Dienstag, 30. April 2024

3645 Am Fenster

 



Das Revolutionary Ensemble spielt Clear Spring. Das schöne, dezente Bild hängt schief an der Wand des Musikzimmers. Ich stehe auf und richte es gerade. Die Schallplatte hat schon zu viele Kratzer. Auf der Straße unten der spärliche Nachmittagsverkehr; in dieser Ecke der Stadt wirklich nicht arg. Nach dem geflöteten Vogelgezwitscher und den eindrucksvollen Basstrommelschlägen in gekonnt großen Abständen, spielt jetzt Sirone ein kurzes, intensives, kunstvolles Basssolo. Und dann spielt wieder der Jenkins Geige, und der Cooper sein wirklich umwerfendes Schlagzeug, mit dem er so langsam aus einzelnen, eher chaotischen Schlägen und Rhythmuselementen einen kompakten, stringenten dahinrasenden Rhythmus aufbaut, der das Stück zusammenhält, zentriert und mit seiner Dynamik und seinem Tempo mitreißt, bis das Stück an seinem Ende klassisch und feinfühlig verklingt.

March 4-1. Geige, Bassgeige gestrichen, Klavier (Cooper), eine Posaune (Sirone) taucht auf, dann statt Klavier wieder das Schlagzeug (Cooper), das alles mitnimmt, was da klingt… Sonne und Hitze sind zurückgekehrt, die drei Säulengleditschien spenden schon ihre lichten Schatten, heißer, föhniger Wind streicht in die Bäume.

Chicago heißt das nächste Stück, nachdem ich die Platte umgedreht habe, von besonderer Schönheit und schlichter Intensität. Ich war ja bei der Aufnahme dieses Konzertes dabei und dachte damals: das ist der Höhepunkt der Musik; es kann in der Musik keiner Weiterentwicklung mehr geben; das ist das Ende der Geschichte.

Revolutionary Ensemble heißt das nächste Stück und vermutlich das letzte vor der Auflösung des Ensembles. Das in braunen, gelben, ocker und orangen Tönen gehaltene Bild – ein kleines Meisterwerk der Künstlerin Daniela Hantsch – hängt jetzt gerade über dem Plattenspieler. Aus Verlegenheit über das schöne Bild, die wunderbare musikalische Fülle und meine Wenigkeit zupfe ich das Preispickerl vom Pilotstift, mit dem ich schreibe. Das Geigenspiel wird jetzt für diese Passage ganz leicht und zart, bis es wieder lauter, eindringlicher, fester und schmerzhafter wird. Sirone zupft einen irren Bass und Cooper klopft seine Rhythmuscluster, die sich bald zu einem rhythmischen Strom zusammenfügen werden (ich habe diese LP schon hunderte Male angehört), und Jenkins Geigenspiel wird noch aggressiver, schreit den Schmerz hinaus, während der Drive von Schlagzeug und Bass immer drängender wird. Die ersten Schatten kriechen schon am Erdgeschoss des Hauses drüben hinauf. Die Musik ist aus, der Platz unten wird etwas belebter. Das Fußgängeraufkommen hat sich mindestens verdoppelt. Eine Ameise klettert in mein Notizbuch und rennt flott über meine Notizen. Ich streife die Ameise herunter, bevor ich das Buch zuklappe. Eine junge Frau auf einer der Bänke unten kämmt sich, richtet sich her, zieht die Lippen nach, zupft an ihrem Gewand, steht auf und geht langsam, ganz langsam weiter.


(29.4.2024)


©Peter Alois Rumpf April 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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