Sonntag, 29. November 2015

240 Der Fluch der Scham


Die Innenseiten der äußeren Fensterflügel sind nicht beschlagen, aber es strömt frische, kalte Luft herein, die schon nach Schnee riecht. Das innere Bild einer Landschaft, die unter einer Schneedecke ruht. Absolut still. Fast absolut still. Die kalte Luft beginnt, meinen Hustenreiz in der Brust anzustacheln, aber ich kann ihn unterdrücken und – nein, doch nicht, zu spät. Ich huste wieder.

[Ich muß mich opfern. Ich bin es nicht wert, mich nicht zu opfern. Ich muß nur etwas finden, wofür es sich lohnt.] [Peter, solche Sätze hinschreiben und veröffentlichen ist nicht erlaubt. Hast du denn überhaupt keine Selbstachtung mehr? Muß du dich so in deinem Selbstmitleid gehen lassen? Oder was ist das? Welches Programm spulst du da ab? Wer spricht da eigentlich zu mir? Und wer hat vorher gesprochen? Wer hat das programmiert?] [Deine Halbschlafgedanken, dein innerer Monolog in Ehren, aber das geht nicht! Respekt dafür, dein inneres Gerede ungeschminkt darzustellen zu versuchen, aber das ist zu viel! Worum soll es da gehen?] Vielleicht über den Fluch der Scham.

Wenn ich von Scham spreche, meine ich die existentielle Scham. Die Scham darüber, daß es einen gibt, obwohl man nicht gut genug ist.

Diese Scham macht stumm. Fragt dich wer, wie es dir geht, sagst du: „gut“.
Diese Scham macht unsicher, weil du dich nicht traust, auf dein Empfinden zu achten, denn alles, was du bist und mit dir zu tun hat, ist nichts wert. Du spürst gar nicht mehr, was du empfindest. Du fühlst dich permanent unter Druck, von jedem, der in deine Nähe kommt. Es zerreißt dich, weil du allen Ansprüchen gerecht werden willst und die eigenen gar nicht kennst.

Du kannst nicht grüßen, wenn der andere nicht seine Bereitschaft, deinen Gruß entgegenzunehmen, signalisiert, weil du glaubst, du bist nicht würdig, einen anderen von dich aus anzusprechen. (Ein Untertan darf einen König, eine Königin nicht von sich aus ansprechen.) Deswegen vermeidest du es auch, den Namen deines Gegenüber in den Mund zu nehmen und hältst deinen Blick gesenkt.
Die Vorstellungen und Definitionen anderer Menschen über dich sind stärker als alles, was du zur Verfügung hast.

Die Scham hat viele Auswirkungen. Unter anderem, daß man gelähmt ist und sich nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlt, nicht artikulieren kann, nicht um Hilfe rufen. Dazu gehört auch die Tendenz, der Relativierung, Herabsetzung, Unwichtigerklärung eigener Ansprüche, Leiden, Bedürfnisse etcetera sofort, oft schon vorauseilend, zuzustimmen. So habe ich mich - schon ein Volksschulkind - zweimal angebrunzt, weil ich nicht sagen konnte, wie dringend ich auf die Toilette mußte. Zum Beispiel allein mit meinem Onkel im Auto; ich sage, ich muß aufs Klo; er – das geht jetzt nicht – und damit war die Sache erledigt. Auch als er zwei Stunden lang keine Anstalten machte, stehenzubleiben, habe ich es nicht gewagt, ein zweites oder drittesmal zu insistieren; und als ich es nicht mehr zurückhalten konnte – tja...

Auch anderen Autoritäten gegenüber (und das sind fast alle, selber zählt man ja nicht), meistens bereits auf die Atmosphäre reagierend, bevor noch etwas gesagt ist. Zum Beispiel beim Arzt; auch heute noch. Man sagt, daß man da etwas spürt oder einem komisch vorkommt, und wenn der Arzt darauf nicht eingeht – fertig. Aus. Manches wage ich gar nicht anzusprechen, weil es wahrscheinlich zu unwichtig ist. Und bei jedem Krankenstand bekommt man es mit Schuldgefühlen zu tun. Und weil man als aufgeklärter Mensch so nicht denkt, aber als Beschämter genau so fühlt, ist das oft nicht im Vordergrund, sondern wirkt, gleich unter der Oberfläche der offiziellen Statements als permanentes Hintergrundrauschen.

Man macht auch keine Anzeige bei der Polizei. In eigener Sache schon gar nicht - die Sache ist sicher zu dünn - bei den Angelegenheiten anderer auch eher nicht.
Einmal – damals wohnte ich in einer Bruchbude im Erdgeschoß – sah ich beim Lüften in der Nacht, da machen sich welche bei der Bank da vorne an der Ecke zu schaffen. Zuerst war ich mir unsicher, ob ich das Geschehen dort richtig interpretiere – ich verstehe ja nichts von der Welt – als es schon sehr deutlich war, daß die Männer die Schließfächer für Geschäftsleute, die da nach Bankschluß ihre Tageslosungen deponiert haben, ausräumen, hatte ich schon die Idee, die Polizei anzurufen. Wenn die das aber merken und beim Fenster einsteigen? Und die Polizei, wenn ich sie rufe, was macht sie dann? Wird sie mich schützen? Werden sie mir glauben? Mich für einen Spinner halten? Was denken die über meine heruntergekommene Wohnung? Werden sie mich verdächtigen? Werden sie ihre Spielchen mit mir spielen? Über mich herfallen? Sind das nicht auch alles so Teufelsgrubenburschen? (Nummer 88 „Die Pachernegg-Szene“, hier, in der Schublade.) Schließlich habe ich die Polizei nicht angerufen. Die nachträglichen ideologischen Rechtfertigungen dafür – was gehen mich Hungerleider die Banken und Geschäftsleute an – waren natürlich nur vorgeschoben. Ich habe mich einfach nicht wertvoll und selbstverständlich genug gefühlt, die Polizei rufen zu dürfen. So einfach ist das.
Der Fall des jungen Mannes, der jahrelang wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, unschuldig im Gefängnis saß, weil er dem Druck der Polizei, ein Geständnis abzulegen, nicht standhalten konnte – Oh wie gut ich ihn verstehe! Ich bin ja nichts. Und ich könnte es ja getan haben, in mir ist genug Dreck und Wut.

Solche Erlebnisse wirken natürlich bestärkend auf dieses desaströse Selbstbild zurück, denn was kann man schon von einem Zehnjährigen halten, der sich in die Hose macht, weil er es nicht schafft, zum Onkel zu sagen: „Bitte stehenbleiben! Ich muß jetzt pinkeln! Dringend!“? Oder von einem erwachsenen Mann, der sich abschasseln läßt, sich nicht behaupten, sich nicht durchsetzen kann? Nichts. Das Versagen ist einem auf die Stirn geschrieben und wenn es wirklich jemand übersieht, dann macht man ihn darauf aufmerksam.

In manche Sachen rutscht man einfach so rein. Zum Beispiel, daß man, wenn man studiert und den Antrag stellt, ein Stipendium bekommen kann, oder wenn ein ordentlicher Arbeitsvertrag ausläuft, Arbeitslosengeld. Das Kriterium dafür war nicht man selber als Person, sondern die ausgefüllten Zettel. Und man ist sich der Wut und des Hasses der Steuerzahler durchaus bewußt. Man fühlt sich schuldig und unwürdig. Das ist beschämend. Ich erinnere mich genau, noch Jahre nach Bezug des Arbeitslosengeldes wurde mir flau im Magen, wenn ich zufällig am Arbeitsamt vorbeigekommen bin; nicht, weil ich dort so schlecht behandelt worden wäre, sondern vor Scham. Egal was ich auf intellektueller Ebene darüber geredet, welch Rechtfertigungen ich mir zurecht gelegt hatte, das Gefühl war Scham.

Den ganzen Tag und die ganze Nacht tue ich schon an diesem Text herum und ich merke, ich bin in Gefahr, ein wenig in Verzweiflung zu fallen. Aber keine Sorge! Ich habe mein ganzes Leben nichts anderes gemacht, als dieser Verzweiflung standzuhalten, oder, wenn ich nachgegeben und in sie gefallen bin, mich wieder heraus zu kämpfen. Allerdings ist mir so kaum noch Energie für etwas anderes übrig geblieben. Aber ich bin gut geübt darin.

Der springende Punkt ist allerdings ganz woanders: das alles sind nämlich bloß Gedanken. Nichts als internalisierte Dialoge, die einmal mit mir so geführt wurden. Und so sehr diese Worte auch Fleisch geworden sein mögen, das heißt, so sehr diese zum Selbstbild gewordenen Urteile und Definitionen sich in meinem Leben, bis in meine Lebensentscheidungen hinein, bis in die Körperhaltung, die Bewegungen, Muskelaufbau, in meinem Körper und seinen Organen, in jeder Faser, jeder Zelle abgelagert, bis in meinen Blick verwirklicht haben, so sehr sie also Fleisch und Blut, Gestalt und Leben geworden sind: in jedem Menschen gibt es einen Kern, der nicht verletzt werden kann und der nicht verletzt ist. Den erreichen und die Sache ist erledigt, zu dem vorstoßen und der Spuk ist vorbei und eine neue Gestalt, ein neuer Mensch, ein neues Leben kann wachsen.

Es ist jetzt Vieruhrdreißig In der Früh. Ich war schon eingeschlafen, aber nach einer Stunde hat mich etwas im Schlaf aufgeschreckt; kein Geräusch, kein Licht, nichts. Ich spürte jedoch etwas, das mir in den Rücken fallen, mich von hinten angreifen will, eine unsichtbare, unhörbare Macht; sie ist gerade noch vor der Zimmertür stehen geblieben und lauert dort. Ich erwachte voller Angst, drehte mich zur Tür um. Nichts. Eine Präsenz von etwas, das nichts ist. Das Nichts hat versucht, mich zu attackieren? Ist der rasende Punkt schon so nah?

Ich habe gelesen und geschrieben. Gelesen und geschrieben. Draußen, vorm Atelierfenster strahlte kurz Orion in seiner schönen Gestalt. Jetzt bin ich erschöpft und müde. Die Gegenstände, die ich anschaue, verschwimmen schon. Ich hoffe auf den Schlaf.



















©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com


Mittwoch, 25. November 2015

239 Der Würfelhocker


Ich liege wie der Würfelhocker im Bett, nur Oberkörper und Oberschenkel etwas weiter auseinandergeklappt; die Katze hat sich auf meinen Bauch gesetzt und liegt auf meiner Brust. Ich bin beim Lesen eingeschlafen und leicht nach links gekippt. (Warum kippe ich immer nach links?) Hockend, die Füße angezogen, schlafe ich, noch mit der Umgebung verbunden. Ich höre noch vieles, vor allem die Katze schnurren, schrecke immer wieder auf, um dann gleich wieder nach unten zu gleiten. Ich merke, daß ich hungrig bin, aber will diesen Zustand, den ich trotz der kleinen Schocks beim Aufschrecken als Geborgenheit empfinde, nicht auflösen und die Katze nicht vertreiben.

Was ist unten los? Es wird laut. Jetzt bin ich ganz an der Oberfläche und kann nicht mehr in die Dämmerung hinabsinken. Auch gut! Dann werde ich erst frühstücken und dann ein paar Übungen machen. Obwohl es umgekehrt besser ist. Stattdessen greife ich zum Notizbuch und schreibe die Sätze auf, die sich im Halbschlaf in mir gebildet haben. So fange ich an. Oder ich beschreibe die Bilder, die in mir aufgetaucht sind. Vorhin zum Beispiel das Bild des Würfelhockers und – immer damit verknüpft – wie es uns der strenge Zeichenprofessor gezeigt hat. Wie alt war ich da? Fünfzehn? Ich weiß es nicht mehr, es müßte aber hinkommen. Der kleine Raum – es war nicht unser Klassenzimmer – war abgedunkelt; es gab keine Tische, nur Stühle, die an ihrer rechten Seite verbreiterte Armlehnen hatten, um darauf Hefte legen und Notizen machen zu können. Ich saß rechts, eher hinten. Der Diaprojektor surrte und warf das Bild des Würfelhockers – der, wo eigentlich nur der Kopf herausschaut – an die Leinwand, die an einem Ständer hing.

Der Zeichenprofessor redete davon, daß im Würfel schon die ganze Figur sitzt, man brauche nur das Überflüssige, das, was nicht zur Figur gehört, wegschlagen, schon ist die Figur da. Ganz einfach. Von wegen! Du kannst das, denke ich mir, aber ich nicht!

Die Katze hat das Zimmer verlassen. Jetzt hocke ich beim Schreiben nicht mehr von Schlaf und Dämmerung, sondern vom Licht der Nachttischlampe eingehüllt. Mein Denkapparat arbeitet wieder und spekuliert scherzhaft, was eine Nachtischlampe wäre. Aber ich will jetzt nicht ins Süße abgleiten. Aha, mein innerer Zensor ist auch schon wach. Ich merke, daß die Katze das Zimmer gar nicht verlassen hat, sondern mir zu Füßen liegt. Wegen der hochgestellten Beine habe ich sie nicht gesehen und, weil sie nicht schnurrt, nicht gehört.

Es ist schon verdammt spät! Ich muß aufstehen, frühstücken, das Essen für die Arbeit zubereiten! Hoffentlich gehen sich wenigstens noch ein paar kleine Übungen aus! Ich will nicht, daß der Faden komplett abreißt. Schlafen, schreiben, üben, essen, schreiben, herumgehen, essen, plaudern, lesen, schlafen – das wäre mein Tag! So oder so ähnlich würde es mir gefallen. Ich strecke die Beine aus und störe die Katze dabei; sie maunzt protestierend während ich die Muskel lockere. So, ich greife wieder zum Notizbuch, um auch das noch reinzuschreiben. Die Katze versucht, es sich wieder gemütlich zu machen. Jetzt gleich aber, wenn ich aufstehe, werde ich sie vertreiben müssen.








©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

238 Stille Nacht


Die äußeren Fensterscheiben sind innen beschlagen. Ich öffne das Fenster; kalte, frische Luft strömt herein und das ferne Dröhnen eines Flugzeuges. Es ist Nacht, so eine Art um einen Monat vorverlegte Christnacht. Warum? Das ist mir jetzt zu kompliziert zu erklären! Diese Nacht ist hier und jetzt still. Eine stille Nacht. Eine heilige Nacht. Aber sie kommt gegen die andere nicht an. Nur ein ganz klein wenig, sozusagen ganz in ihrem innersten Kern ist etwas von dem da, was in der anderen Nacht ist.

Ich habe mir gedacht, ich könnte ein wenig beten. Immerhin mag ich den Jesus von Nazareth... Aber es paßt nicht zu mir. Es macht mich verlegen. Ich habe doch mit dem Ganzen nichts mehr zu tun! Na und? Wer kann dir Vorschriften machen? Genierst du dich dafür? Vor wem? Vor deinen Eltern? Die sind tot. Vor deinen Freunden? Hier, bei dir, in dieser stillen Nacht ist es doch keine Deklaration für oder gegen irgendetwas. Nur so eine Art Versuch, ein Experiment. Niemand erfährt davon!

Ich habe keine Lust. Ein eigenartiger Schatten legt sich auf mich, wenn ich an beten denke und damit anfangen will. Etwas, das mir gleich das Gefühl gibt, schuldig zu sein, oder faul, oder ungenau oder was-weiß-ich. Gleich fürchte ich mich davor, jemand könnte deswegen etwas einfordern, etwas verlangen, als hätte ich mit dem Beten etwas zugesagt, etwas versprochen und jetzt kommt man daher und macht mir Vorschriften. Als dürfte ich nicht mehr ich selber sein. Als müßte ich bei mir gleich alles mögliche abstellen. Nein, darauf habe ich wirklich keine Lust. Es käme nicht von Innen. Ich fühle mich unwohl dabei.

Mir fällt auf, daß ich beim Vaterunser immer bei „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ stecken bleibe, da stolpere ich immer, oder es geht mir die Luft aus und ich muß luftholen, während die anderen den Vers beten, oder, wenn ich alleine bin, habe ich den Satz vergessen und muß erst nachdenken. Es ist schon viele Monate her, daß ich es gebetet habe, eigentlich bloß aufgesagt. Da war es so. Und vorher auch schon.

Woher kommt dieses ungute Gefühl? Von der einen oder von den anderen Seite? Mir kommt vor, von beiden.

Jetzt bleibe ich beim Gegrüßet-seist-du-Maria stecken! Der vorletzte Vers will mir nicht einfallen. Ah! Jetzt hab ich ihn wieder. Eigenartig. Die Gebete berühren mich jetzt überhaupt nicht. Sie bleiben mir fremd und fern. Ach komm! Laß einfach los! Niemand kann dir Vorschriften über dein Leben und Sterben machen! Du darfst auch als Narr und unvollendet sterben.

(Also gut: Es gab eine umstrittene Seherin, die sagte, Jesus von Nazareth wäre am 25. November geboren. Und aus astrologischen Gründen finde ich dieses Datum interessant, wie ich überhaupt ihre Visionen interessant finde, ohne zu wissen, ob sie wirklich das Leben Jesu sieht oder sich in phantasmagorischen Welten verliert oder beides gleichzeitig.)








©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 24. November 2015

237 Kleine Angst


Und ich warf meinen Blick weit in die dunkle Ferne, auf diesen Punkt dort starrend, mit etwas Angst, um zu prüfen, ob sich denn der Punkt schon nähere. Um dann erleichtert festzustellen, daß dem nicht so ist. Dieser Punkt blieb Gottseidank noch dort am Horizont und raste noch nicht auf mich zu.








©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 23. November 2015

236 Ein nüchterner Morgen?


Ich bin aufgewühlt und aufgeregt. Der Text, den ich gestern geschrieben habe, ist gut, sehr gut. Das muß der Durchbruch sein! Bei der morgendlichen Meditation kann ich absolut nicht loslassen, nicht einmal einschlafen. Als ich die Tageskinder die Stiegen heraufkommen höre, breche ich die Meditation ab. Heute geht es halt nicht. Ich werde lesen, und ich hoffe, ich schaffe es, ein paar Übungen zu machen. Ich bin ausgelaugt, nüchtern und weltlich wie schon lange nicht mehr; ich meine damit, ich spüre überhaupt nichts von „drüben“; kein Gefühl, daß da noch etwas anders ist; kein Ahnen, keine mehrdeutigen Wahrnehmungen, selbst das Surren ist einfach nur ein Geräusch in den Ohren. Mein Zimmer ist bloß eine unaufgeräumte, verstaubte Bude, ohne jeden Flair. Auch gut. Das macht mir nichts aus. So ist es eben. So ist auch mein Leben, unaufgeräumt und belegt vom Staub der Vergangenheit.

Ich spüre nur, daß ich hungrig bin. Ich habe aber keine Lust, hinunter frühstücken zu gehen. Also werde ich lesen. Der Singsang von unten klingt archaisch und interessant. Ich brauche mehr Zeit für Muße und Schreiben.












©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 22. November 2015

235 Die Salamanceser Segnungen


Als ich 1972 nach Graz ging, um das Theologiestudium aufzunehmen, versuchte ich, wieder richtig fromm zu werden. Ich hörte mir - beeinflußt von einem Priester - keine Popmusik mehr an – beziehungsweise ganz selten und mit schlechtem Gewissen – und horchte nicht mehr andächtig die „Musicbox“, eine gehobene Jugendsendung auf Ö 3 damals, die ich mir vorher nahezu täglich angehört hatte. Ich versuchte regelmäßig die Bibel zu lesen, zu beten, besuchte regelmäßig die Heilige Messe; meine ersten literarischen Versuche, die sogar in der Musicbox vorgelesen wurden, verwarf ich – ich hörte mir nicht einmal die Sendung an, in der mein Text vorgelesen wurde – und verfolgte das Schreiben auch nicht weiter.

Ich versuchte also mein bisheriges Leben – mit einem Bein in Kirche und Christentum, mit dem anderen in der Popkultur mit allen ihren Zeitgeisterscheinungen – dahingehend zu ordnen, daß ich mir das „Popbein“ abzuhacken versuchte, um nur mehr im kirchlichen Katholizismus meinen Stand zu haben. Das war natürlich ein von außen und vom Kopf her aufgesetztes Programm, das die vielen Persönlichkeitsanteile, die sich von dieser neu aufbrechenden Zeit angesprochen und auch ausgesprochen fühlten, zu ignorieren und zu unterdrücken versuchte. Ich war ja über die Popmusik von diesem Zeitgeist des Aufbruchs erfüllt gewesen, was immer auch für problematische Mechanismen – innerpersönlich wie auch sozial – dahinter wirksam gewesen sein mögen.

Ich soll vielleicht noch betonen, wie widersprüchlich meine Liebe zur Popmusik und die Aufnahme der für mich vor allem durch die Musicbox transportierten Ansichten und Ideologien verlief. Ich hörte als Gymnasiast diese Sendung täglich, liebte die Musik, aber manche Statements und Geschichten lösten durchaus kleine oder größere Schocks aus, die ich immer erst verarbeiten mußte; so in dem Sinn: darf man das sagen? Geht das nicht zu weit? Ich konnte das oft nicht mehr richtig in meinen katholisch geprägten Sinnhorizont einbauen und war immer stärker sozusagen zweigleisig unterwegs. Eine Zweigleisigkeit, die übrigens anfänglich auch in der Musicbox selber spürbar war, den nicht wenige Mitarbeiter der Sendung kamen aus der reformkatholischen Ecke.

Aber mein Herzblut war schon sehr bei dieser Musik! Es war das das einzige Gebiet, wo ich mir Urteile darüber, ob etwas gut oder schlecht ist, zutraute und diese durchaus auch anderen gegenüber vertreten konnte – natürlich beeinflußt von der Musicbox und durch sie sozusagen den Rücken gestärkt.

Zu dieser Stimmung der Zeitenwende – die sie ja wirklich war – gehörte auch – wie ja jeder weiß – daß der Gebrauch von Drogen zumindest als interessant erschien und die damit erreichbare Bewußtseinserweiterung als faszinierend. Das mußte gar nicht regelrecht „verkündet“ werden; es genügte, daß man wußte, die bewunderten oder geliebten Musiker nahmen sie und die Musik war davon beeinflußt.

Das alles war für mich als Gymnasiast nur theoretisch „nah“; im realen Leben war ich ein braver Sohn und Schüler und diese Popwelt war woanders, nicht hier, wo ich bin; sie kam nur aus dem Radio zu mir. Um beim Thema zu bleiben – der Gebrauch von illegalen Drogen mag aus der Distanz eine gewisse angsterfüllte Faszination auf mich ausgeübt haben, aber ich war weit davon entfernt, damit zu experimentieren. Und beim Studienbeginn in Graz mit meinem „abgehackten Popbein“ war ich erst recht weit davon entfernt.

Natürlich war der „popige“ Anteil meiner Persönlichkeit nicht verschwunden, sondern bloß verdrängt und sobald ich mich von Christentum und Kirche entfernte, wieder voll da. Dann war es für mich theoretisch durchaus denkbar, mit Drogen zu experimentieren, obwohl ich in der Praxis eine große Scheu davor beibehielt. Das kann ohne weiteres mit meinen „braven“, autoritätsgläubigen Persönlichkeitsanteilen zu tun haben, die natürlich auch nicht schliefen und die daraus resultierende Angst davor, Gesetze zu brechen und erwischt zu werden – denn beim Alkohol gab es diese Ängste nicht – oder auch damit, daß ich tief in mir wußte, daß meine Persönlichkeit sowieso nicht sehr fest gebaut ist und nicht gut im Leben sitzt, sodaß solche Experimente Dinge in Bewegung bringen können, die ich dann - wie eine Lawine – nicht mehr beherrschen kann. Ich probierte es zwar einige wenige Male aus, Haschisch zu rauchen, aber es zeigte sich bei mir keine Wirkung. Offensichtlich waren meine Rauschvorstellungen und -erwartungen vom Alkohol geprägt, sodaß ich sozusagen einen „falschen Rausch“ intendierte, der sich dann nicht einstellte.

Es kam noch dazu, daß ich mit zirka Vierundzwanzig Carlos Castaneda zu lesen und zu lieben begann und den Schluß, den ich aus dieser Lektüre zog, war, mit Drogen nicht herumzuspielen. Ich weiß, daß sich Tausende und Abertausende bei ihrem Drogenkonsum auf Castaneda berufen oder sich von seinen Büchern dazu angeregt gefühlt haben, aber für mich waren das Leute, die offensichtlich nicht lesen konnten, was dort in den Büchern steht, sondern ihre subjektiven Geschichten in das Gelesene hineinprojizierten. Ich war verwundert und irritiert darüber, aber mir in dieser Sache trotzdem ganz sicher. Mit dieser Auffassung stand ich absolut alleine da und ich wundere mich noch heute, woher ich diese Sicherheit nahm, aber ich denke noch jetzt, bei allem, was ich heute über Castaneda weiß, ich habe recht gehabt. Wenn ich dann – jetzt schon in Wien in der Künstlerszene lebend - trotzdem wieder versucht habe, einen Joint zu rauchen, dann im Bewußtsein, daß ich mich dabei nicht auf Castaneda berufen kann.

Ich war erst ungefähr neunundzwanzig oder dreißig Jahre alt, als es zum erstenmal richtig funktionierte und ich einen solchen Rausch erlebte; der war dann allerdings sehr, sehr toll und ich habe dabei – ausgelöst von einer konkreten Szene, die ich beobachtete – Einsichten in die menschliche Seele und ihre sozialen Spielchen gehabt, die mich heute noch staunen machen, vor allem, wie prägnant und treffend ich sie benennen konnte.

Um die Zweiunddreißig herum habe ich dann ein paarmal Haschisch geraucht; in dieser kurzen Phase ohne größere Bedenken, aber durchaus im Bewußtsein, daß es eigentlich nicht so gut ist, solche Abkürzungen zu den angestrebten Zuständen der Bewußtseinserweiterung zu nehmen. Genossen habe ich es trotzdem und ich bereue es auch heute nicht, wiewohl ich froh war und bin, diese Erfahrungen erst in diesem Alter und nicht früher gemacht zu haben.

Ich hatte also eine sehr zurückhaltende Einstellung zum Gebrauch von Drogen, allerdings nicht auf den Alkohol bezogen. Den zu konsumieren hielt ich zwar auch für fragwürdig, aber ich tat es trotzdem, obwohl ich dabei selten eine Erweiterung, meistens eher eine Einschränkung, Trübung, „Verdumpfung“ des Bewußtseins erlebte, um nicht zu sagen, eine „Verprimitivierung“. Diese Einschränkung kann jedoch als Befreiung vom Druck des „Überichs“ - ich glaube nicht an das Freud'sche Schema, aber sei's drum! - empfunden werden. Zumindest ich empfand es so und führte mich oft - in die dumpfen Regionen meiner Seele hinuntergezogen - entsprechend auf. Die Rauscherlebnisse mit Haschisch habe ich immer als subtiler, feiner erlebt, mit einem Zug eher nach oben.

Mit Vierunddreißig unternahm ich eine Reise nach Spanien, von österreichischen Künstlerfreunden, die sich bei spanischen Künstlerfreunden aufhielten, eingeladen. Wir trafen uns in Salamanca. Zu meinem Erstaunen – denn ich hatte von Spanien das Bild eines strengen Staates mit strenger Polizei – wurde dort ziemlich offen Haschisch geraucht. Wegen meiner reservierten Haltung dazu machte ich anfänglich nicht mit, sondern blieb beim Trinken, und man könnte sagen, wir bewegten uns in einer Wolke aus Euphorie und Lachen. Anscheinend hatte ich eine solch starke Affinität zu diesen Zuständen, daß ich mich allein schon durch meine Anwesenheit in dieser Wolke manchmal anders als bloß alkoholisch berauscht fühlte. Ach, war das schön!

Es gab auch ernüchternde Momente, als ich zum Beispiel auf einem Familienfest eines der spanischen Freunde zum erstenmal in meinem Leben mich selber auf einem Video – von irgendwem dort auf dem Fest einfach so dokumentarisch aufgenommen – sah und dachte: „Was?! Der gespreizt herumsteigende und verlegen grinsende, total verspannte Idiot bin ich?!“ Das war schockierend. Oder beim Aufwachen nach einem ordentlichen, richtig alkoholischen Rausch, in dem ich totalmente borracho, also komplett betrunken, einer Spanierin an der Bar auf den Hintern griff. Solch ein dumpfes Alpindodelverhalten ist für einen stolzen und auf seine Würde bedachten Spanier völlig undenkbar; niemals würde er sich so gehen lassen und niemals sich so betrinken, daß er nicht mehr weiß, was er tut. Ein absolutes No-Go.

Trotzdem oder gerade deswegen, die Wolke war stärker und ich stieg für ein paar Tage auf das hellere und erhabenere Rauschmittel Haschisch um. Da saßen wir nun, alle illuminiert, auf der Plaza Mayor im Freiluftbereich eines Cafés und redeten, blödelten und lachten. Freund Bruntomeff hantierte mit irgendwelchen Zetteln herum, auf die er irgendwas notierte, und hielt kurz inne, um sie dann – im Scherz – zu paraphieren und abzuhaken. Also, er machte ein Hakerl auf dem Papier und setzte sein Namenszeichen daneben. Das weitete er dann aus und begann alle Gegenstände am Tisch imaginär – ich meine, in der Luft – mit seinem Abhak-Hakerl und seinem Namenskürzel zu versehen, auch den Wein im Glas, indem er den Kugelschreiber eintauchte und abhakte und signierte.

Vielleicht wer es der Wein, der ihn – oder war ich es? Ich weiß es nicht mehr – auf die Idee brachte, ihn auch noch mit einem Kreuzzeichen zu versehen. Ja, ja, das war schon die Idee von Bruntomeff! Ich stieg jedenfalls begeistert darauf ein. Das neue Spiel lautete jetzt: abhaken, paraphieren, segnen. Wir lachten sowieso schon die ganze Zeit, aber wir beide trieben das Spiel noch mehr ins Absurde. Jeder Brösel auf dem Teller wurde angehakt, paraphiert, gesegnet. Der Tisch als ganzes und so weiter.
Wenn ich mich richtig erinnere – und meine Erinnerung ist schlecht – verlagerte sich der Schwerpunkt unserer Arbeit immer mehr aufs Segnen. Wir segneten alles. Wir, das waren vor allem Freund Bruntomeff und ich. Das Tischtuch, die Spatzen, das Besteck, die Tassen, die Untertassen, die Blumentöpfe, die Pflanzen, den Mist am Boden, die Speisen sowieso, die Speisekarten, die Werbungsschilder, Hundstrümmerln kann ich mich nicht erinnern, aber hätten wir auch gesegnet, die einzelnen Pflastersteine, die Zigaretten, die Zünder, den Aschenbecher, die Zigarettenstummel, alles, alles, was es um uns herum gab. Als es zu regnen begann, kamen wir in einen ziemlichen Stress, weil wir jeden einzelnen Regentropfen am Tisch segnen wollten und wir dafür bald viel zu langsam waren, der Regen war nicht mehr zu dersegnen. Wir steigerten uns in unserem Rausch regelrecht in einen Segnungswahn hinein. Wir standen vom Tisch auf und gingen herum, segneten jede Säule des Arkadenganges, jedes Blatt am Boden, jeden Mistkübel, jedes Steinchen, alles, alles, alles was uns in die Augen fiel. Schließlich wollten wir die Plaza Mayor als ganzes, sozusagen in einem Zug segnen. Freund Bruntomeff übernahm die eine Linie, ich die andere. Wir gingen jeder in eine Ecke des riesigen Platzes und marschierten jeder in die ihm gegenüber liegende Ecke, dabei die rechte Hand starr in der Geste des Segnens haltend, denn das war als ein ganzes, riesiges Kreuzzeichen gedacht, das wir da machten. In der Mitte kreuzten sich natürlich unsere Wege.

Die Stimmung war unbeschreiblich! Wir lachten und lachten, andererseits hatte uns, beziehungsweise mich – von Freund Bruntomeff weiß ich es nicht so genau – ein „heiliger“ Ernst erfaßt. Ich empfand, was ich da machte, durchaus – wie kann ich das sagen? - tief. Ich segnete die Welt und alles, was in ihr in meiner Reichweite war. Dieser „heilige Ernst“ kollidierte durchaus nicht mit unserem Lachen; im Gegenteil, für mich ergänzten sie sich großartig. Zwei lachende Narren, die glücklich die ganze Welt segnen und das Leben feiern.

Später fuhren wir mit dem Auto – in Spanien geht man nicht gern zu Fuß – zum Fluß hinunter, dem Rio Tormes, und feierten weiter. Ich ging am Ufer herum und war von einer großen Ergriffenheit erfüllt. Dann setze ich mich wieder hinten ins geparkte Auto. Ich schwebte in einem Gefühl, von einer massiven Unmittelbarkeit, einer unglaublichen Intensität umgeben zu sein. Ich starrte auf einen Faden, der von der Polsterung der Rückenlehne vor mir abstand; ich schaute und schaute und ich fühlte und begriff, daß dieses kleine Stück Faden ein Universum für sich ist. Ich schaute lange hin und staunte. Ich war ergriffen und dankbar, so ein Wunder schauen zu dürfen. Ich wollte Gott dafür danken, daß es das gibt, daß er dieses kleine Fädchen erschaffen hat, in seiner Schönheit und Existenz alleine schon die ganze Schöpfung rechtfertigend, egal, was da alles in ihr sonst noch passierte. Ich stieg wieder aus dem Auto und ging bei der aufgehenden Sonne am Ufer herum. Mit Tränen der Freude und des Glücks in den Augen wollte ich beten, ich war in mich versunken und versuchte, das Vaterunser zu beten, aber der Text fiel mir nur mehr bruchstückhaft ein. „Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde...“, wie geht es weiter? Angestrengt, aber vergeblich versuchte ich mich zu erinnern. Egal, dann stammle ich halt bloß.

Inzwischen war es kalt geworden und ich wandte mich wieder meinen Freunden zu und wir beschlossen, in ein Café frühstücken zu gehen. Ich lief in der Stimmung eines andächtigen Gewahrseins herum, von dieser Intensität wie in einem Kokon eingehüllt. Möglicherweise erlebten die anderen ähnliches, denn wir wurden alle eine zeitlang ganz still.

Im Café tranken wir Kakao und aßen so gebackene Teigstangerl dazu, deren Oberfläche gerillt war und ich erinnere mich, daß wir uns über diese Teigstangerl und ihre Unregelmäßigkeiten fast zu Tode lachten. Einer hielt zum Beispiel ein Stangerl in die Höhe, und wir sahen, daß das Ende etwas gebogen war – und wir lachten. Ein anderer zeigte uns ein Stangerl, dessen Rillen leicht verdreht waren – und wir lachten. Wir lachten und lachten und lachten.

Irgendwann werden wir uns wohl verausgabt haben und werden nach Hause gegangen oder gefahren sein und uns ausgeschlafen haben – ich kann mich an den weiteren Verlauf nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, daß am nächsten Tag bei mir diese ehrfürchtige Stimmung noch angehalten hat.

Und ich habe dann, wieder zurück in Wien, tatsächlich das Vaterunser auswendig gelernt.















©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 20. November 2015

234 Meine „Heldentat“


Bevor ich meine „Heldentat“ erzähle, muß ich noch vorausschicken, daß ich in meiner Kindheit alle Raufereien und Kämpfe verloren habe. Ich war den Sticheleien, Aggressionen, Übergriffen, Hierarchiekämpfen hilflos ausgeliefert; ich konnte mich nicht wehren, ich konnte nicht gewinnen. Das galt auch jüngeren gegenüber, was in diesen Jahren besonders peinlich ist. Nur einmal war ich dann so in Wut, daß ich den Kerl zu Boden riß, mich auf ihn draufsetzte und gerade auf ihn einzuschlagen begann, als sich hinter mir unser Wohnzimmerfenster öffnete, meine Mutter herausschaute und rief: „Ja, hau ihn nur! Hau ihn!“ Dabei zappelte sie sie aufge- und erregt und es war offensichtlich, daß sie sich an meinem sich abzuzeichnenden Sieg begeilen wollte. Das ist keine Übertreibung – ich beschreibe nur nüchtern, klar und deutlich, was sich da abspielte. Sofort brach ich den Kampf ab und stieg vom Gegner herunter und ging weg.

Denn das ist klar, diese „Prinzessin“ wollte ich weder bei diesem noch bei irgendeinem anderen Kampf gewinnen, auf keinen Fall! Darum ist es mir nicht gegangen, das war mein Kampf; mein Sieg sollte mir Platz und Respekt in dieser Welt verschaffen; ich sollte damit Terrain gewinnen. Es ging nicht darum, die auf mich projizierten Größenwahnvorstellungen meiner frustrierten, aufgekratzten Mutter zu befriedigen, noch dazu, weil das zu ihrer Strategie gehörte, mich gegen meinen Vater zu stellen. Ich sollte für sie den ungeliebten Mann besiegen, damit sie mich, den Stellvertreter (Peter) für den Eigentlichen, dann an seine Stelle als ihren Partner installieren kann. Meine bedingungslose Unterwerfung unter den Vater, den schwachen König, gehörte dann zu den folgenschweren Auswirkungen dieser Konstellation, weil ich ihn als Schutz vor den Avancen meiner Mutter brauchte, auch um den Preis der Selbstaufgabe. Da hat der Döbereiner, von dem ich diese Analyse gelernt habe, schon recht, daß sich die ganzen archaischen und griechischen Tragödien heutzutage in zivilisatorischer Verkleidung noch genauso und in voller Grausamkeit abspielen.

Aber genug zu diesem unappetitlichen Thema. Meine in der Kindheit daraus erlernte Strategie war dann eben, entweder alle Kämpfe zu vermeiden, oder, wenn das nicht ging, gleich „ich gebe auf!“ zu signalisieren und mich dem Gegner von vornherein zu unterwerfen, die Überlegenheit des anderen – zumindest nach außen hin – anzuerkennen, egal, was ich von dem Burschen wirklich hielt. Im Inneren nämlich, in Gedanken, da konnte ich natürlich denken, „das ist ein Trottel“ oder „ist der primitiv!“ - meistens erst hinterher, nachdem der Schock nachgelassen hat. Oder was ich auch immer für Verurteilungen brauchte, um nicht auch seelisch völlig unterzugehen, sondern wenigstens innerlich, im Geheimen, eine wenn auch bloß ausgedachte Überlegenheit zu wahren.

Später, als Jugendlicher, hielt ich im Grunde diese erlernte Strategie bei, sie war schon angewachsen und das Ganze gehörte schon zu meinem Habitus. Im Gymnasium und vor allem in meiner Grazer Studentenzeit lernte ich die intellektuelle Variante solcher Kämpfe kennen. Da traute ich mich manchmal auch ein wenig zu sticheln – ironisch natürlich, mit einem Grinsen, das dem anderen signalisierte: ich stelle deine Überlegenheit eh nicht ernsthaft in Frage, ich spiele nur ein bißchen herum. (Auch da hat Döbereiner recht: das Intellektuelle – im Gegensatz zum Geistigen – als steckengebliebene Aggression; in ihrer Wirkung destruktiv, ob nach innen oder außen)

Nur zur Illustration über meine Stand damals in dieser herrlichen Welt: als junger Student nahmen mich Freunde zu einem Volksfest in der Oststeiermark mit. Ich hatte bei ihnen damals den Spitznamen „Oberförster“, weil ich zwar lange Haare und Bart trug, aber gegen jeden Trend des Zeitgeistes auch ein Trachtenjöpperl, für mich auch eine Reminiszenz an den Maoanzug. Und als dort auf diesem Fest irgendein Eingeborener zu mir etwas sagte, das mich provozieren sollte, wenn ich mich richtig erinnere, auf meinen Spitznamen bezogen, den er gehört haben mußte, antwortete ich, schon halbwegs betrunken, im jovialen Tonfall, unernst, mit versöhnlichem Lächeln, durch die Trunkenheit fröhlich und natürlich ironisch: „ach! So schnell haut den Oberförster auch nichts um!“ und – prack! - hatte ich einen Faustschlag im Gesicht und bin benommen am Boden gelegen, sodaß ich nicht mehr alleine aufstehen konnte. Die Freunde hatten dann alle Hände voll zu tun, den Typen davon abzuhalten, auf mich weiter einzudreschen. Was sich bei ihm zeigte, war natürlich der Hass auf die „Studenten und Gstudierten“, im Kern eigentlich ein Hass auf das Geistige und auf alles, was danach "riecht", ein Hass, wie er in unserem Volk stark verwurzelt ist und sich zum Beispiel auch im Nationalsozialismus – als kleiner Hinweis: auch mein Vater und Brüder meiner Mutter waren bei der SS – gewalttätig, vor allem gegen Juden und jüdische oder nichtjüdische Kulturschaffende, Religiöse und andere Bahn gebrochen hat und heute noch genauso da ist und auf seine Chance wartet, endlich wieder offen ausbrechen zu dürfen.
Natürlich war es von mir eine Anmaßung, mich selbst als „Oberförster“ zu bezeichnen und das Trachtenjöpperl – noch dazu im Kontext mit Mao – zu tragen und eigentlich überhaupt dort auf einem Volksfest zu sein, wo ich doch gar nicht zum Volk gehöre, sondern fremd in dieser Welt bin. Aber was dieser Primitive nicht verstehen wollte war, daß ich mich damit in erster Linie über mich selber lustig machte. Gut, jetzt bin ich wieder in meine Arroganz gerutscht. Egal! Genug davon und von Vorgeschichten und Abschweifungen. Zurück zu meiner „Heldentat“.

Das spielte sich ein paar Jahre später in meiner Grazer Studentenzeit ab. Ich jobbte nebenbei als Nachtwächter und hatte bei der Duropack in Kalsdorf etwas außerhalb von Graz am Wochenende Tagdienst. Nach Dienstschluß fuhr ich mit einem typischen Pendlerzug nach Graz. Der war ziemlich voll besetzt. Ich fand meinen Platz und ich tat das, was ich im Zug am liebsten mache: ich schaute aus der beengenden Verstelltheit des irdischen, dualen Raumes in innerer Flucht zum Fenster hinaus, die vorbeiziehende Landschaft und ihren Himmel zu betrachten. Die Fahrgäste habe ich nur kurz registriert, wie man es halt so macht, um potentielle Bedrohungen aufzuspüren. Aufgefallen sind mir dabei zwei primitiv wirkende, betrunkene Burschen, die sich zu zwei jungen Mädchen – auch nicht gerade hübsch – setzten, die sie offensichtlich nicht kannten, und die sie nun begannen, wie man so schön sagt – anzubaggern. Ich kümmerte mich nicht darum und schaute weiter sehnsuchtsvoll und mit innerer Anteilnahme die Gegend im Abendlicht betrachtend aus dem Fenster.

Doch was sich dort bei den vier abspielte, begann immer mehr zu kippen. Anfänglich war es noch etwas, das ich als ein typisches Unterschichtsgeflirte abhakte – auftrumpfende, angeberische und verbalaggressive Ansagen der Burschen und – tja! - mitspielendes, vielleicht auch zeitgewinnendes Gekicher der Mädchen. So, daß ich den Eindruck hatte, die Mädchen spielen da voll mit und es gefällt ihnen eh. Aber jetzt fingen die betrunkenen Helden an, die Mädchen körperlich zu bedrängen, anzugrapschen und ihr „Recht“ auf die Weiber einzufordern. Und es war unübersehbar, daß die Mädchen Angst hatten. Ich schaute nicht mehr zum Fenster hinaus, sondern mit möglichst gleichgültigem und abwesendem Gesicht auf die Szene, innerlich schon mit aufsteigender Angst. Aggressivität macht mir immer Angst; es braucht nur wer im Raum schreien und ich zucke zusammen.

Dann schaute ich mich im Waggon um. Die ganze Angestellten- und Arbeiterklasse war vertreten, wohl auch einige Schüler und Schülerinnen. Jedenfalls waren auch ein paar kräftige Männer darunter, die wie bodenständige Arbeiter oder Handwerker wirkten, aber alle schauten weg und taten so, als würden sie das nicht mitbekommen. Diese ganzen Typen, die sonst immer schnell mit „Denen gehört doch...“ oder „wenn ich was zu sagen hätte, ich würde denen...“ zur Hand, oder richtiger gesagt, zu Maul sind, nein, von denen kam kein Muckser. Alle feig. Ich denke noch – muß ausgerechnet ich, der – volkstümlich gesehen - Loser und Versager, den Mädchen helfen?

Meine Angst war groß, mein Herz klopfte wie wild, aber schließlich konnte ich nicht anders: ich stehe auf, setze mir die Maske der Gelassenheit auf, unterdrücke mit aller Kraft mein Zittern und gehe zu den Burschen. Die Mädchen versuchten die ganze Zeit schon in Panik zu fliehen, aber die Typen hatten ihnen mit ihrer breiten körperlichen Präsenz den Fluchtweg abgeschnitten und beschimpften sie aggressiv, während sie sie weiter abzugrapschen versuchten. Ich klopfte dem einen, der mir näher stand, auf die Schulter und sagte: „Ach geht’s! Laßt's die Dirndln doch in Ruh!“ Er antwortet irgendwas wie „diese blöden Weiber – zuerst tun sie so und dann wollen sie doch nicht!“ Ich sagte. „Ja, da hast du recht! Aber laßt's die blöden Weiber laufen! Denen nachzurennen habt's ihr doch nicht nötig! Solche Burschen wie ihr!"

Dadurch, daß ich den einen ablenken konnte, gelang jetzt den Mädchen die Flucht, der andere, mit dem ich nicht im Gespräch stand, ließ sich nicht abhalten, die Mädchen durch den Zug zu verfolgen. Der Typ, der bei mir stand, sagte: „Bist leicht a Hascher?“ Ich wußte damals noch gar nicht, daß im Sprachgebrauch des Volkes „Hascher“ Student bedeutete, sondern glaubte, er meine einfach nur Haschischraucher – schließlich trug ich ja lange Haare – und antwortete: „Ja, ein wenig“, obwohl ich damals noch gar keinen Haschischrausch erlebt hatte. Ich wechselte mit ihm noch ein paar Worte über die „blöden Weiber“ - selber war ich auch noch jungfräulich - oder doch nicht mehr? - jedenfalls bei Frauen nicht erfolgreich – als der andere von seiner Jagd zurückkam und ersterem berichtete: „Scheiße, sie sind mir entwischt!“ Ich sagte auch zu ihm etwas wie „laßt sie doch! Ihr habt's das nicht notwendig!“ und irgendwie beruhigte sich die Situation und sie setzten sich wieder hin und widmeten sich ihren Getränken und auch ich ging auf meinen Platz zurück.

Die Situation mag sich beruhigt haben, aber ich noch nicht. Mir schlotterten die Knie, am ganzen Körper zitterte ich vor Angst, bemüht, es nach außen zu verbergen. Wenn die mein Manöver durchschauen! Von wegen „Burschen wie ihr!“ - in Wirklichkeit hielt ich sie für primitive Trotteln. Und von wegen „Ihr habt das nicht notwendig!“ - au weh! Hoffentlich dämmert es ihnen in ihren Rauschhirnen nicht, bevor ich in Graz aussteigen kann!

Irgendwann nach bangen Minuten erreichen wir endlich Graz, Endstation, alle steigen aus, auch die Burschen, ich grüße sie noch mit einer jovialen Geste, und wie es so ist, die beiden Mädchen laufen mir noch über den Weg oder ich ihnen. Jedenfalls funkeln sie mich böse an, weil sie noch gehört hatten, daß ich von „blöden Weibern“ gefaselt habe. Mein Gott! Diese dummen und primitiven Gänse! Jetzt sind sie deswegen beleidigt! Habt denn ihr Dummis nicht kapiert, daß ich den Typen einen Ausweg anbieten mußte, daß sie ohne gröberen Gesichtsverlust von ihrem Eroberungsfeldzug ohne Beute zurückkehren können, um ihre Aggressionen und ihre Gewalttätigkeit herunterzuschrauben? Und daß das ein genialer Schachzug von mir war, ihnen „ach, die Weiber sind eh nicht gut genug für uns“ anzubieten? Und daß das schließlich zum Erfolg geführt hat? Hä?! Und daß - verdammt noch mal! - ich ihnen meinen Arsch hingehalten habe, damit ihr blöden Weiber davonlaufen könnt?!      Ach!













©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 19. November 2015

233 Schmerz


Ein kleiner Schmerz hat sich in meine Seele gelegt, vielleicht auch nur Gekränktheit, umhüllt von Selbstmitleid oder Wichtigtuerei oder Aufgeblasenheit. Aber es tut weh. Was ist das? Ich weiß es nicht recht. Wo ist es? Ich spüre es am stärksten im Bauch, aber auch hinter den Augen. Was ist das, „hinter den Augen“? Was für ein Raum bist du? Ein länglicher Hohlraum, der hier, hinter den Augen beginnt und sich bis in den Bauch hinunterzieht. Am deutlichsten spüre ich diesen Hohlraum hier oben und dort unten. Im Mittelteil, in der Nähe des Herzens, wirkt er etwas verstopft; ich muß länger hinfühlen, bis ihn erspüre.

Jetzt fühle ich doch mein Herz, aber als etwas schweres, einen Klumpen. Ein Herz aus Stein? Mein Tasten, Spüren und Fühlen wird von Trauer begleitet. Eher eine Universaltrauer, ohne erkennbare wirklich konkrete Inhalte.
Ein Ziehen hinter den Augen. Fühlt sich an wie aufsteigende Tränen. Etwas Kaltes, Starres hat mich erfaßt und läßt den Tränenfluß nicht zu; mit kalter Wut vermengt, darüber, daß ich mich so aufplustere. Ein aggressives, abweisendes „Was soll denn das!?“

Die Augen fallen mir zu. Ich werde im Schlaf Heilung und Entspannung suchen.


Im Schlaf bin ich in einem keuschen Traum gewesen, obwohl er ganz anders angefangen hat. Aber die Traumwelt ist in ihrer fremden Gesetzmäßigkeit vom Alltagsbewußtsein zu weit entfernt, als daß ich meine heftigen, schmerzlichen Gefühle jetzt, hier in dieser Welt, verstehen kann.

Ich vermute, dieser Schmerz in mir ist sehr alt und wird dort seit Jahrhunderten abgelagert. Er ist die ganze Zeit da, wirkt auf die Seele, auf meine Handlungen und Gefühle, auf meine Entscheidungen, aber ist als ständiges Hintergrundrauschen unter der Schwelle der bewußten Wahrnehmung. Nur manchmal, so wie jetzt, kann ich seine ständige Anwesenheit spüren, wie einen verhärteten Fremdkörper in meinem Inneren, von außen nicht gleich zu sehen. Etwas Nagendes in mir; etwas, das mich von innen auffrißt.
Ein Kribbeln unterm Nabel, ein leichtes Würgen im Hals, ein Ziehen oder ein Druck hinter den Augen – alles erst nach längerem Hinfühlen zu spüren.

Der Mann hinter mir kennt sich gar nicht mehr aus. Der Mann hinter mir? Wo kommt der jetzt daher? Ah, ich bin wieder kurz in die Traumwelt geglitten.

Schrille Bruchstücke schwimmen umher. Ich verliere den Überblick, der innere Supervisor hat sich aufgelöst. Das heißt nicht, daß seine Intentionen und Ideen nicht mehr wirksam sind, sie schwimmen möglicherweise noch als Treibgut im inneren See.

Ich gehe mit meiner Aufmerksamkeit immer wieder zum Schmerz zurück. Er ist immer noch da, hat sich nicht aufgelöst, ein fester Pflock, tief in den Untergrund eingeschlagen, aufragend bis hinter die Augen.

Meine Wahrnehmung scheint sich ein klein wenig von meinem Körper abzulösen, denn ich spüre mich, entgegen meine reale Körperposition, leicht, aber deutlich nach links gedreht. Der Würfelhocker fällt mir ein und der Zeichenprofessor, der ihn uns gezeigt hat.

Mein Bewußtsein will sich wieder festigen, während tausend Eisenbahnschienen quer in meinem inneren Gesichtsfeld liegen.

Und der Schmerz ist noch da; ich habe wieder hingeschaut. Kurz bin ich in einer Höhle, wo früher Tausende gemartert wurden. Jetzt ist sie leer. Sie sollte irgendwo im Salzburgischen liegen.

Ich muß innerlich ein bißchen lächeln über die Bilder, die da auftauchen; ob das Bilder wirklicher Gegenstände oder Sinneinheiten sind, oder bloß Schaum auf den Bewußtseinswellen?
Innen an den inneren Fensterscheiben gleitet eine durchsichtige, schleimige Substanz nach unten, träges Wasser vielleicht.

Das Gelb der Karteikarten sticht mir, nein, drängt sich mir in die Augen. Das kommt jetzt aus der bunten äußeren Welt, die mir allerdings auch irgendwie in einem See versunken erscheint. In einem See aus schriller Intensität, mit surrender Begleitmusik.
Der Schmerz ist immer noch da, aber ich fühle ihn undeutlicher, weiter entfernt.

Ich bin mir jetzt gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt ein Schmerz ist.














©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 18. November 2015

232 Schreiben


Heute ist es so, daß mir nichts zu schreiben einfallen wird. Es ist schon spät, die beste Zeit zum morgendlichen Schreiben habe ich längst verpasst und am Gang draußen wird irgendetwas gearbeitet – gebohrt, gehämmert, was weiß ich. Unten spielen fröhlich und laut die Tageskinder. Es ist nach zehn und ich bin hungrig, aber ich will nicht hinuntergehen zum Frühstücken, weil bald die Magistratsabteilung elf zur Kontrolle kommen wird; denen will ich nicht unbedingt begegnen. Bei allen Kontrollen der Obrigkeit fühle ich mich von vornherein als zu schlecht, minderwertig, als jemand, der den Ansprüchen nie gerecht wird, auch wenn es gar nicht um mich geht, wie jetzt. Mir ist soetwas äußerst unangenehm.

Der Wind draußen ist so stark, daß er bei geschlossenem Fenster die Jalousie bewegt und ich ihn hier im Zimmer auf der Haut spüren kann. Er burrt vor sich her und irgendwo rumpelt etwas, das der Wind mit seinem Rütteln in Bewegung oder Schwingung versetzt hat.

Ich stelle mir die Kontrollen immer männlich vor, aber hier wird es eine freundliche Dame sein und sie ist unten gerade hereingekommen, wie ich höre.

Ein Kind unten rasselt und scheppert mit etwas. Auf einmal jedoch ist es ganz still; einen kurzen Moment verstummt der Wind, niemand redet, keines der Kinder ist zu hören. Dann fangen die Geräusche wieder an, aber nicht plötzlich, sondern ganz allmählich; als müßten sie sich aus der Stille heraus wieder neu erfinden, beginnen sie zunächst sporadisch, leise und steigern sich in einer sanft ansteigenden Lärmkurve auf ihr vorheriges Niveau.

Wenn ich schreibe, komme ich ins Gleichgewicht. Das ganze Unglück meines Lebens wird durch Schreiben erträglich und ich werde mit meinem Schicksal versöhnt. Wenn ich unrund bin, rundet es mich ab. Wenn ich zerstreut bin, sammelt es mich. Wenn ich in den Schreibfluß komme, lebe ich. Fast hätte ich hingeschrieben: nur wenn ich in den Schreibfluß komme, lebe ich. Aber irgendeine Instanz in mir streicht das „nur“ durch. Eine Zensurinstanz, die meint, dieses „nur“ wäre dem Leben, meiner Frau, meinen Kindern gegenüber unfair und ungerecht. (Und das stimmt! Ich brauche mich zum Beispiel nur an die Intensität und Trance erinnern, die ich bei der Geburt der Kinder erlebt habe. Meine innere Zensurbehörde hat recht!)

Vielleicht habe ich es beim Schreiben mit einer Art Selbstvergewisserung zu tun. Ich bin ja wie ein „Blatt im Wind“, von allem und jedem herumgeblasen, ohne innere Stabilität; je nachdem, mit wem ich gerade gesprochen habe, je nachdem, was ich gerade gelesen habe, denke ich so oder ganz anders. Ich gebe jedem und allen recht. Ich fühle keinen Kern in mir. Nur Schichten wie bei einer Zwiebel, möglicherweise innen verfault. Obwohl, das kann nicht sein! Aber ich fühle den gesunden Kern nicht.
Wie auch immer, beim Schreiben gewinne ich Kontur, so daß ich es mit mir aushalten kann. Und ich kann das alles, auch das Auflösende, beschreiben. Oder ein anderes Beispiel: so unangenehm es mir ist, daß ich vor der Kontrolle unten Angst habe, und ich mich ihr nicht als freier, aufrechter Bürger, der weiß, was er ist und daß er in Ordnung ist, stellen und entgegentreten kann, und so sehr das in mir den Film mit dem Titel „Versager“ ablaufen läßt mit all den Gefühlen an Scham, Verzagtheit, Trauer, Wut – dennoch kann ich es beschreiben. Und dann bekommt alles – ich weiß auch nicht so recht, warum – einen Sinn. Daß es nur gesagt ist. Daß es nur beschrieben ist, im Gefäß des kollektiven Gedächtnisses abgelegt, als winziges Teilchen, wie unbedeutend es auch sein mag, in irgendein höheres Bewußtsein gehoben.

Und ich habe jetzt eine Aufgabe; ich kann aus dem Zimmer gehen, das Geschriebene in den Computer tippen – wobei ich noch meistens bloß kleine Veränderungen am Text vornehmen kann – immer noch in einem Zustand der Schreibtrance – und es dann auf meiner Schublade veröffentlichen.

Schreibtrance deshalb, weil ich vorher nie weiß, was ich schreiben werde; meistens fange ich an und glaube, ich weiß nichts zu schreiben. Aber auch wenn ich eine Schreibidee habe, wundere ich mich immer, wohin mich das führt und was alles aus mir herausfließt, vieles, von dem ich gar nicht wußte, das es in mir ist; das gilt sowohl für Inhalte als auch für Formulierungen. Mir kommt schon vor, beim Schreiben komme ich immer wieder mit etwas in Kontakt, das größer ist als ich. Wenn das wirklich so ist, dann ist alles gut.













©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 17. November 2015

231 Eine gute Nacht und ein komplizierter Morgen


Scharfes Licht im Zimmer. Alle Gegenstände und die Bücher stehen klar und scharf da. Es kommt mir vor, das Licht hätte einen grünen Touch, aber mein Verstand sagt, das kann nicht sein. Ich bin innen voll von etwas, das von außen kommt. Aber nicht wirklich. Oder doch? Ich habe beim Lesen ein wenig geweint. (Ein wenig geschwindelt – in Wirklichkeit hätte ich bei meiner gierigen Art zu lesen gar keine Zeit dafür.) Aber in mir aufgestiegen ist es schon; das stimmt!

Das, was mich erfüllt, betäubt mich etwas – ich weiß nichts; ich fühle nicht, was ich fühle; ich fühle nur, daß ich fühle, aber ich fühle nicht, was ich fühle. Gibt es das überhaupt? Ich mißtraue mir. Ich bin nicht nur ein Drückeberger, sondern auch ein Übertreiber und Schwindler. Eine Dramaqueen. Ich muß lachen. Innerlich. Äußerlich lächle ich leicht.

Diese Betäubung ist nicht unangenehm. Als hätte ich einen schmerzlosen Schlag bekommen, der mich benommen macht. Schmerzfrei nicht, weil er schwach gewesen wäre, sondern weil er nicht auf der körperlichen Ebene dahergekommen ist. Eher wie ein Bewußtseinsflash. Benommen von irgendeiner Fülle. Oder hat sich bloß der blinde Fleck ausgedehnt?

Vielleicht bewirken das bläuliche Licht der Energiesparlampe und die gelbe Jalousie den grünlichen Touch im Raum der bunten Welt der Buchrücken. Teile von Gedanken driften umher, aber verhaken sich nicht mehr zu einer Kette. Ich registriere, daß ich nicht denke. Gut, ich werde mich in dieser stillen Fülle (oder Empfindungsblindheit) zur Ruhe begeben. Gute Nacht.


Der übliche Input: mein Zimmer und seine Gegenstände über die Augen, das Weckerticken und Surren über die Ohren. Das Surren eigentlich nicht, weil es in den Ohren erzeugt wird. Ein Input, der von innen kommt.

Von noch weiter innen kommt dü dü dü düü dü, dü dü dü düü dü, eine Melodie, die mich seit Tagen immer wieder heimsucht. Ich höre sie ohne Beteiligung der Ohren.

Etwas kompliziert für einen Morgen, wo ich noch gar nicht denken will. Also wie ist das jetzt wirklich – wo ist das, das fühlt und wahrnimmt? Innen, aber nicht wirklich im Körper lokalisierbar, eher oben, aber nicht unbedingt im Kopf; aber wo dann?

Das Surren ist in den Ohren, von dort, wo ich fühle, weiter draußen, aber schon drinnen. Obwohl: das denke ich vielleicht nur, weil ich es höre und dabei unwillkürlich an die Ohren denke. Empfinden tue ich es eher als etwas, daß mich auf Kopfhöhe umhüllt; rundherum, auch hinter mir.

Und die Melodie? Die war jetzt verstummt und ich habe sie wieder einschalten müssen. Wo ist sie? Ungefähr zwischen den Augen? Die innere Topographie läßt sich anscheinend mit der äußeren nicht wirklich beschreiben. Die Melodie sitzt nicht nur zwischen den Augen, sie geht eindeutig tiefer; zumindest in diesem Moment. Sie ist länglich und geht vom Bauch unten bis oben, mitten knapp hinter die Augen. Im Bauch unten ist eher der Baß. Die höheren Stimmen sind eher oben. Aber es ist eine Einheit, ein ganzes, längliches Gebilde.

Das Surren ist eher rund, ein Wasserkopf aus Tönen, obwohl es auch den Brustraum mit einschließt. Die Außengrenzen sind nicht ganz klar. Zwei Brennpunkte – wie bei einer Ellipse – schweben eindeutig bei den Ohren, aber knapp außerhalb. Die beiden Brennpunkte scheinen einen leichten Druck auf die Ohren auszuüben, der mich die Ohren wie mit Luft gefüllt – leicht aufgeblasen – fühlen läßt. Das fühle ich eindeutig innen. Aber sonst kann ich außerhalb oder innerhalb des Körpers nicht wirklich entscheiden, weil es zwei getrennte, sich zwar überlagernde Systeme sind, aber jedes mit ganz eigener Gesetzmäßigkeit und Topographie. Außen, das ich wie innen empfinde. Ein Innen, das mich auch außen umhüllt.

Was für ein Morgen!






















©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 14. November 2015

230 The Smiths lösen bei mir voradventliche Vorweihnachtsstimmung aus


Ich höre mir die ganze Zeit „Stop me if you think you've heard this one before“ von den Smiths an und es löst in mir starke Gefühle aus, über die ich mich selber wundere. Nicht darüber, daß ein Musikstück für mich auf einmal etwas ausdrückt, das mich ganz trifft und ich geradezu süchtig danach werde, es anzuhören. Das ist nicht neu – das gibt es immer wieder und kann ganz verschiedene Musikstücke aus verschiedenen Musikrichtungen treffen. (Dabei schaltet mein Verstand sofort auf Warnung: „Warnung! Überprüfe, ob da etwas mit dir nicht stimmt! Das ist ein Symptom! Projektion und Sentimentalität? Wiederholungszwang und Gefühlsduselei? Denk auch an die Sentimentalitäten der Nazis! Echte oder unechte Gefühle?“) Nein, ich wundere mich über die Heftigkeit der Gefühle, denn ich könnte heulen, heulen, heulen. Das Wasser steht mir in den Augen, aber ich weine nicht.

Was ist das? Es ist die Musik, die das auslöst. Der Text ist es nicht, denn ich kann nicht genug Englisch, um ihn zu verstehen, nur „nothing's changed/ I still love you“ bleibt noch hängen; wobei ich das – wohl gegen den Text – vom Empfinden her universal auffasse und meine Liebe zur Welt, zu den Menschen, meinen Eltern, meinen Kindern, zu meiner Frau und ….. zur Existenz überhaupt meine, die ich aber so gar nicht wirklich entfalten kann. Dabei ist diese Liebe im Inneren ja da. Immer. Ich spüre sie doch jetzt! Ach! Wie bleibe ich hinter meinen Möglichkeiten zurück! Das tut weh. Das tut sehr weh.

Gleichzeitig, wenn ich dieser Liebe in meiner Lebensgeschichte nachgehe und mich dann als das Kind sehe, das dasteht mit seiner angeborenen Liebe und sie wird nicht wahrgenommen, dann spüre ich die Verlassenheit, Schutzlosigkeit und Einsamkeit meiner Kindheit. Meine ganze armselige, gebrochene Existenz, die Inkarnation eines verstummten Hilfeschreis, den niemand sieht, einer versteckten Klage, die niemand hört. Auch das tut weh, sehr weh.

Ich meine das so - und das gilt für alle: ein Kind komme als reine Liebe auf die Welt und was macht die „Welt“ damit? Sie beurteilt, bewertet, benotet und bekämpft diese Liebe, verschmäht und entwertet sie; sie führt einen Krieg, man landet mitten in einem Schlachtfeld, ob offen oder zivilisatorisch verkleidet.

Schön, daß ich kaum Englisch verstehe und - während ich der Musik lausche - mein eigenes Drama ausspinnen kann. Und schön, daß bald Weihnachten kommt, denn da feiern wir, daß es ein paar luzide Menschen gibt, die vor dieser angekommenen Liebe auf die Knie gehen und sie in diesem Kind ehren. Mein Gott! Was werde ich da wieder heulen! Und die Tränen hinunterwürgen.

Und auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole: „I still love you“ (Das würde ich gerne von einer Bühne in die Welt hinaussingen! Gekonnt natürlich); die Liebe ist noch nicht gänzlich abgewürgt. Sie ist im Innersten noch da. Auch das gilt für alle. Ich betone: für alle! Namaste!










©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 12. November 2015

229 Was ich da gestern gestammelt habe!


Was ich da gestern gestammelt habe!
Aber es ist schon so, daß sich in vielen Momenten, soweit meine Erinnerung zurückreicht, etwas sich in mir bemerkbar macht und ich es zu fassen versuche, was mir nie so recht gelingt. Eigentlich gar nicht. Ich komme über des Stadium der Ahnungen nicht hinaus. Aber vergessen kann ich es auch nicht. Im Gegenteil, ich glaube, daß dort, genau dort das Entscheidende ist, des Rätsels Lösung, die Antwort auf alle Fragen (oder der Ort, wo alles Fragen aufhört). Ich kann es und will es nicht loslassen, meine ganzes Leben ist auf fast unbewußte Weise daraufhin ausgerichtet, auf so etwas Vages, Unbestimmtes, Unfaßliches, daß ich das Alltagsleben vernachlässige. Das müßte nicht so sein, bei mir ist es aber so. Ich will dort hin, nicht hier bleiben. Diese Dynamik ist sehr stark. Wobei es meinem Geist klar ist, nur wenn ich ganz, wirklich ganz, hier bin, bin ich dort; beziehungsweise kann ich dort hingelangen. Einen anderen Ort, als ein klares, starkes hier als Ausgangspunkt für die Reise nach dort zu wählen, ist selbstzerstörerisch.
Aber meine Seele kann das nicht annehmen; sie fürchtet sich zu sehr vor diesem hier. Ich fühle mich in dieser Welt nicht wirklich daheim. Manchmal, vielleicht für kurze Momente, aber mit einer ständigen, untergründigen Angst, die schon regelrecht angewachsen ist. Ich habe Angst und ich finde mich nicht zurecht. Ich denke immer, die Welt ist mir feindlich gesinnt und will mich nicht haben. Ich kann es mir noch so oft vorsagen, daß das ein Trugschluß, eine Projektion ist - meine Seele – oder was auch immer – glaubt es nicht. Sie kann es nicht richtig glauben. Sie fühlt sich für diese Welt der Dualität nicht robust genug ausgestattet. Und wenn ich glücklich bin, dann fast immer, weil ich das dort spüre und meine Sehnsucht danach.

Ja, so ist es. Weiter bin ich nicht gekommen.


Jetzt ist es Abend und ich liege im Bett um zu lesen. Ich mache eine Pause und strecke mich genüßlich; es ist toll, meinen Körper, mit dem ich hier in der Welt anwesend bin, zu spüren. Oh Gott, und wie ist das schön, im Bett zu liegen und zu lesen! Und wenn es ein gutes Buch ist, dann blicke ich nachher andächtig im Zimmer umher und stehe auf und mache freiwillig oder gar freudig etwas, das getan werden muß.











©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 11. November 2015

228 Eins und Zwei


Eins.Eins

Ich hole Luft. Ich hole tief Luft. Nach dem Hustenanfall kann ich wieder richtig atmen. Alles Mögliche geht mir im Kopf herum und ich bin aufgewühlt. Wovon? In Wirklichkeit weiß ich es nicht.

Der Hustenreiz bewegt sich suchend in meinem Brustkorb, er sucht einen Auslöser und hat ihn schon gefunden. Das war aber nur ein kleiner Hustenanfall, nicht der Rede wert.

Es ist Nacht. Durch das offene Fenster strömt frische Luft herein. Es ist still. Die Stille greift nach mir.

Durch die kühle Luft angeregt, sucht mein Husten wieder im Brustkorb herum.

„Ich singe das Lied vom Untergehen.“ Nun, bei allem Respekt vor der Intuition und den frei aufsteigenden Botschaften – wir wollen es nicht übertreiben.


Eins.Zwei

Die Gegenstände in meinem Zimmer sind von einer weißlichen Aura umgeben, ein stumpfes, weißliches Licht, das mit meinem Blick mitwandert. Ich selber bin von so einer Art Krankheitsmodus eingehüllt, der alles ein wenig ins Fremde schiebt. Nur ein wenig, gerade soviel, daß alles bedeutender, tiefer, faszinierender wirkt. Und ich habe frei. Der Krankenstand erlaubt mir, mich von allen, wirklich allen Verpflichtungen frei zu fühlen. Da fällt mir erst auf, was ich ansonsten alles schleppe.

Das weißliche Licht ist verschwunden, ich kann es nur noch an einzelnen Stellen für kurze Augenblicke sehen.
Jetzt sehe ich dunkle Streifen, die sich manchmal längs, manchmal quer ziehen. Vermutlich irgendwelche Nachbilder, deren Herkunft zu entschlüsseln ich zu faul bin. Oder nicht daran interessiert. Denn nocheinmal: es ist mir ein willkommener Zustand, wenn ich meine Wahrnehmung wie etwas empfinde, das ein Eigenleben führt und mich als ein beinahe Fließendes einhüllt. Ich empfinde dann die Ahnung stärker, daß dahinter alles ganz anders ist.

Ein leichter Schauer durchläuft mich, der mich festigt, zusammenrüttelt. Ich werde den Tag jetzt angehen.

Ich muß lachen, denn mir fällt auf, fast mein ganzer materieller Reichtum hier besteht aus Musikkonserven und Büchern. Also aus Musik und geistiger Nahrung.


Zwei

Glocken läuten. Diesmal fühle ich mich nicht angesprochen, während die Morgendämmerung und frische Luft in mein Zimmer einziehen. Und ferne, aber deutlich zu hören, die Geräusche der Stadt.

Etwas, das ich nicht fassen und nicht beschreiben kann, dehnt sich in mir aus. Etwas wie Sehnsucht könnte es sein. Es macht mich glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil es da etwas gibt, das einen mit offenen Mund staunen läßt, und traurig, weil ich nicht dorthin gelange. Aber es macht mir nichts aus. Es ist keine Schande, nein, nein! Es ist jenseits aller Moral, aller Anforderungen, aller Vorsätze.
Ich nehme es nur schwach und vage wahr, wie am Rande meines inneren Gesichtsfeldes, aber eigentlich ist es stark, ganz stark; ein mächtiger Strom am Grunde des Daseins, ich selber ahne es mehr, als daß ich es sehe, spüre, höre .....

Es erinnert mich auch an meine Kindheit und Jugend, an irgendetwas, das ich manchmal stark in meiner Seele empfunden habe, etwas, das nicht verletzt ist. Das da ist, ich aber nicht erreiche. Und deswegen in mir oft nicht rein, sondern vermischt mit allem Möglichen. Ah! Das ist ganz unbeholfen beschrieben.
Meine Traurigkeit ist nicht traurig, sondern lächelnd. Meine Vernunft sagt, daß das kindisch und unreif ist. Meine Vernunft weiß nicht allzuviel. Auch wenn sie recht hat, stimmt es oft nicht. Man kann solche Sätze hinschreiben. Die Grammatik erlaubt es.

Ein Ziehen. Vielleicht kann ich es ein Ziehen nennen. Von etwas Unbeschreiblichem angezogen werden. Es ist eine Art Friede in mir. Ob der hält, weiß ich nicht. Bisher hatte er nicht gehalten.
Ein Propellerflugzeug fliegt durch die Geräusche, jetzt schaltet sich ein Entlüfter ein. Mein Geist hat sich in Gedanken verheddert und das Fühlen abgewürgt. Trotzdem, der Waffenstillstand hält noch.

Der Hustenanfall sticht bis zu den Schläfen hinauf. Draußen wird es immer lauter. Die Müllabfuhr mit ihrem Optimismus ist da. Finden sie nicht, daß die Müllabfuhr Optimismus ausstrahlt? Tatkräftig, konsequent und laut scheint das Leben des Alltags bewältigbar.












©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 9. November 2015

227 Aufplatzende Erinnerung


Tag reiht sich an Tag. Ich mache Pläne für diesen heutigen, aber ein Hustenanfall folgt auf den anderen. Mir fallen wieder die Augen zu. Ich habe diese Nacht schlecht geschlafen. Den Weg ins Badezimmer findet nur mein Geist, und der verrennt sich, denn wie er sich nach rechts zur Badezimmertür dreht, befindet sich dort nur ein Fenster.

Vergeblich versuche ich auf dem imaginären karierten Papier ein Quadrat zu zeichnen, mit dem ich etwas zeigen will. (Fast wie die Architekten es machen. Alle Architekten, die ich kenne, zeichnen, wenn sie etwas erklären wollen.)

Ich fertige eine Zeichnung an, nach vorne gebeugt und konzentriert, aber als ich die Augen aufmache, ist sie nicht da. Ich habe gerade drüben in der Traumwelt wichtiges Schreibwerkzeug zerlegt um es zu reinigen, dann aber wollen die den Tisch wegtragen, darum habe ich schnell alle diesen filigranen Teile in meine hohle rechte Hand geschoben, aber jetzt, hier, wohin damit? Ich werde das Zeug auf mein Notizbuch leeren.

Drüben habe ich irgendein Projekt laufen. Aber welches? Ein Seniorenkalender? Das große Blatt vor mir ist vollgezeichnet mit Entwürfen und Plänen, und voller Farbflecken. Schlage ich aber die Augen auf, habe ich nur mehr mein Notizbuch vor mir. Mit schwarzer Schrift, die ich kaum entziffern kann - zum Beispiel kann ich nicht mehr entziffern, was statt dem „nach vorne gebeugt“ dort steht – und mit ein paar Kugelschreiberpunkten und Strichen, wenn mir beim Einschlafen meine rechte Hand, die den Kugelschreiber hält, aufs Papier gefallen ist oder sonstwie beim Erschlaffen verrutscht.

Auch mein Notizbuch schaut drüben anders aus. Und wieder und wieder fallen mir die Augen zu.

Ich wollte drüben gerade meine Mutter benoten, auf einer Skala von eins, schlecht, bis zehn, gut, aber irgendwie hat es nicht geklappt. Ich glaube, ich wollte ihr einen Punkt geben. Hier herüben schäme ich mich – trotz allem – ein wenig dafür und denke, ich bin undankbar. Mein kaputter Kugelschreiber – drüben - schmiert fürchterlich. Ich will aufschreiben, wie das drüben funktioniert, aber als ich die Augen aufmache, steht nichts da.

Drüben habe ich ein kurzes Interview gegeben; es ist um Schriftsteller gegangen, deren Schreiben von Karl Ove Knausgård inspiriert ist. Ich habe gesagt, daß ich ohne Knausgård nicht zu schreiben begonnen hätte. Hier sage ich: vermutlich auch nicht, solange Vater, Mutter und Döbereiner noch gelebt haben. Erst als sie tot waren, war der Weg frei.

Jetzt fällt mir eine Szene ein, die ich komplett vergessen hatte. Ich muß so um die zwanzig gewesen sein, meine Mutter und mein Vater haben mir schwere Vorwürfe gemacht, irgendetwas Grundsätzliches, Existenzielles, genauer erinnere ich mich nicht mehr, und ich habe ihnen geantwortet, in größter Verzweiflung, weinend, daß ich schreibe, und daß es Leute gibt, die mit Literatur zu tun haben, die meine Texte nicht schlecht finden. Ich wollte damit sagen: an mir ist nicht alles falsch. Und meine Mutter darauf: aber das weiß ich ja nicht! Trotzdem war ich beschämt, ich konnte mich nicht ausreichend verteidigen.

Schade, jetzt ist die drübere Welt weg. Diese Erinnerung hat mich ganz munter gemacht. Ich wußte gar nicht mehr, daß ich dem Schreiben und der Schriftstellerei schon einmal so nahe war. Diese Szene und auch die Leute, die meine Texte gut und vielversprechend fanden, hatte ich total vergessen.

Jetzt surrt es wieder ganz aufgeregt. Die Sirenen loben und locken mich in höchsten Tönen in die Traumwelt, aber leider bin ich ganz wach.

Und trotzdem, wenn es denn ein Werk ist, mein Werk wird bescheiden sein.








©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 7. November 2015

226 In fieberlosem Fieber


Als ich vor einer halben oder Dreiviertelstunde aus dem Fenster in den Hof geschaut hatte, lagen auf dem Boden nur einige Blätter herum. Jetzt aber ist der Hof übersät von gelben Blättern und die Essigbäume sind fast leer. Beinahe ein kleiner Schock, der meinen Atem kurz anhalten läßt; wie schnell das geht; ein ordentlicher Windstoß und die Bäume sind kahl. So schnell und einfach geht das. Sicher, es ist die Jahreszeit dafür und wir erwarten es, aber trotzdem kommt es überraschend und plötzlich; der Wind ist da und alles ist anders.

Nun, am Nachmittag liege ich im Bett, beim Lesen eine Pause einlegend, ein wenig sitzend, drei Pölster im Rücken, aber dennoch wie aufgebahrt, meine Lieblingsstellung, dabei bin ich eingenickt, denn die Hustenanfälle haben nachgelassen. Vorm inneren Auge ein dunkles, fast schwarzes Mahjong Titan, die Steine fast nicht zu unterscheiden, so dunkel, ich spiele es ohne einen Finger zu rühren und ich weiß nicht wie oder spiel ich es überhaupt oder spielt es für sich selbst?

Ich bin durch diesen Zustand bis in den Schlaf geglitten und wieder zurück, aufgewacht durch „Scheiße!“-Rufe und Füßegetrampel auf der Stiege. Jetzt huste ich wieder, ein Anfall kommt nach dem andern, unwillkürlich laufen mir Tränen über die Wangen.

In der Welt draußen habe ich alles abgesagt, darum darf ich hier liegen und zwischen Wachen und Träumen schaukeln, am liebsten bin ich in diesem Zustand dazwischen, wo schon Traumbilder oder -fetzen herumziehen, aber das Bewußtsein noch wach ist, oder zumindest wach erscheint, auch wenn die Gedanken schon ein zerfallenes Eigenleben führen und sich mit den Traumelementen verbünden.

Aber jetzt hält mich der Husten auf der wachen Seite – an die andere Seite erinnert das heftige Surren in den Ohren, ein irrer Gesang, und wenn man länger hinhört, extrem laut, schrill, rasend, fast beängstigend. Aber mir macht dieser Gesang keine Angst, ich kann ihn irgendwie einordnen.

Das schrille Läuten meines Handys reißt mich aus dem Horchen heraus stellt das Surren leiser. Es ist meine ältere Tochter am Telefon.

Nachdem ich aufgelegt habe will ich wissen, ob meine jüngere Tochter noch im Haus ist, denn es ist plötzlich so still. Ich rufe nach ihr, aber meine Stimme versagt und kippt nach oben, wie beim Stimmbruch. Ich lasse es sein. Sie wird schon weggegangen sein.

In der nun eingetretenen Stille wird das Surren wieder stärker, zusammen mit dem Ticken des Weckers und – eher im gedämpften Hintergrund – Geräusche aus dem Haus und von draußen.

Mir fällt gerade ein, daß ich schon lange keine Musik mehr gehört habe. Wäre das ein guter Zeitpunkt? Eigentlich schon, denn ich liebe Musik, aber in letzter Zeit will ich selten die Stille verlassen. Darum verwerfe ich für jetzt den guten Gedanken.

Ich muß auf die Toilette und starre in meinem fieberlosen Fieber gedankenverloren auf den Fliesenboden, seine Muster, Fugen und Sprünge, auf die Lichtreflexionen auf den Fliesen, und plötzlich sehe ich dreidimensional in die Tiefe. Zuerst so eine Art röhrenförmiges Gitter, das ein wenig in die Tiefe geht, nicht weit, nur im Bereich nahe an der Oberfläche und darunter geht ein schmaler Schlund weiter nach unten, ganz tief, kein Ende ist abzusehen.
Nur kurz, dann verschwindet das Bild wieder und der Fußboden liegt wieder zweidimensional und flach vor mir.










©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com