Samstag, 7. März 2015

90 "Die Wellen sollen kommen!"


„Die Wellen sollen kommen!“ oder wie ich meine erste bewußte, klare und eindeutige Entscheidung meines Lebens getroffen habe.

Ich bin ja recht kleinbürgerlich aufgewachsen. Wie anders war das bei Tante Frieda! Während wir zu Hause einen bis höchstens eineinhalb Löffel Benco oder Suchard express in die Milch geben durften, sagte Tante Frieda, als ich bei ihr auf Besuch war, „ach, gib' ruhig drei Löffel rein, du bist hier ja nicht bei deiner Mutter!“ und lachte.

Uns hat es nie wirklich an etwas gemangelt, schon gar nicht beim Essen. Meine Mutter war eine ausgezeichnete Köchin und wir waren auch kleidungsmäßig immer gut „ausstaffiert“ - wie sie das nannte – besonders ich, denn ich wurde gegenüber meinen Schwestern bevorzugt.
Den einen oder anderen Mißgriff gab es schon, zum Beispiel einen furchtbaren Hut, den „wir“ in Vorau, während eines Besuches bei Tante Frieda gekauft hatten, weil auch mein Cousin einen tollen Hut hatte, der ihm aber tatsächlich passte. Meiner war mir mit meinem kleinen Kopf etwas zu groß und statt keck schaute das beschissen aus. Aber es gab keinen in der richtigen Größe im Geschäft. Und obwohl meine Mutter nach einer Diskussion mit ihrer Schwester Frieda auch einsah, daß der mir nicht passte, und obwohl Tante Frieda für mich Partei ergriff (obwohl ich eh nicht wirklich aufzubegehren wagte), mußte ich ihn, weil „wir“ ihn nun schon einmal gekauft hatten, auch tragen, tapfer tragen, denn gekauft ist gekauft, sonst hätten wir das Geld umsonst ausgegeben.

Ja und das Essen! Sie hatte aus ihrer Schweizer Zeit als Hausmädchen bei einer reichen Familie – also ein echter Nachkriegs-Wirtschaftsflüchtling – ganz wunderbare Rezepte mitgebracht. Zum Beispiel Blutwurst mit Erdäpfel, aber nicht mit Sauerkraut, wie bei uns in Österreich üblich, sondern mit Apfelkompott. Wunderbar! Wunderbar! Also Not litten wir keine.

Aber Tante Frieda war meine Lieblingstante. Welch ein anderes Leben dort! Ein offenes Haus, Freunde gingen aus und ein, Feste wurden gefeiert, es wurde gelacht und gesungen, und so weiter.
Ich war als Kind oft dort, meistens zwei Wochen in den Sommerferien und ich konnte dort ein wenig aufblühen.
Die Familie war aus meiner Perspektive auch wohlhabender und sie fuhren jeden Sommer nach Jugoslawien ans Meer.
Klar, daß ich als Kind sehr gerne bei ihnen war, mit Cousin und Cousine verstand ich mich gut.

Ich war neun Jahre alt und verbrachte wieder zwei, drei Wochen bei ihnen in der Oststeiermark. Ich war alleine dort und ich war glücklich dort. Ich bewunderte die Schätze meines Cousins, die er vom Meer mitgebracht hatte: Seeigel, Seesterne, Muscheln. Und ich hörte fasziniert seine Erzählungen vom Campingurlaub am Meer. Ich bewunderte seine Selbstsicherheit und seine Coolness, und obwohl er zwei Jahre jünger war, blickte ich zu ihm auf. Neidlos kann ich nicht sagen, aber seine Überlegenheit hatte ich anerkannt. Ja, hier bei ihnen, da war das richtige Leben.

Und ich hatte Sehnsucht nach dem richtigen Leben und dem Meer. Diese Sehnsucht verspürte ich stark, aber ich war es gewohnt: Wünsche werden nicht erfüllt, das „Nein, das können wir uns nicht leisten!“ war an den Wunsch schon angewachsen. So hatte es auch keinen Sinn, Wünsche, Bedürfnisse zu äußern.

Wie gesagt, ich war alleine dort, aber gegen Ende meines Aufenthalts kamen auch meine Mutter mit meinen Schwestern auf ein paar Tage zu Besuch und so saßen wir alle eines Nachmittags im (alten) Vorauer Schwimmbad, schon Mitte, oder eher Ende August, die Tage schon deutlich kürzer und kühler, und wieder wurde vom heurigen Campingurlaub am Meer erzählt.

Da traf ich die erste bewußte, klare, eineindeutige Entscheidung meines jungen Lebens: ICH WILL ANS MEER!

Und sofort begann ich mit der Umsetzung meiner Entscheidung. Gleich an Ort und Stelle jammerte ich meine Mutter an, daß wir auch einmal ans Meer fahren sollten. Es war klar, das können wir uns nicht leisten und mir war auch klar, daß wir nie ans Meer fahren werden, aber ich hörte nicht auf, meine Mutter anzujammern: „Bitte! Fahren wir auch ans Meer!“ Und sie pfauchte zurück – so halblaut, als sollte es niemand hören - „Was bildet du dir ein! Das können wir uns nicht leisten!“ Ungehalten, zornig, empört. Sie war es von mir gewohnt, daß ich immer einsehe, daß dieses und jenes nicht geht. Ich hatte immer, immer alles eingesehen. Aber diesmal – so schien es – nicht! „Warum nicht? Mutti! Bitte fahren wir auch einmal ans Meer!“
Jetzt war sie richtig wütend: „Schluß jetzt! Hör auf damit! Das können wir uns nicht leisten! Ich weiß nicht was du hast, du bist doch sonst nicht so unvernünftig!“

Jetzt hörte ich auf; ich merkte, jetzt genügt es, denn ich wußte genau, was ich hatte: die Tante Frieda neben mir sitzen. Für ihre Ohren war meine Inszenierung bestimmt. Sie hatte nichts zu der Szene gesagt, aber meine Strategie ging auf. Nach Rücksprache mit ihrem Mann wurde mir ausgerichtet: nächsten Sommer darf ich mit ihnen ans Meer fahren.

Ich finde, das war eine sehr höfliche, einfühlsame Strategie für einen Neunjährigen! Meine Lieblingstante konnte deutlich meine Bitte an sie hören, aber offiziell war mein Wunsch an meine Mutter gerichtet. Das hätte ihr die Möglichkeit geboten, wenn sie mich nicht mitnehmen wollte, sich einfach ohne Gesichtsverlust nicht betroffen zu fühlen und ihr die unangenehme Situation erspart, offen nein sagen zu müssen. Ich wäre ihr bei einem Nein auch nicht böse gewesen, denn einen Anspruch aufs Mitgenommen-Werden zu haben, eine solche Idee hatte ich nicht.

Ich war recht stolz darauf, wie ich das eingefädelt hatte und bin es heute noch. Im Sommer 1964 fuhr ich also mit ihnen nach Jugoslawien. Mein großes Abenteuer.

Zuerst war ich eine Woche bei ihnen in Vorau, dann erst brachen wir nach Jugoslawien auf. Ich war aufgeregt, fürchtete mich vorm kommunistischen Jugoslawien, vor dem roten Stern an den Mützen der Polizisten und vor der fremden slawischen Sprache. Aber ich wollte das Meer sehen.

Da ist diese Stelle kurz vor Rijeka, mein Cousin machte mich schon eine halbe Stunde, bevor wir sie erreichten, darauf aufmerksam, daß man jetzt bald das Meer sehen wird, und endlich, endlich sah ich das Meer. Seine Weite hat mich überwältigt, das Glitzern des Sonnenlichts auf der Wasseroberfläche, jetzt aus der Ferne noch; die ruhige, majestätische Hingegossenheit, seine Großartigkeit, seine Herrlichkeit. Ich war ergriffen. (Noch jetzt, wo ich das hinschreibe, kommen mir die Tränen). Wie erfüllt war meine kleine Seele!

Wir fuhren weiter auf die Insel Krk – damals gab es die Brücke noch nicht – von Crikvenica mit der Fähre nach Šilo – wenn ich es richtig in Erinnerung habe – und weiter nach Punat. Der Campingplatz neu angelegt, die Pinien noch jung und nieder; ich wurde auch krank und vertrug die starke Sonne nicht gleich, aber egal, ich war am Meer.

Ich kann mich noch erinnern, daß ich mich vor einem großen Insekt fürchtete, groß und fremdartig, und daß ich laut schrie, vor allen Leuten am Strand und zu deren Erheiterung, aber diese Peinlichkeit konnte mein Glück nicht nachhaltig trüben.

Das Yugo-Cola – so entschieden wir – schmeckt besser als unseres. (Die Einheimischen dort haben es vielleicht umgekehrt gesehen. Wer weiß.) Ich sah einen Mann am Strand seiner Freundin den Oberteil ihres Bikinis streicheln, oder besser gesagt, durch den Oberteil ihren Busen. Und einiges anderes, was das Leben so zeigt.

Mein Cousin und ich spielten viel, dachten uns alles Mögliche aus. Meiner Cousine – ungefähr gleich alt wie ich – waren unsere Spiele meistens zu kindisch – die Mädchen sind immer etwas weiter, als die Buben – und sie spielte oft nur am Rande mit. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung.

Wir wollten unbedingt höhere Wellen im Meer, und wie sich das entwickelt hat, weiß ich nicht mehr, aber schließlich entschieden mein Cousin und ich, daß ich der „Gott des Meeres“ sein sollte, zuständig dafür, das Wasser in Bewegung zu halten und mein Cousin der „Gott des Windes“, zuständig dafür, mit ordentlichem Wind die Wellen hochzuschaukeln. Wir diskutierten noch kurz, was meine Cousine sein sollte, und wir beschlossen, daß sie – sie lag gerade am Strand - die „Göttin der Erde“ sei. Da kann sie weiterhin lesend am Strand liegen und hat mit den Wellen nicht viel zu tun. Während wir zwei Götter jetzt die Arbeit hatten, für höhere Wellen zu sorgen, ja, höhere Wellen zu machen. Also stellten wir uns ans Ufer und befahlen laut rufend, so laut wir konnten: „Die Wellen sollen kommen!“ Und tatsächlich! Waren die Wellen nicht schon ein wenig höher? Hast du es auch bemerkt? Ja, sicher. Nicht viel, aber etwas. Ich bilde mir ein, mich zu erinnern, daß meine Cousine eine skeptische Bemerkung diesbezüglich zu Tante Frieda machte.
Manchmal wird eine Welle schon etwas höher gewesen sein, dennoch waren wir meistens am Rande der Frustration, wenn unsere magischen Beschwörungen, unsere göttlichen Befehle, trotz wiederholter Ausrufungen, nicht recht wirkten; schließlich waren wir ja Götter und sollten allmächtig, oder zumindest ziemlich mächtig sein.
Aber es gab Augenblicke, da kam wirklich eine deutlich höhere Welle auf uns zu, und zumindest ich glaubte für einen Moment, tatsächlich magische Kräfte zu haben, da stand ich dann staunend mit offenen Mund da. Zumindest habe ich es so in Erinnerung.
Wie gesagt, meine Cousine, die Göttin der Erde, blieb wohl etwas skeptisch am Rande des Geschehens liegen, aber dennoch, so schlecht war unsere Zuordnung nicht, denn meine Cousine ist im Erdzeichen Jungfrau geboren, mein Cousin im Luftzeichen Zwilling, und ich im Wasserzeichen Fisch, mit dem Herrscher Neptun, dem Gott des Meeres.

Die Wellen sollen kommen!“, dieser Satz wurde zum Running Gag in der Familie.



Ich habe nur noch einmal in meinem Leben eine so bewußte und klare Zielentscheidung getroffen, und da ging es um eine Frau. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.


©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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