95 Im Kindergarten
Meine Mutter machte sich ständig
Sorgen, daß ich kein richtiger Bub werde. Darum durften die älteren
Buben, die ich hier in der Schublade öfters „Gangs“ nenne, mich
auch bei ihr abholen. „Frau Rumpf, darf der Peter mit uns kommen?
Wir zeigen ihm ...unser Baumhaus.“ „Ja, freilich!“ Zu mir: „komm mit,
deine Mutter hat es erlaubt! Komm schon!“ Die Sache wurde meistens zwischen meiner Mutter und den Buben ausgehandelt. Obwohl ich ihnen auch nachgegangen bin.
Sie wollte, daß mich diese Buben
irgendwie „zurechtbügeln“, damit aus mir ängstlichem Kind ein
richtiger Bub wird; sie dachte, unter den wilden Buben werde auch ich
wild werden.
Und da ich zum Einzelgängertum neigte,
sollte ich jedenfalls unter andere Kinder. Aber auch im Kindergarten unter den Gleichaltrigen hatte ich Angst.
Wenn ich mich richtig erinnere, dann
war ich im Alter zwischen vier und fünf Jahren im Kindergarten. Der
wurde von einer strengen, ja bösartigen Klosterschwester geleitet
und betreut. Irgendwie mochte sie mich nicht. Ich spürte ihre
Feindseligkeit.
Oft geriet ich zwischen die zwei
Mühlsteine. Zum Beispiel hatte ich zum Geburtstag eine Sandschaufel
bekommen, eine große, aus Metall, mit einem langen Holzstiel.
Ich nahm sie in den Kindergarten mit –
zunächst schon etwas zögernd - wer weiß, was ich damit an
Schwierigkeiten auslöse.
Meine Mutter sagte: „Aber daß du sie
dir nicht wegnehmen lässt!“
Im Kindergarten in der Sandkiste gab
ich die Schaufel nicht aus der Hand und ließ sie nicht aus den
Augen. Ich hatte viel Stress damit. Sie war viel schöner als die Kindergartenschaufeln und viele
Buben wollten sie ausleihen. Getreu meinem mütterlichen Auftrag
lehnte ich aber ab. Schüchtern zwar, aber ich lehnte ab.
Prompt schimpfte die
Kindergartenschwester mit mir, daß ich geizig und egoistisch sei.
Also borgte ich sie her.
Gerade als ich sie hergeborgt hatte,
spazierte meine Mutter am Kindergarten vorbei – ich bin mir sicher,
in der Absicht mich wegen der Schaufel zu kontrollieren - und sie sah,
daß ich sie „mir habe wegnehmen lassen“. Zuhause gab es dann
deswegen Vorwürfe und so weiter.
Einmal hatte mir meine Mutter Speckbrot
als Jause mitgegeben. Ich konnte dieses Brot nicht essen, die
Speckstücke waren zu groß, auch nicht sorgfältig voneinander
getrennt, sodaß sie noch zusammenhingen. Ich konnte sie nicht
richtig zerbeißen und würgte die viel zu großen Stücke mühsam
und nahe am Ersticken hinunter. Ein Speckstück blieb mir länger im
Hals stecken und ich fing schon an in Panik zu geraten, als ich es
gerade noch rechtzeitig hinunterbekommen habe. Ich konnte das Brot
nicht mehr weiteressen.
Eigentlich ist es ganz einfach: ich
stecke das übriggebliebene Brot mit dem Speck ins Jausensackerl, das
Sackerl ins Kindergartentascherl und zu Haus sage ich meiner Mutter:
„Mutti, ich will kein Speckbrot mehr als Jause, ich kann den Speck
nicht zerbeißen; bitte gib mir etwas anders mit!“
Aber so machte ich es nicht. Erstens,
der Befehl im Kindergarten lautete: du mußt deine Jause ganz
aufessen! Zweitens getraute ich mich nicht, meiner Mutter zu sagen,
daß ihr Jausenbrot für mich ungenießbar ist.
Also nahm ich das restliche Brot mit
dem Speck und versteckte es in der Garderobe hinter der Bank. Nicht
an meinem Platz, sondern an einem anderen – ich wußte nicht, von
wem.
Natürlich flog die Sache bald auf und
das arme Mädchen, an dessen Platz ich das Brot versteckt hatte,
wurde von der grausamen Schwester regelrecht verhört. Mit dem Corpus
delicti in der Hand redete und schimpfte die Schwester auf das
weinende Mädchen ein. Vom lieben Gott, der alles sieht, war die
Rede, von den hungernden Kindern in Indien. Die ganze Litanei. Das zu
unrecht beschuldigte Mädchen schluchzte nur immer wieder: „ich war
es nicht! Ich war es nicht!“
Ich war entsetzt! Das wollte ich nicht.
So weit hatte ich nicht gedacht. Ich erstarrte vor Angst.
Die Schwester fragte in die Runde: „war
es wer von Euch? Wer war es!“
Ein paarmal war ich nahe dran,
aufzuzeigen und „ich!“ zu sagen, aber ich schaffte es nicht. Ich
schaffte es nicht und sah beschämt und verstohlen zu, wie das Kind
wegen mir eine Strafe bekam und bloßgestellt wurde.
Ja, so war es.
Ich glaube, daß diese Geschichte
zuerst geschah, und die, die ich gleich erzählen werde, später.
Aber sicher weiß ich es nicht mehr.
Eines Tages spielte ich mit einem Wagon
einer Zuggarnitur. Das Spielzeug war aus Holz, die Kupplungen zum
Zusammenhängen der Wagons aus Blech. Ich spielte – wie meistens –
allein. Ich schob den einzelnen Wagon hin und her, hob ihn manchmal
in die Luft, ganz in mein Spiel vertieft.
Plötzlich beginnt ein Bub schräg
rechts hinter mir fürchterlich zu weinen; als ich mich umdrehte, sah
ich, daß er aus einem kleinen Schnitt beim Mund blutete. Es war ein
Bub aus Altirdning, wenn ich mich richtig erinnere, hieß er
Weilharther Peter und die Altirdninger Buben begannen sofort, mich zu
beschuldigen, ihm mit dem Wagon ins Gesicht geschlagen zu haben. Der
andere Peter – ich habe ihn als eher ruhiges, ein wenig
schüchternes Kind in Erinnerung, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob er von den anderen nicht erst dazu aufgefordert werden mußte – bestätigte die Anschuldigungen.
Ich stritt es ab. „Nein, ich war es
nicht!“ Ich war es wirklich nicht. Aber die Schwester unterzog mich
eines strengen Verhörs. „Gib es zu! Dann muß Jesus nicht mehr
traurig sein darüber, daß du lügst.“ „ich wars nicht!“ „Du
lügst!“ Ich weinte und weinte.
Der Druck auf mich war enorm: die
Gruppe der Altirdninger beschuldigte mich, die Schwester bearbeitete
mich, schimpfte, bohrte und wollte ein Geständnis erzwingen.
Und dann geschah etwas, was mir noch im
Nachhinein echte Sorgen macht: ich begann darüber nachzudenken, ob
ich es nicht unabsichtlich getan haben könnte. Ohne das ich es
merkte, durch eine Bewegung mit dem Wagon aus dem Spiel heraus,
irgendwie unabsichtlich, vielleicht in einer Bewegung nach hinten,
daß ich ihm dabei unabsichtlich ins Gesicht gefahren bin. Ich wußte,
absichtlich habe ich es nicht getan. Aber unabsichtlich, kann das
sein? Vielleicht, denke ich und unter dem Trommelfeuer der
permanenten Beschuldigung sage ich zur Schwester: „Vielleicht habe
ich ihn unabsichtlich und ohne es zu merken erwischt.“ In meiner
Sprache damals natürlich.
Die Schwester nahm das einfach als
Geständnis. Dabei war es kein Geständnis, sondern eine Überlegung.
Die Schwester nahm es aber als
Geständnis und ich bekam meine Strafe. Ihre Genugtuung, mich endlich
erwischt zu haben, war ihr anzumerken.
Und ich, ich war verstört und
verwirrt. Ich kann heute noch nicht sagen, was da wirklich passiert
ist. Ich weiß nur eines: ich, Peter Rumpf, habe den Weilharther
Peter nicht absichtlich verletzt.
Wegen dieses Erlebnis und meiner
Reaktion darauf mache ich mir Sorgen, wenn ich zum Beispiel verhaftet
werde und eines Verbrechens beschuldigt, daß ich dann – in meiner
scheinanwesenden Existenz nicht gut und sicher in der Realität
verankert – unter entsprechendem Druck eine Tat gestehe, die ich
nicht begangen habe. So wie vor Jahren in diesem Salzburger Fall, wo
jemand – wenn ich mich recht erinnere, auch ein Peter – einen
Mord gestanden hat, den er nicht begangen hatte.
Ich kann diesen Fall gut
nachvollziehen.
Entfernt erinnert mich diese Geschichte auch an Erzählungen ehemaliger Gefangener in Umerziehungslagern im China Mao Tse Tungs.
Und noch etwas: dieses Haus, in dem sich der Kindergarten befand, war eine Tischlerei und muß in der Nazizeit eine Rolle gespielt haben, vielleicht damals gebaut, jedenfalls konnte ich, als ich vor ein paar Jahren daran vorbeiging, noch immer an der Außenfassade unter der Übermalung das Hakenkreuz durchschimmern sehen.
Entfernt erinnert mich diese Geschichte auch an Erzählungen ehemaliger Gefangener in Umerziehungslagern im China Mao Tse Tungs.
Und noch etwas: dieses Haus, in dem sich der Kindergarten befand, war eine Tischlerei und muß in der Nazizeit eine Rolle gespielt haben, vielleicht damals gebaut, jedenfalls konnte ich, als ich vor ein paar Jahren daran vorbeiging, noch immer an der Außenfassade unter der Übermalung das Hakenkreuz durchschimmern sehen.
Vielleicht hatte die Aversion der
Ordensschwester gegen mich mit meiner nicht ganz kirchennahen
Herkunft zu tun, denn Jahre später, als ich ein braver und tüchtiger
Ministrant war, war sie zu mir scheißfreundlich.
Was die Speckbrote betrifft: als ich
wieder einmal sah, daß die Mutter mir ein Speckbrot zur Jause
herrichten will, schaffte ich es, unter dem Druck der Angst vor der
Kindergartenschwester, meiner Mutter zu sagen, daß ich den Speck
nicht zerbeißen kann. Verlegen, errötend, stotternd. „Warum sagst
du das nicht schon früher!“ antwortete sie lachend und freundlich
und gab mir ein anderes Brot mit.
Ja, jeder Mensch ist glücklich, wenn
er das Leben eines anderen bereichern kann (M. Rosenberg).
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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