90 "Die Wellen sollen kommen!"
„Die Wellen sollen kommen!“ oder
wie ich meine erste bewußte, klare und eindeutige Entscheidung
meines Lebens getroffen habe.
Ich bin ja recht kleinbürgerlich
aufgewachsen. Wie anders war das bei Tante Frieda! Während wir zu
Hause einen bis höchstens eineinhalb Löffel Benco oder Suchard
express in die Milch geben durften, sagte Tante Frieda, als ich bei
ihr auf Besuch war, „ach, gib' ruhig drei Löffel rein, du bist
hier ja nicht bei deiner Mutter!“ und lachte.
Uns hat es nie wirklich an etwas
gemangelt, schon gar nicht beim Essen. Meine Mutter war eine
ausgezeichnete Köchin und wir waren auch kleidungsmäßig immer gut
„ausstaffiert“ - wie sie das nannte – besonders ich, denn ich
wurde gegenüber meinen Schwestern bevorzugt.
Den einen oder anderen Mißgriff gab es
schon, zum Beispiel einen furchtbaren Hut, den „wir“ in Vorau,
während eines Besuches bei Tante Frieda gekauft hatten, weil auch
mein Cousin einen tollen Hut hatte, der ihm aber tatsächlich passte.
Meiner war mir mit meinem kleinen Kopf etwas zu groß und statt keck
schaute das beschissen aus. Aber es gab keinen in der richtigen Größe
im Geschäft. Und obwohl meine Mutter nach einer Diskussion mit
ihrer Schwester Frieda auch einsah, daß der mir nicht passte, und
obwohl Tante Frieda für mich Partei ergriff (obwohl ich eh nicht
wirklich aufzubegehren wagte), mußte ich ihn, weil „wir“ ihn nun
schon einmal gekauft hatten, auch tragen, tapfer tragen, denn gekauft
ist gekauft, sonst hätten wir das Geld umsonst ausgegeben.
Ja und das Essen! Sie hatte aus ihrer
Schweizer Zeit als Hausmädchen bei einer reichen Familie – also
ein echter Nachkriegs-Wirtschaftsflüchtling – ganz wunderbare
Rezepte mitgebracht. Zum Beispiel Blutwurst mit Erdäpfel, aber nicht
mit Sauerkraut, wie bei uns in Österreich üblich, sondern mit Apfelkompott.
Wunderbar! Wunderbar! Also Not litten wir keine.
Aber Tante Frieda war meine
Lieblingstante. Welch ein anderes Leben dort! Ein offenes Haus,
Freunde gingen aus und ein, Feste wurden gefeiert, es wurde gelacht
und gesungen, und so weiter.
Ich war als Kind oft dort, meistens
zwei Wochen in den Sommerferien und ich konnte dort ein wenig
aufblühen.
Die Familie war aus meiner Perspektive
auch wohlhabender und sie fuhren jeden Sommer nach Jugoslawien ans
Meer.
Klar, daß ich als Kind sehr gerne bei
ihnen war, mit Cousin und Cousine verstand ich mich gut.
Ich war neun Jahre alt und verbrachte
wieder zwei, drei Wochen bei ihnen in der Oststeiermark. Ich war
alleine dort und ich war glücklich dort. Ich bewunderte die Schätze
meines Cousins, die er vom Meer mitgebracht hatte: Seeigel,
Seesterne, Muscheln. Und ich hörte fasziniert seine Erzählungen vom
Campingurlaub am Meer. Ich bewunderte seine Selbstsicherheit und seine
Coolness, und obwohl er zwei Jahre jünger war, blickte ich zu ihm
auf. Neidlos kann ich nicht sagen, aber seine Überlegenheit hatte
ich anerkannt. Ja, hier bei ihnen, da war das richtige Leben.
Und ich hatte Sehnsucht nach dem
richtigen Leben und dem Meer. Diese Sehnsucht verspürte ich stark,
aber ich war es gewohnt: Wünsche werden nicht erfüllt, das „Nein,
das können wir uns nicht leisten!“ war an den Wunsch schon
angewachsen. So hatte es auch keinen Sinn, Wünsche, Bedürfnisse zu
äußern.
Wie gesagt, ich war alleine dort, aber
gegen Ende meines Aufenthalts kamen auch meine Mutter mit meinen
Schwestern auf ein paar Tage zu Besuch und so saßen wir alle eines
Nachmittags im (alten) Vorauer Schwimmbad, schon Mitte, oder eher
Ende August, die Tage schon deutlich kürzer und kühler, und wieder
wurde vom heurigen Campingurlaub am Meer erzählt.
Da traf ich die erste bewußte, klare,
eineindeutige Entscheidung meines jungen Lebens: ICH WILL ANS MEER!
Und sofort begann ich mit der Umsetzung meiner Entscheidung. Gleich an Ort und Stelle jammerte ich meine Mutter an, daß wir auch einmal ans Meer
fahren sollten. Es war klar, das können wir uns nicht leisten und
mir war auch klar, daß wir nie ans Meer fahren werden, aber ich
hörte nicht auf, meine Mutter anzujammern: „Bitte! Fahren wir auch
ans Meer!“ Und sie pfauchte zurück – so halblaut, als sollte es
niemand hören - „Was bildet du dir ein! Das können wir uns nicht
leisten!“ Ungehalten, zornig, empört. Sie war es von mir gewohnt,
daß ich immer einsehe, daß dieses und jenes nicht geht. Ich hatte
immer, immer alles eingesehen. Aber diesmal – so schien es –
nicht! „Warum nicht? Mutti! Bitte fahren wir auch einmal ans Meer!“
Jetzt war sie richtig wütend: „Schluß
jetzt! Hör auf damit! Das können wir uns nicht leisten! Ich weiß
nicht was du hast, du bist doch sonst nicht so unvernünftig!“
Jetzt hörte ich auf; ich merkte, jetzt
genügt es, denn ich wußte genau, was ich hatte: die Tante Frieda
neben mir sitzen. Für ihre Ohren war meine Inszenierung
bestimmt. Sie hatte nichts zu der Szene gesagt, aber meine Strategie
ging auf. Nach Rücksprache mit ihrem Mann wurde mir ausgerichtet: nächsten Sommer darf ich mit ihnen ans Meer
fahren.
Ich finde, das war eine sehr höfliche,
einfühlsame Strategie für einen Neunjährigen! Meine Lieblingstante
konnte deutlich meine Bitte an sie hören, aber offiziell war mein
Wunsch an meine Mutter gerichtet. Das hätte ihr die Möglichkeit
geboten, wenn sie mich nicht mitnehmen wollte, sich einfach ohne
Gesichtsverlust nicht betroffen zu fühlen und ihr die unangenehme
Situation erspart, offen nein sagen zu müssen. Ich wäre ihr bei
einem Nein auch nicht böse gewesen, denn einen Anspruch aufs
Mitgenommen-Werden zu haben, eine solche Idee hatte ich nicht.
Ich war recht stolz darauf, wie ich das
eingefädelt hatte und bin es heute noch. Im Sommer 1964 fuhr ich
also mit ihnen nach Jugoslawien. Mein großes Abenteuer.
Zuerst war ich eine Woche bei ihnen in
Vorau, dann erst brachen wir nach Jugoslawien auf. Ich war aufgeregt,
fürchtete mich vorm kommunistischen Jugoslawien, vor dem roten Stern
an den Mützen der Polizisten und vor der fremden slawischen Sprache.
Aber ich wollte das Meer sehen.
Da ist diese Stelle kurz vor Rijeka, mein Cousin machte mich schon eine halbe
Stunde, bevor wir sie erreichten, darauf aufmerksam, daß man jetzt bald das Meer sehen wird, und endlich, endlich sah ich das Meer. Seine Weite hat mich
überwältigt, das Glitzern des Sonnenlichts auf der
Wasseroberfläche, jetzt aus der Ferne noch; die ruhige,
majestätische Hingegossenheit, seine Großartigkeit, seine
Herrlichkeit. Ich war ergriffen. (Noch jetzt, wo ich das hinschreibe,
kommen mir die Tränen). Wie erfüllt war meine kleine Seele!
Wir fuhren weiter auf die Insel Krk –
damals gab es die Brücke noch nicht – von Crikvenica mit der Fähre
nach Šilo
– wenn ich es richtig in Erinnerung habe – und weiter nach Punat.
Der Campingplatz neu angelegt, die Pinien noch jung und nieder; ich
wurde auch krank und vertrug die starke Sonne nicht gleich, aber
egal, ich war am Meer.
Ich
kann mich noch erinnern, daß ich mich vor einem großen Insekt
fürchtete, groß und fremdartig, und daß ich laut schrie, vor allen
Leuten am Strand und zu deren Erheiterung, aber diese Peinlichkeit
konnte mein Glück nicht nachhaltig trüben.
Das
Yugo-Cola – so entschieden wir – schmeckt besser als unseres.
(Die Einheimischen dort haben es vielleicht umgekehrt gesehen. Wer
weiß.) Ich sah einen Mann am Strand seiner Freundin den Oberteil
ihres Bikinis streicheln, oder besser gesagt, durch den Oberteil
ihren Busen. Und einiges anderes, was das Leben so zeigt.
Mein
Cousin und ich spielten viel, dachten uns alles Mögliche aus. Meiner
Cousine – ungefähr gleich alt wie ich – waren unsere Spiele
meistens zu kindisch – die Mädchen sind immer etwas weiter, als
die Buben – und sie spielte oft nur am Rande mit. So habe ich es
jedenfalls in Erinnerung.
Wir
wollten unbedingt höhere Wellen im Meer, und wie sich das entwickelt
hat, weiß ich nicht mehr, aber schließlich entschieden mein Cousin
und ich, daß ich der „Gott des Meeres“ sein sollte, zuständig
dafür, das Wasser in Bewegung zu halten und mein Cousin der „Gott
des Windes“, zuständig dafür, mit ordentlichem Wind die Wellen
hochzuschaukeln. Wir diskutierten noch kurz, was meine Cousine sein
sollte, und wir beschlossen, daß sie – sie lag gerade am Strand -
die „Göttin der Erde“ sei. Da kann sie weiterhin lesend am
Strand liegen und hat mit den Wellen nicht viel zu tun. Während wir
zwei Götter jetzt die Arbeit hatten, für höhere Wellen zu sorgen,
ja, höhere Wellen zu machen. Also stellten wir uns ans Ufer und
befahlen laut rufend, so laut wir konnten: „Die Wellen sollen
kommen!“ Und tatsächlich! Waren die Wellen nicht schon ein wenig
höher? Hast du es auch bemerkt? Ja, sicher. Nicht viel, aber etwas.
Ich bilde mir ein, mich zu erinnern, daß meine Cousine eine
skeptische Bemerkung diesbezüglich zu Tante Frieda machte.
Manchmal
wird eine Welle schon etwas höher gewesen sein, dennoch waren wir meistens am Rande der Frustration, wenn unsere magischen
Beschwörungen, unsere göttlichen Befehle, trotz wiederholter
Ausrufungen, nicht recht wirkten; schließlich waren wir ja Götter
und sollten allmächtig, oder zumindest ziemlich mächtig sein.
Aber
es gab Augenblicke, da kam wirklich eine deutlich höhere Welle auf uns zu,
und zumindest ich glaubte für einen Moment, tatsächlich magische
Kräfte zu haben, da stand ich dann staunend mit offenen Mund da.
Zumindest habe ich es so in Erinnerung.
Wie
gesagt, meine Cousine, die Göttin der Erde, blieb wohl etwas
skeptisch am Rande des Geschehens liegen, aber dennoch, so schlecht
war unsere Zuordnung nicht, denn meine Cousine ist im Erdzeichen
Jungfrau geboren, mein Cousin im Luftzeichen Zwilling, und ich im
Wasserzeichen Fisch, mit dem Herrscher Neptun, dem Gott des Meeres.
„Die
Wellen sollen kommen!“, dieser Satz wurde zum Running Gag in der
Familie.
Ich
habe nur noch einmal in meinem Leben eine so bewußte und klare
Zielentscheidung getroffen, und da ging es um eine
Frau. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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