Mittwoch, 4. März 2015

87 Maler Krönchen


Es war mitten in den Achzigerjahren. Ich lebte als Wohngemeinschaft mit einer Frau im geliebten siebenten Bezirk in Wien. Darauf lege ich wert: es war eine reine WG, wir hatten nichts miteinander. Dabei war diese Frau äußerst begehrt – aber das ist ein anderes Kapitel.
Die Wohnung könnte man - zumindest auf die üblichen Standards bezogen - durchaus als etwas vernachlässigt bezeichnen. Wir hatten auch nicht genug Geld zum Renovieren und als im Sternzeichen der Fische Geborene nicht allzuviel Sinn für die äußere Realität. Zum Beispiel heizten wir im Winter meistens nur mit dem Backrohr in der Küche. Aber Kunst interessierte uns. Wenn ich mich richtig erinnere, hatten wir am Anfang auch gar kein Telefon.

Ich war damals noch bei der Wiener Künstlergruppe REM und wenn man mich erreichen wollte wußte jeder: so ab 22 Uhr in der Blue Box.
Die Blue Box war mein Wohnzimmer und meine Kommunikationszentrale. Dort traf ich Leute, dort fühlte ich mich angenommen, dort fühlte ich mich selbstverständlich, dort war ich fast jeden Tag.
Ohne Trinken ging es natürlich nicht. Aber ich brauchte nie viel Alkohol um mich wohl zu fühlen.

Manchmal hatte ich nicht genug Geld, um mir etwas zum Trinken kaufen zu können und ging trotzdem in die Blue Box in der Hoffnung, jemand zu treffen, der mich auf ein Bier oder ein Glas Wein einlud. Meistens funktionierte das, die Leute kannten mich und wenn ich mehr Geld hatte, gab auch ich Runden aus.

Ich brauchte nicht viel trinken um mich wohl zu fühlen, aber es geschah schon häufig, daß ich ziemlich betrunken nach Hause wankte. Ich liebte das Gefühl der Freiheit im Rausch, die Gleichgültigkeit gegen die eigenen und die fremden Erwartungen, die Hingabe.

Ich führte mich dort schon oft auf; wenn ich „gut“ drauf war konnte ich schon Performances hinlegen, daß das halbe Lokal lachte. So bin ich zum Beispiel einmal mit einem Hund auf allen Vieren im Lokal herumgetollt, in der Annahme, der Hund gehöre einer jungen Frau, die mir gefiel. Das war zwar ein Irrtum, aber das machte nichts. Nur dann bei ihr zuhause wußte ich nicht weiter, ich war aus der Rauscheuphorie rausgefallen.
Es kam öfters vor, daß ich in der Euphorie meines Rausches und in der Hingabe an meine Performance einen ziemliche Witz, einen ziemlichen Charme entwickeln konnte, oder eine ziemliche Frechheit, für die oder für den manche Frauen durchaus anfällig waren - nicht zu vergessen: alles unter der Überschrift „Künstler“. Aber außerhalb der Blue Box war ich dann oft sehr unsicher.

Manchmal war meine rauschige Hingabe auch ganz religiös. So stand ich einmal – gut illuminiert – in der Blue Box - vielleicht auch von der Musik ergriffen – und rief allen im Lokal laut zu: „ich liebe euch! Ich liebe euch!“ Und ich meinte es ganz ernst und empfand diese Verbundenheit mit allem und allen ganz tief. In meinem Rausch konnte ich die Welt und die Menschen lieben und mir verzeihen.

Mein Lieblingsplatz war auf einem niedrigen Fensterbankerl in einer Fensternische, vor allem im Winter, der Heizkörper darunter; da saß ich oft im Mantel, den Schal wie die Stola eines Beichtvaters offen und tatsächlich setzten sich immer wieder Leute zu mir auf die Fensterbank und erzählten, was sie auf dem Herzen hatten. Manchmal zahlte mir einer ein Bier. Dann gingen sie wieder zu ihren Tischen oder an die Bar und jemand anderer setzte sich her. Ich war schon einer der Älteren hier.

Wie man schon sehen kann war die Blue Box kein Lokal, wo die Leute nur brav an den Tischen saßen, sondern umherschwirrten, mal zu dem an den Tisch, dann zu der an der Bar, dann zu einer anderen Gruppe, herumgehend, herumstehend. Darum schrieben die Kellner und Kellnerinnen die Konsumation nicht nach Tischen auf, sondern erfanden zumindest für jeden Stammgast ein Kürzel. Von manchen werden sie die Namen gekannt haben, für andere kreierten sie eine Kurzbezeichnung. Ich zum Beispiel war anfangs der „Mann mit Hut“. Diese Kürzel waren übrigens ein sorgsam gehütetes Geheimnis, aber meine habe ich später einmal herausgefunden.

Das Verhältnis der Kellner und Kellnerinnen zu den Gästen war durchaus freundschaftlich, sie waren ungefähr gleich alt und kamen meistens aus demselben kreativen Milieu. Zu mir waren sie besonders nett und rücksichtsvoll. Als manche Kellnerinnen merkten, daß ich oft kein Geld hatte, weil ich auf die Frage, was ich wolle, verlegen herumdruckste und verschämt „ich weiß noch nicht, später“ murmelte, da fragten sie mich gar nicht mehr von sich aus, was ich bestellen wolle, sondern ließen mich in meiner Nische sitzen und warteten, bis ich von mir aus etwas bestellte. So eine Rücksichtnahme! Ihr Lieben, danke, das werde ich euch nie vergessen! Danke tausendmal! (während ich das hinschreibe muß ich weinen.)

Ich war also der „Mann mit Hut“, aber eines Tages änderte sich das. Und das kam so:
Ich hatte einmal eine eigenartige Nicht-Beziehung zu einer Frau. Irgendwie war etwas, aber doch wieder nicht. Wir kamen nicht weiter, aber nichts war es auch nicht. Ich selber war zwiegespalten – will ich? Will ich nicht? - Sie hatte sich von ihrem Freund gerade getrennt, oder doch nicht? Auch das alles unklar. Dieser Mann war ein ordentlicher Macho (ich sage das ohne Bewertung), gerüchteweise war auch Gewalt im Spiel und Kriminelles. Jedenfalls war er mir an Lebenserfahrung und Lebenstüchtigkeit weit überlegen – zumindest sah ich das so. Und man kann sagen, ich fürchtete mich vor ihm.

Eines Tages lud uns diese Frau ins Serapionstheater zum Stück „Axolotl“ ein – es waren vier Personen: ich, ihr Ex-Freund-Freund, ihre beste Freundin, sie selber. Es gab keine vier Plätze nebeneinander, sondern nur je zwei Plätze. Sie löste das Dilemma so: sie und ihre Freundin nebeneinander, und in einer ganz anderen Reihe ich und ihr Freund. Ich blieb brav sitzen so wie hingesetzt, er aber ließ sich das nicht gefallen, ging zu den zwei Frauen hin und setzte einen Tausch durch; jetzt ich neben ihrer Freundin und er bei ihr. So macht man das!

Das Stück hieß „Axolotl“ und dieses Tier ist das einzige, das sich im Larvenstadium fortpflanzen kann. Alle Besucher bekamen beim Eintritt so ein Froschkönigkrönchen aus Papier. Der Froschkönig ist ja auch eine Geschichte über einen Mann, der als Frosch – vom Prinz-Sein aus gesehen - im Larvenstadium stecken geblieben ist („wenn du mich nicht in dein Bett lässt, dann sag ich's aber deinem Papa!“) und nur erlöst wird, wenn die Prinzessin ihn aus ihrem Bett wirft und an die Wand schmeißt – nur über die Zurückweisung wegen Unreife kann er sich zum Prinzen und ebenbürtigen Partner weiterentwickeln. Prinzessinnen! Das Märchen sagt: ja nicht küssen! An die Wand knallen! Sonst gibt’s eine Tragödie. Das sagt das Märchen.

Ich kann mich nur mehr an die erste Szene halbwegs klar erinnern, denn diese hat mich total erschüttert.
Die Bühne ist leer. Es wird ein Kinderwagen aus dem Hintergrund auf die Bühne geschubst. Man sieht keinen Menschen, der den Kinderwagen anschiebt. Sozusagen auf die Bühne des Lebens gestoßen. Dann hört man Babygeschrei. Also ist im Kinderwagen ein Baby. (nicht in Echt, nur dargestellt). Das Baby weint, nichts geschieht. Eine ungeheuerliche Einsamkeit auf der Bühne, die mir noch jetzt die Tränen in die Augen treibt.

Dann kommen echsenartig verkleidete Menschengestalten auf die Bühne, schauen in den Kinderwagen, fangen an mit „didi“ und „dada“, rasseln, wollen das weinende Baby mit Spielzeug ablenken, aber sie haben überhaupt kein Gefühl für das weinende Kind, überhaupt keine Empathie, als wäre das Kind auch nur so eine Art Spielzeug. Es ist entsetzlich, ganz entsetzlich! Sie sind wie der Froschkönig im Larvenstadium und mit dem Kind überfordert, emotional überfordert.

Mich hat die Szene zutiefst erschüttert, denn ich hatte ein paar Jahre vorher aus Froschkönigsgründen (von der Prinzessin nicht aus ihrem Bett geworfen - oder war sie gar selber ein Axolotl?) eine Abtreibung erlebt. Im Larvenstadium mit einem Kind überfordert.
Ich bin ganz betroffen und erschüttert aus dem Theater gegangen.

Aber mein Blue-Box-Leben ging weiter. Die Blue Box mit ihren großen Fenstern nannte ich jetzt spöttisch und liebevoll Kaulquappenaquarium, wo sich die Leute im Durchgangsstadium aufhielten. Studenten, andere Leute in diversen Ausbildungen. Nur mein Stadium dauerte schon recht lang.

Eines Tages denke ich mir: ich habe ja nicht viel Geld, es wäre doch gescheiter, ich betrinke mich schon zu Hause ein wenig, das ist billiger und dann muß ich in den Lokalen nicht so viel konsumieren.

Zuhause hatte ich nie Alkohol – der war nur für soziale Situationen notwendig. Aber jetzt kaufte ich mir eine Flasche Wodka und versuchte mich zuhause allein zumindest leicht anzutrinken. Ich war dann aber schnell ziemlich betrunken und bevor ich in die Blue Box aufbrach, fiel mein Blick auf das Froschkönigkrönchen aus dem Serapionstheater, das an meinem Bücherregal hing. Ich setzte mir dieses kleine Krönchen auf und marschierte stolz duch die geliebte Neubaugasse in die geliebte Blue Box.

Die Kellnerinnen waren hingerissen, so sehr, daß sie mein Kürzel änderten: Maler Krönchen.

Das mit dem zuhause Vorglühen habe ich gleich wieder aufgegeben; Trinken hatte für mich nur in Gesellschaft Sinn. Allein brauchte ich es nicht.



©Peter Rumpf 2015   peteraloisrumpf@gmail.com

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