Samstag, 14. März 2015

97 Die wilde Kommune von Geidorf


Wir waren aber keine wilde Kommune im Grazer Stadtteil Geidorf, Mitte der Siebzigerjahre, sondern eine brave Wohngemeinschaft nahe der Universität. Sicher, wir waren alle „links“, in unseren Köpfen spukte alles mögliche herum; sicher, etwas chaotisch waren wir schon und wenn wir den Küchenboden nach Längerem aufwaschen wollten, hatte Ali schon einmal die Spachtel zu Hilfe genommen, und ich schlief auf einer Matratze am Boden. Ja, und es kam auch vor, daß „schwangere Frauen aus- und eingingen“, wie die Nachbarin im Erdgeschoß einmal entsetzt ausgerufen haben soll.

Es war ein gutbürgerliches Mietshaus aus dem 19. Jahrhundert, wir wohnten oben – ich weiß nicht mehr – vermutlich im dritten Stock. Natürlich fielen wir etwas aus dem häuslichen Rahmen. Aber im Großen und Ganzen lief alles gut, auch mit den Nachbarn.
Diese Frau im Erdgeschoß jedoch hatte eindeutig etwas gegen uns und unterstellte uns anscheinend, irgendwelche Orgien abzuhalten. Theoretisch und in der Phantasie habe vielleicht ich zum Beispiel – wie sie - auch davon geträumt, aber im wirklichen Leben war ich schüchtern und ohne Freundin.
Nun, die Ordnung oder Unordnung der sexuellen Beziehungen war bei uns in der WG auch nicht anders als sonstwo. Einige hatten Freundinnen respektive Freunde – wir waren eine gemischte WG – alles ganz normal. Und den einen oder anderen „Ehebruch“ mit anschließendem Beziehungsdrama soll es auch in Kirchenchören geben.
Aber die Frau im Erdgeschoß wollte uns unbedingt bei irgendetwas ertappen, was sich wahrscheinlich nur in ihrem Kopf (oder in meinem) abspielte.

Eines schönen Tages saßen wir am kleinen Küchenbalkon – also zwei konnten draußen am Balkon sitzen, der Rest mußte auf der anderen Seite des in die Balkontür gestellten Tisches in der Küche herinnen Platz nehmen. Sabine strickte. Da fiel ihr eine Stricknadel hinunter, die sogleich in die Tiefe stürzte. Wir gingen die Stiegen hinunter und schauten in den Hof, um die Stricknadel zu finden. Und tatsächlich, sie lag auf dem Küchenbalkon der Dame im Erdgeschoß. Ihr Balkon war allerdings nur ein paar Zentimeter über dem Erdboden, also vom Hof aus leicht zu erreichen. Man hätte nur hingehen und durchs Balkongitter greifen müssen um die Stricknadel erreichen zu können.

Wir läuteten bei der Dame an, doch nichts rührte sich. Sabine wollte schon in den Hof gehen, um sich die Nadel zu holen, aber ich sagte ihr, sie solle warten, denn ich hatte den flüchtigen Eindruck, daß sich in der Küche der Dame – vom Stiegenhausfenster teilweise einsichtig – etwas bewegt hat. Jetzt hatte ich nämlich den Verdacht, daß die Frau in ihrer Küche lauerte, um uns dabei zu ertappen, wie wir durch ihr Balkongitter greifen um die Stricknadel zu holen und dabei in ihren Wohnbereich eindringen.

Das wäre zwar auch nicht der große Coup gewesen, aus Sicht der Dame, die linksrevolutionäre Wahnsinnsorgienkommune beim Stricknadelaufklauben zu erwischen – Stricknadel! Gibt es ein kleinbürgerlichereres Werkzeug? (Damals! Damals!) - aber in der Not frißt der Teufel Fliegen – wie meine Mutter zusagen pflegte.

Und richtig! Ich stellte mich so ans Stiegenhausfenster, daß ich nicht gleich gesehen werden konnte und beobachtete, wie die gute Frau in ihrer Küche hinter einer Ecke kniend sich vor uns versteckte und auf unsere Attacke lauerte.
Jetzt sagte ich zu Sabine: „bitte läute nochmals an der Wohnungstür, ich bleibe hier am Gangfenster.“ (habe ich „bitte“ gesagt? Ich glaube, ich habe nicht bitte gesagt).
Sie läutete und wirklich, die Dame – immer noch kniend – lugte hinter ihrer Ecke hervor, schob Kopf und Oberkörper immer weiter nach vor aus ihrer Deckung heraus.
Offensichtlich wähnte sie uns an ihrer Wohnungstür und wollte nach uns spähen.

Aber an des Stiegenhausfenster einen Halbstock über ihr hatte sie nicht gedacht und auch nicht an meinen kriminalistischen Scharfsinn.

Denn als sie weit genug aus ihrer Deckung heraußen war, auf allen Vieren, riß ich blitzschnell das Fenster auf und rief ihr - ganz höflich und so, als wäre alles ganz normal – zu: „Grüß Gott, Frau Sowieso! Entschuldigen Sie, bitte! Uns ist die Stricknadel auf Ihren Balkon gefallen! Bitte, dürfen wir sie uns holen?“

Die arme Frau! Jetzt kniet sie da in ihrer Küche und muß antworten; sozusagen Rede und Antwort stehen, äähh... knien. Knien! In ihrer Erkärungsnot und Verzweiflung fing sie an, mit der bloßen Hand, so, als hätte sie einen Bodenaufreibfetzen in der Hand, den Fußboden ihrer Küche in kreisenden Bewegungen „aufzuwischen“ und auf uns zu schimpfen: was man sich in diesem Haus alles gefallen lassen müsse! Und daß das kein Zustand sei!
Endlich nahm sie die revolutionäre und orgienbehaftete Stricknadel und warf sie zornig von ihrem Küchenbalkon in den Hof. Ich danke höflich, verabschiedete mich freundlich und ging in den Hof, die Stricknadel an mich zu nehmen. Daß wir dann oben viel gelacht haben, muß ich nicht herschreiben.





©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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