97 Die wilde Kommune von Geidorf
Wir waren aber keine wilde Kommune im
Grazer Stadtteil Geidorf, Mitte der Siebzigerjahre, sondern eine
brave Wohngemeinschaft nahe der Universität. Sicher, wir waren alle
„links“, in unseren Köpfen spukte alles mögliche herum; sicher,
etwas chaotisch waren wir schon und wenn wir den Küchenboden nach
Längerem aufwaschen wollten, hatte Ali schon einmal die Spachtel zu
Hilfe genommen, und ich schlief auf einer Matratze am Boden. Ja, und
es kam auch vor, daß „schwangere Frauen aus- und eingingen“, wie
die Nachbarin im Erdgeschoß einmal entsetzt ausgerufen haben soll.
Es war ein gutbürgerliches Mietshaus
aus dem 19. Jahrhundert, wir wohnten oben – ich weiß nicht mehr –
vermutlich im dritten Stock. Natürlich fielen wir etwas aus dem
häuslichen Rahmen. Aber im Großen und Ganzen lief alles gut, auch
mit den Nachbarn.
Diese Frau im Erdgeschoß jedoch hatte
eindeutig etwas gegen uns und unterstellte uns anscheinend,
irgendwelche Orgien abzuhalten. Theoretisch und in der Phantasie habe
vielleicht ich zum Beispiel – wie sie - auch davon geträumt, aber
im wirklichen Leben war ich schüchtern und ohne Freundin.
Nun, die Ordnung oder Unordnung der
sexuellen Beziehungen war bei uns in der WG auch nicht anders als
sonstwo. Einige hatten Freundinnen respektive Freunde – wir waren
eine gemischte WG – alles ganz normal. Und den einen oder anderen
„Ehebruch“ mit anschließendem Beziehungsdrama soll es auch in
Kirchenchören geben.
Aber die Frau im Erdgeschoß wollte uns
unbedingt bei irgendetwas ertappen, was sich wahrscheinlich nur in
ihrem Kopf (oder in meinem) abspielte.
Eines schönen Tages saßen wir am
kleinen Küchenbalkon – also zwei konnten draußen am Balkon
sitzen, der Rest mußte auf der anderen Seite des in die Balkontür
gestellten Tisches in der Küche herinnen Platz nehmen. Sabine
strickte. Da fiel ihr eine Stricknadel hinunter, die sogleich in die
Tiefe stürzte. Wir gingen die Stiegen hinunter und schauten in den
Hof, um die Stricknadel zu finden. Und tatsächlich, sie lag auf dem
Küchenbalkon der Dame im Erdgeschoß. Ihr Balkon war allerdings nur
ein paar Zentimeter über dem Erdboden, also vom Hof aus leicht zu
erreichen. Man hätte nur hingehen und durchs Balkongitter greifen
müssen um die Stricknadel erreichen zu können.
Wir läuteten bei der Dame an, doch
nichts rührte sich. Sabine wollte schon in den Hof gehen, um sich
die Nadel zu holen, aber ich sagte ihr, sie solle warten, denn ich
hatte den flüchtigen Eindruck, daß sich in der Küche der Dame –
vom Stiegenhausfenster teilweise einsichtig – etwas bewegt hat.
Jetzt hatte ich nämlich den Verdacht, daß die Frau in ihrer Küche
lauerte, um uns dabei zu ertappen, wie wir durch ihr Balkongitter
greifen um die Stricknadel zu holen und dabei in ihren Wohnbereich
eindringen.
Das wäre zwar auch nicht der große
Coup gewesen, aus Sicht der Dame, die linksrevolutionäre
Wahnsinnsorgienkommune beim Stricknadelaufklauben zu erwischen –
Stricknadel! Gibt es ein kleinbürgerlichereres Werkzeug? (Damals!
Damals!) - aber in der Not frißt der Teufel Fliegen – wie meine
Mutter zusagen pflegte.
Und richtig! Ich stellte mich so ans
Stiegenhausfenster, daß ich nicht gleich gesehen werden konnte und
beobachtete, wie die gute Frau in ihrer Küche hinter einer Ecke
kniend sich vor uns versteckte und auf unsere Attacke lauerte.
Jetzt sagte ich zu Sabine: „bitte
läute nochmals an der Wohnungstür, ich bleibe hier am Gangfenster.“
(habe ich „bitte“ gesagt? Ich glaube, ich habe nicht bitte
gesagt).
Sie läutete und wirklich, die Dame –
immer noch kniend – lugte hinter ihrer Ecke hervor, schob Kopf und
Oberkörper immer weiter nach vor aus ihrer Deckung heraus.
Offensichtlich wähnte sie uns an ihrer
Wohnungstür und wollte nach uns spähen.
Aber an des Stiegenhausfenster einen
Halbstock über ihr hatte sie nicht gedacht und auch nicht an meinen
kriminalistischen Scharfsinn.
Denn
als sie weit genug aus ihrer Deckung heraußen war, auf allen
Vieren, riß ich blitzschnell das Fenster auf und rief ihr - ganz
höflich und so, als wäre alles ganz normal – zu: „Grüß Gott,
Frau Sowieso! Entschuldigen Sie, bitte! Uns ist die Stricknadel auf
Ihren Balkon gefallen! Bitte, dürfen wir sie uns holen?“
Die
arme Frau! Jetzt kniet sie da in ihrer Küche und muß antworten;
sozusagen Rede und Antwort stehen, äähh... knien. Knien! In ihrer
Erkärungsnot und Verzweiflung fing sie an, mit der bloßen Hand, so,
als hätte sie einen Bodenaufreibfetzen in der Hand, den Fußboden
ihrer Küche in kreisenden Bewegungen „aufzuwischen“ und auf uns
zu schimpfen: was man sich in diesem Haus alles gefallen lassen
müsse! Und daß das kein Zustand sei!
Endlich
nahm sie die revolutionäre und orgienbehaftete Stricknadel und warf
sie zornig von ihrem Küchenbalkon in den Hof. Ich danke höflich,
verabschiedete mich freundlich und ging in den Hof, die Stricknadel
an mich zu nehmen. Daß wir dann oben viel gelacht haben, muß ich
nicht herschreiben.
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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