deinem Papa!“) und nur erlöst
wird, wenn die Prinzessin ihn aus ihrem Bett wirft und an die Wand
schmeißt – nur über die Zurückweisung wegen Unreife kann er sich
zum Prinzen und ebenbürtigen Partner weiterentwickeln.
Prinzessinnen! Das Märchen sagt: ja nicht küssen! An die Wand
knallen! Sonst gibt’s eine Tragödie. Das sagt das Märchen.
Ich kann mich nur mehr an die erste
Szene halbwegs klar erinnern, denn diese hat mich total erschüttert.
Die Bühne ist leer. Es wird ein
Kinderwagen aus dem Hintergrund auf die Bühne geschubst. Man sieht
keinen Menschen, der den Kinderwagen anschiebt. Sozusagen auf die
Bühne des Lebens gestoßen. Dann hört man Babygeschrei. Also ist im
Kinderwagen ein Baby. (nicht in Echt, nur dargestellt). Das Baby
weint, nichts geschieht. Eine ungeheuerliche Einsamkeit auf der
Bühne, die mir noch jetzt die Tränen in die Augen treibt.
Dann kommen echsenartig verkleidete
Menschengestalten auf die Bühne, schauen in den Kinderwagen, fangen
an mit „didi“ und „dada“, rasseln, wollen das weinende Baby
mit Spielzeug ablenken, aber sie haben überhaupt kein Gefühl für
das weinende Kind, überhaupt keine Empathie, als wäre das Kind auch
nur so eine Art Spielzeug. Es ist entsetzlich, ganz entsetzlich! Sie
sind wie der Froschkönig im Larvenstadium und mit dem Kind
überfordert, emotional überfordert.
Mich hat die Szene zutiefst
erschüttert, denn ich hatte ein paar Jahre vorher aus
Froschkönigsgründen (von der Prinzessin nicht aus ihrem Bett
geworfen - oder war sie gar selber ein Axolotl?) eine Abtreibung erlebt. Im Larvenstadium mit einem Kind
überfordert.
Ich bin ganz betroffen und
erschüttert aus dem Theater gegangen.
Aber mein Blue-Box-Leben ging weiter.
Die Blue Box mit ihren großen Fenstern nannte ich jetzt spöttisch
und liebevoll Kaulquappenaquarium, wo sich die Leute im
Durchgangsstadium aufhielten. Studenten, andere Leute in diversen
Ausbildungen. Nur mein Stadium dauerte schon recht lang.
Eines Tages denke ich mir: ich habe ja
nicht viel Geld, es wäre doch gescheiter, ich betrinke mich schon zu
Hause ein wenig, das ist billiger und dann muß ich in den Lokalen
nicht so viel konsumieren.
Zuhause hatte ich nie Alkohol – der
war nur für soziale Situationen notwendig. Aber jetzt kaufte ich mir
eine Flasche Wodka und versuchte mich zuhause allein zumindest leicht
anzutrinken. Ich war dann aber schnell ziemlich betrunken und bevor
ich in die Blue Box aufbrach, fiel mein Blick auf das
Froschkönigkrönchen aus dem Serapionstheater, das an meinem
Bücherregal hing. Ich setzte mir dieses kleine Krönchen auf und
marschierte stolz duch die geliebte Neubaugasse in die geliebte Blue Box.
Die Kellnerinnen waren hingerissen, so
sehr, daß sie mein Kürzel änderten: Maler Krönchen.
Das mit dem zuhause Vorglühen habe ich
gleich wieder aufgegeben; Trinken hatte für mich nur in Gesellschaft
Sinn. Allein brauchte ich es nicht.
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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