Freitag, 22. Juli 2016

413 Die Folgerichtigkeit löst sich auf

Oh wie ist das herrlich, so müde zu sein, weit nach Mitternacht, daß sich die Gedanken auflösen, jede Folgerichtigkeit lautlos zerreißt, das Schreiben nicht mehr geht. Vor allem, wenn man schon im stillen Bett sitzt und sich nur ausstrecken braucht. Alle diese festgemauerten Gedankengebäude werden weich wie ungebrannter Lehm im Regen. Ich greife noch nach Gedanken, Gefühlen, dem Kugelschreiber, um Halt zu finden, aber ich lache unhörbar darüber, wie ich danebengreife, oder in Nebel, Wolkenfetzen.
Ich betrachte meine wirklich alt gewordene Haut an der Oberseite meiner linken Hand, die gerade noch das Buch hält oder sich gerade noch am Buch anhält. Es will etwas wie Wehmut aufkommen, aber, Gottseidank! ich bin viel zu müde, auch zu müde für Selbstmitleid. Auch meine persönliche Geschichte ist nur so ein Nebelstreifen, der herumzieht, dabei seine Form verändert und sich bald auflösen wird, wie Milliarden andere auch. Was für eine Freiheit in der Angebundenheit an den Schlaf. Vom Tod will ich gar nicht reden.

Wieder aufgewacht machen mir die Katzen ihre Aufwartung. Unidentifizierte Geräusche aus Traum und Lichtschacht treffen auf mich auf und platzen in meiner Nabelgegend, kugelförmig herangeschwebt wie festere Seifenblasen. Die Rufe der Krähe zur Bestätigung. Am Rande des Gesichtsfeldes scheint meine Wahrnehmung ins Schwarz-Weiß zu verblassen, wie auf schlecht kolorierten Photographien aus dem neunzehnten Jahrhundert.













©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 21. Juli 2016

412 Am Anfang und am Ende einer Schlafphase

Nachmitternächtliche Umschau. Nur oberflächlich. Ich lausche auch hinaus in die stille, städtische Nacht. Am lautesten ist immer noch mein Ohrensurren. Und das Weckerticken. Es war ein guter Tag heute. Ich habe mehr Interviews zustandegebracht, als sonst bei mir üblich. Da fühle ich mich gleich viel wohler in meinem Körper.
Minutenlang halte ich aufrecht im Bett sitzend mein Notizbuch in der Hand, während meine Gedanken umherschweifen, mir die Augen zufallen und ich zu schreiben vergesse. Was sagt die Leserin? Besser so?



Im Traum war ich wieder, wie so oft, im Haus am Fluß. Und wieder am Tag der Abreise. Große Hektik, um alles in Ordnung zu bringen. Irgendetwas fehlt, ich glaube, es war etwas Technisches, irgendetwas ist nicht an seinem Ort, wird uns der Vermieter ohne Pönale ziehen lassen? Da klingelt das Festnetztelephon. Für mich? Ich bin ja schon fast weg. Wer weiß außerdem, daß ich hier bin und kennt die Telephonnummer vom Haus am Fluß? Es kann nicht für mich sein, aber weil sonst niemand im Raum ist, hebe ich ab. „Hallo?!“ „Servus Peter!“ Ich tue freudig: „Ahh! Servus! … (keine Ahnung, wer das ist) .. wie geht’s?“ Darauf er enttäuscht: „Ah, du erkennst mich nicht!“ Die Stimme ganz traurig. Sie kommt mir schon bekannt vor, aber wer ist es? Peinlich. (Fritz, warst du das? Hast du aus dem Jenseits angerufen? Sei nicht enttäuscht, ich war doch gerade im Stress der Abreise und habe sowieso nicht mehr gewußt, wo mir der Kopf steht. Sei bitte nicht enttäuscht.

Aber es stimmt schon, ich habe dich nie richtig wahrgenommen, aus meinem Hochmut heraus, keine Gedanken an dich verschwendet und bei unseren seltenen Begegnungen ein Gespräch auf gleicher Höhe bloß vorgetäuscht.)


Jetzt … am Wegrand steht so etwas wie ein kleiner Betonbunker, innen führt ein Schacht in die Tiefe. Ungefähr so, wie ehemalige Wasserreservoirs aussehen können. Bei uns in Irdning gab es so einen, links, an der Straße zum Pranzl rauf. Dieses Wasserreservoir war nicht mehr im Betrieb, das kleine Gehäuse ist in die Straßenböschung hineingebaut, eine kleine, normalerweise versperrte Metalltür, und innen ging ein betonierter Schacht ein paar Meter in die Tiefe (oder weniger? Als Kind …) und unten gab es zwei betonierte Kammern. Als Kinder sind wir irgendwann einmal hineingekommen und haben unten Reste von Holzkisten gefunden. Wir waren überzeugt, die stammen noch aus dem Krieg, weil einer von uns behauptet hat, daß dieses leere Wasserreservoir als Bunker genutzt wurde.
So ähnlich schaut auch das im Traum aus. Nur steht es in einer komplett anderen Landschaft: kahl, ockerfarben, fast wüstenartig, keine Häuser weit und breit. Leer, nur eine kleine Schotterstraße führte daran vorbei.
Ich schlüpfe schnell hinein, und als ich den Schacht, der der Anfang eines Fluchttunnels ist, hinuntersteigen will, öffnet ein Kleinkind  - keine Ahnung, woher das so plötzlich gekommen ist – ungefähr ein Jahr alt, es konnte sich gerade wackelig auf den Beinen halten - dauernd die Metalltür; jedesmal, wenn ich sie zugemacht hatte, macht sie der kleine Bub wieder auf und freut sich sichtlich am vermeintlichen Spiel. Diese Metalltüre konnte man nämlich nicht von innen verschließen. Ich wollte das Kind davon abbringen, denn das wußte ich: es geht um sehr viel Geld und irgendetwas an dem, was ich machte, war illegal, um nicht zu sagen kriminell. Eigentlich sollte ich nicht gesehen werden, darum versuchte ich auch das Kind davon abzuhalten, immer wieder die von mir zugezogene Tür aufzumachen. Vergeblich, es lachte und freute sich, daß ich mit ihm spiele. Weil ich die Aufmerksamkeit nicht noch mehr auf mich lenken wollte, rede ich auch den stolzen Vater nicht an, der hinter dem Buben steht und gerade dümmlich ergriffen die Intelligenz seines Kindes bewundert, ich fürchte, Stimme, Sprache, Akzent könnten mich verraten, ich glaube, ich bin ja auch im Ausland, der junge Vater soll sich an möglichst wenig von mir erinnern. Noch dazu, wo ich, gerade als ich die Tür wieder zuziehe, durch den Spalt sehe, daß auf der Straße zwei Reiter herangallopiert kommen – ich denke sofort: berittene Polizei! Ich scheiß auf die Tür und steige in den Schacht, das Kind kommt jetzt auch herein und freut sich und lacht; verdammt, es geht um viel, um sehr viel Geld …
















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 20. Juli 2016

411 Brösel

Ich huste die Brösel meiner zerbrochenen Persönlichkeit in die Umgebung hinaus. Unten kehrt jemand Scherben zusammen. Ich versuche, meine Teilchen wiederzufinden. Ist da etwas im Heulen der Entlüftung? Im Ticken des Weckers? Im Wind? Der könnte ein paar Teilchen wieder ins Zimmer hereinwehen. Fliegen welche mit dem abheulenden Flugzeug davon?

Ich bin längst kein Gefäß mit Sprung mehr, sondern ein zerbrochener Krug. Die Scherben liegen noch irgendwo herum, weil sie noch keiner weggeräumt hat. Ohne Gestalt taumelt mein loser Inhalt nur mehr hin und her, schwankt zwischen links und rechts, oben und unten, vorne und hinten, dreht sich, so herum, anders. Dehnt sich aus, teilt sich, zieht sich zusammen. Aber nicht als ein befreites leuchtendes Wesen, sondern wie etwas in Zeitlupe Ausgespucktes. Bald wird sich das Ganze verloren haben und aufgelöst sein. Das eine vom Boden aufgesaugt, das andere an einem Glasscherben verdunstend, ein weiteres hat sich in einer Lacke aufgelöst, etwas klebt noch länger an einer blühenden Wegwarte. Verteilt, und die Teile werden nichts mehr voneinander wissen, sie werden vergessen haben, daß sie zusammen waren.


(Ist es nicht so: wenn jemand nach einem Unfall oder einem Paragleiterabsturz mit gebrochener Wirbelsäule da liegt, dann kommt doch auch die Rettung und der Schwerverletzte wird weggetragen. Da sagt doch auch niemand: steh auf! Du mußt dir selber helfen! Der wird doch versorgt, und wenn es verheilt ist, dann lernt er wieder gehen, wenn das noch möglich ist, und man hilft ihm dabei.)

















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

410 Provokation

Dazu geben die Evangelien schon einiges her. Das glaube ich auch. Was ich im Laufe der Zeit gelernt habe, ist über mich zu lachen. Zeitweise.
Die Loyalitätskonflikte nicht vergessen.
Er freut sich über jemanden aus der eigenen Region.
Große Leute beim Namen nennen.
Es geht nur mehr um verstehen und empfinden.
Okay.
Okay, okay.
Plötzlich laufen Wellen von Aggression durch mich hindurch und reißen mich. Ich meine, ich zucke in Gesicht und Körper.
Jetzt bin ich müde und wach.
Was habe ich zu verlieren?
Ich hänge noch an so vielen Dingen und Ideen.
Ach! Was soll's!













©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 19. Juli 2016

409 Abschied 2 (Mutter)

Vor über drei Jahren ist meine Mutter gestorben. Wie ich ihr Sterben erlebte, davon will ich erzählen. Wer sich wundert, daß dieser Text eine so spröde Überschrift trägt – es ist mir ein ganz großes Bedürfnis, Distanz zu wahren.

Als Vorbemerkung möchte ich meine Überzeugung bekunden, daß im schlimmsten Fall die Kinder ihre Eltern so aus dem Leben hinausbegleiten, wie sie, die Eltern, ihre Kinder ins Leben hineinbegleitet haben. Also wenn die Kinder nichts „dazugelernt“ haben, nichts erlöst haben, sich nicht aus den ererbten Verstrickungen befreien konnten, dann bekommen die Eltern das, was sie gegeben haben. Also um irgendwelche Schuldgefühle von mir geht es hier nicht.


Vor kurzem habe ich das Buch „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind: Über zwei NS-Erziehungsbücher“ von Sigrid Chamberlain gelesen, in dem die Prinzipien einer solchen Erziehung analysiert und ihre Auswirkungen beschrieben werden. Meine Mutter kannte zumindest eines dieser Nazierziehungsbücher von Johanna Haarer, „die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, damals und lange noch nach dem Krieg ein Standardwerk zur Säuglingspflege und Kleinkindererziehung, ganz sicher, denn sie hatte in der Nazizeit eine  (wegen des Zusammenbruchs des dritten Reiches dann unabgeschlossene) Ausbildung zur Fürsorgerin gemacht. Bei meiner Lektüre habe ich im Buch viele Elemente ihrer Erziehung wiedererkannt.
Wenn ich meine Erziehung durch meine Mutter zusammenfassen soll, kann ich einfach drei Aussagen des Buches von Chamberlain zitieren: „Bestens versorgt, aber ungeborgen“, „Symbiose statt Beziehung“, „Erregung statt Gefühle“.

Ja, bestens versorgt war ich immer, das Essen, das meine Mutter kochte, war ausgezeichnet, und ich wurde auch kleidungsmäßig gut „ausstaffiert“, wie sie es nannte, aber ansonsten völlig allein und im Stich gelassen. Meine Mutter war auch nicht berufstätig – sie betonte immer, wegen der Kinder - aber ich vermute, sie hätte sich in der Welt da draußen gar nicht zurecht gefunden und hatte in Wirklichkeit Angst, sich der Arbeitswelt zu stellen. Daher volle Konzentration auf die Kinder, vor allem auf mich. Ich war so jedoch nicht nur mit Kleidung „ausstaffiert“, sondern auch mit ihren Erwartungen und Vorstellungen an und über mich.

Der Astrologe Wolfgang Döbereiner hat die Behauptung aufgestellt, daß die Mütter ihren Söhnen dann den Namen „Peter“ geben, wenn sie nicht den Mann heiraten konnten, den sie sich wünschten, erträumten (realistisch, unrealistisch – ganz egal), sondern einen Ersatzpartner nehmen, von dem sie denken, daß er eigentlich nicht gut genug ist für sie. Der Sohn Peter soll dann seine Mutter an den „eigentlichen“ Partner erinnern; er ist der Repräsentant des eigentlichen Geliebten der Mutter (egal, ob es den wirklich gegeben hat, oder ob der bloß in der Phantasie herbeigeholt wurde). Döbereiner bringt das mit dem Petrusamt, nämlich Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein, in Verbindung. Damit ist der Sohn schon gegen seinen Vater gestellt und zieht dessen Hass auf den unbesiegbaren, weil ungreifbaren Konkurrenten auf sich – wenn dieser Vater nicht Manns genug ist, in die Tiefen des Geschehens zu blicken und solch grausame, dann schicksalshaft erscheinende Mechanismen zu durchschauen und ins Bewußtsein zu heben.
Was immer es mit dieser Theorie auf sich hat – bei uns hat sie genau zugetroffen (und zum Beispiel auch bei Peter Rosegger, wie man dort nachlesen kann). Noch dazu lebte und arbeitete mein Vater zu der Zeit an einem anderen Ort als dem Familienwohnsitz und war nur etwa alle zwei Wochen von Samstag Abend bis Sonntag Abend „auf  Besuch“.

Ich kann mich nur an einzelne Szenen aus dieser Zeit bis Mitte meines vierten Lebensjahres erinnern, aber das war dann zwischen meiner Mutter und mir schon ein ungesunde Symbiose, noch dazu, wo sich meine Mutter – selber sehr ängstlich und unsicher in der ihr fremden, vom Vater geprägten Umgebung – an mich klammerte. Wie bei vielen von ihren Männern enttäuschten Nachkriegsmüttern sollte ich sie in der feindlichen Umgebung als Sohn und Mannersatz (oder Ersatzmann) beschützen. Das bedeutet für den Sohn auf jeden Fall heillose Überforderung. Mit der von der Mutter aufgesetzt bekommenen Königskrone (Ersatzmann, Repräsentant des eigentlichen Geliebten) am Kopf habe ich - beinah könnte man sagen - „natürlich“ sofort die Aggressionen aller älteren Buben auf mich gezogen, die sich fragten, „was ist der schon!“ und mir zeigen wollten, das sie stärker sind als ich und mir, dem falschen König, überlegen. Noch dazu, wo auch meine Mutter mich als zu schwach empfand und als Versager ihren Erwartungen gegenüber. Als ich als Säugling unter Magenstörungen litt, die bewirkten, daß ich sehr oft erbrechen mußte, und ich deshalb wenig zunahm, da hat meine Mutter, wie sie erzählte, „schon oft geweint, daß die anderen (Mütter) so feste Buben haben, ich aber nur so einen ...“ - da hat sie ihren Satz abgebrochen, weil sie merkte, was sie gerade sagen wollte. (Im Übrigen gab es dort im Umfeld noch ein anderes Baby, das an diesem Magenpförtnerkrampf litt, und es hieß ebenfalls Peter. Ich zitiere Wikipedia, Pylorusstenose: „Die Erkrankung ist bereits mit der Geburt angelegt und kommt familiär gehäuft vor (...). Die Ursachen sind bislang ungeklärt. Zu finden ist die Krankheit vor allem bei West- und Nordeuropäern mit einer Häufigkeit von 1:300, selten bei Asiaten und fast nie bei Afrikanern. Der Erkrankungsgipfel liegt bei drei Wochen nach der Geburt. Die Krankheit tritt besonders bei den erstgeborenen Jungen auf (Verhältnis Jungen : Mädchen: 4-5 : 1).“) (Also ich würde  sagen, Ursachen geklärt: Die Krankheit  tritt in den Regionen auf, wo die Mütter ihre – nennen wir es einmal ruhig so: - natürlichen Mutterinstinkte verloren haben und ihren Umgang mit dem Baby nach (mehr oder weniger) wissenschaftlichem Programm durchführen. Die Vorstellungen, wie das Kind zu sein hat, sind schon fertig und vorgegeben, es kommt nicht auf die Welt und dann wird geschaut, wer es ist, wie es sich entwickelt, was es für Bedürfnisse hat, was es will, was es braucht, sondern es ist ein meist ehrgeiziges Projekt der Eltern, besonders der Mutter, in das investiert wird; die Investitionen  müssen sich dann auch lohnen. Das Kind ist ein Projekt, kein Geschenk des Himmels. Und das will das Kind nicht schlucken. In esoterischen Gefilden kursiert die Theorie, daß sich jedes Kind seine Eltern aussucht; das fällt mir schwer anzunehmen, denn wenn ich in mich hineinhöre, ist immer noch der Impuls, diese Stimme da, die sagt: nichts wie weg von hier!)

Für meine Mutter hätte ich entsprechend ihren Vorstellungen so ein Nazi-Siegertyp sein sollen, Krankheit, Schwäche waren da nicht vorgesehen. So ein Typ war ich aber nicht. Sie lieferte mich in meiner ganzen Kindheit regelrecht diesen anderen, meist älteren Buben aus, die ihrem Ideal besser entsprachen, in der Erwartung, die werden mir schon das Schwache austreiben, durch Härte werden sie schon einen richtigen Buben aus mir machen, ich werde mich einfach wehren müssen.

Das waren grausame Spiele, die konnten mit mir machen, was sie wollten, ich konnte mich nie wehren. Im Gegenteil. Natürlich wußte ich genau, daß ich zu Hause nie erzählen durfte, was mit mir passierte („Petze“), denn meine Eltern wären beide bloß enttäuscht von mir gewesen und hätten geschimpft und mir die Schuld gegeben - „Hättest dich halt gewehrt!“ Ich war wirklich schutzlos. Es ist durchaus vorgekommen, daß ich es nicht mehr verhindern konnte, weinend nach Hause zu gehen, und mich meine Mutter gerade deswegen geschlagen hat, wirklich mit der Rute zugedroschen, manchmal mit umgedrehter Rute, also mit dem Griff ins Gesicht, damit es mehr schmerzt. Auch ihre Wut und ihren abgrundtiefen Hass in diesen Momenten in ihren Augen werde ich nie vergessen. (darüber habe ich schon in mehreren Texten hier in der Schublade geschrieben, darum gehe ich hier nicht weiter darauf ein.)

Als Kind ist man ja fürs Überleben bereit, sich selber aufzugeben und so war es klar, daß ich ihr nicht auskommen konnte. Mein Versuch, mit zehn Jahren ins katholische Knabenseminar nach Graz zu entkommen, hat sie geschickt vereitelt. (Es ist zu vermuten, daß ich dann einer anderen Mutter „anheimgefallen“ wäre, nämlich der Mutter Kirche, aber diese hat eindeutig eine größere „Bandbreite“ und sie hätte man an ihren heiligen Schriften, denen sie sich verpflichtet hat, messen können.)

Diese Symbiose war also stark und sichtbar; ich galt schon als Mutters Sohn. Das heißt aber nicht, daß unsere Beziehung liebevoll gewesen wäre, nein, emotionale oder körperliche Wärme war kaum da, auch nicht in symbiotischer Verdrehung. Ich empfand meine Mutter als eher kalt und vor allem unberührbar. Als Säugling wird sie mich schon berührt, hochgenommen und getragen haben, aber an so etwas wie Zärtlichkeit kann ich mich nicht erinnern. Auch wenn ich mein Gedächtnis durchgehe, ich kann mich nur an zwei Umarmungen von ihr erinnern. Die zweite war, als ich nach der erfolgreich abgeschlossenen Matura nach Hause kam, da hat sie mich umarmt. Mir war das aber äußerst unangenehm, ich hätte sie am liebsten weggestoßen, aber dazu war ich nicht selbstbewußt genug. Ihre Umarmung war für mich ganz befremdlich.
Die erste Umarmung, an die ich mich erinnern kann, „passierte“ noch in meinem Volksschulalter. Ich war krank und lag mit Fieber im Bett, die Mutter arbeitete in der Küche und hörte Radio. Vielleicht hat eine Sendung bei ihr etwas ausgelöst, jedenfalls kam sie mit Tränen in das Kinderzimmer gestürzt und drückte mich an sich. Ich war schockiert und fragte sie: „Mutti, muß ich denn jetzt sterben?“ Anders konnte ich mir das nämlich nicht erklären.

Es ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, daß diese kalte Symbiose so stark war. Als ich etwas älter wurde, so richtig dann in der Gymnasiumszeit, kam ich immer mehr in die Rolle als ihr Gesprächspartner, dem sie alles erzählte. Mit ihrem Mann führte sie keine solchen Gespräche. Ich wurde ihr Vertrauter und Mistkübel, in den sie all ihren Psychoschutt leerte, denn Herzausschütten war das nicht. Es blieb intellektuell – im Sinne eines von Herz und Empfinden abgeschnittenen Geistes – und „theoretisch“. Oft beklagte sie sich dabei über meinen Vater, setzte ihn herab, kritisierte ihn, jammerte ewig herum, aber ohne daß die Gespräche irgendwohin führten, sie dienten nur dem Versuch, ihre schwer gestörte Seele mit ungeeigneten Mitteln zu entlasten. Auch für diese Gespräche galt „Erregung statt Gefühle“.
Ich war dazu abgerichtet, zuzuhören, zuzustimmen, zu nicken, Verständnis auszudrücken oder vorzutäuschen. Ich selber hatte dabei schon auch die Gelegenheit, über irgendwelche Themen, z.B. politische, zu reden, aber kaum eine Chance, etwas Echtes von mir zu erzählen, und wenn doch, dann wurde es später, bei passender Gelegenheit, gegen mich gerichtet, lächerlich gemacht, weiter erzählt, bestenfalls gleich als Anlaß für einen weiteren ihrer langen Monologe genommen, der zeigen sollte, wie schwer sie es hatte. Dafür galt ich bei ihr jetzt als „ernsthaft“, als jemand, mit dem man so gut reden konnte. Das hinderte sie aber keineswegs daran, in meiner Anwesenheit fremden Leuten zu erzählen, wie unsportlich und unmännlich ich mich entwickle („aus dem wird nie ein richtiger Mann!“).
Diese eigenartige Vertrautheit im abgehobenen Gespräch – die stellten nämlich schon so etwas wie eine Verbindung zur Mutter her – gerieten immer wieder - schon allein durch mein widerspruchsloses Zuhören oder auch mein Zustimmen - zur Komplizenschaft gegen meinen Vater. Der hatte mich sowieso schon der Mutter überlassen und stellte nur gelegentlich in seinen Wutausbrüchen seine Vorherrschaft wieder her und machte so seine Überlegenheit klar.

Trotz all dem wollte sie mit mir angeben, besonders der väterlichen Verwandtschaft gegenüber, die sie als minderwertig ansah, mit mir als dem ersten Gymnasiasten in der Familie. Und sie hatte sich wirklich darum gekümmert, daß ich aufs Gymnasium kam, mit Unterstützung einer jungen Lehrerin („der Bub gehört sicher aufs Gymnasium“. Danke, Frau Bina!), denn der Volksschuldirektor wollte es ihr ausreden, weil der keine „Unterschichtkinder“ aufs Gymnasium schicken wollte und meine Mutter hatte schon nachgegeben.
Ich, oder ihr Projektionsbild von mir, wurde von ihr hochgehoben und hochgejubelt, fast ein Kult getrieben, solange es ging, ich wurde eindeutig und massiv gegenüber meinen Schwestern bevorzugt, was jedoch auch eher ein zweifelhaftes Vergnügen war, denn zu erfüllen waren alle diese Erwartungen, allein schon in ihrer Widersprüchlichkeit, nicht. Ich war also brav, gehorsam, hatte mich meinen Eltern gegenüber total zurückgenommen, nahm wegen ihrer großen Empfindlichkeit und Labilität - die Mutter ständig ängstlich, besorgt, nervös, hysterisch und am Limit, der Vater jähzornig – bis zur Selbstverleugnung auf sie Rücksicht. Ich war lebensuntüchtig, gehemmt, ich konnte schwer Nein-Sagen, tat mich schwer mit dem Grüßen (von mir aus die Menschen ansprechen). Noch heute kann ich kaum jemandem mit seinem Namen anreden.

Das alles, auch die Symbiose mit meiner Mutter, konnte ich als Erwachsener trotz vieler Therapien kaum abschütteln. Es half mir nichts, daß ich als junger Erwachsener nur alle zwei Jahre für ein paar Tage bei den Eltern vorbeischaute, war ich in ihrem Bereich, griffen die alten Mechanismen noch immer.

Als meine Eltern schon alt waren, noch bevor sie sich zu einer Vierundzwanzigstunden-Betreuung durchringen konnten, war ich einmal dort, um meine demente Mutter zu betreuen, weil mein Vater, der sich bis dahin um sie gekümmert hatte, wegen eines Tumors eine Woche ins Spital mußte. Ich kam an, begrüßte die Mutter, wollte die Stiegen zur oberen Wohnung, die ich mit meiner Familie oft als Ferienwohnung benutzt hatte, hinaufeilen, als mich meine Mutter fragte, wieso ich denn hinaufginge. Ich schaute sie erstaunt an und sagte „um mein Gepäck abzulegen und mein Bett herzurichten.“ Sie erwiderte, daß es doch nicht nötig sei, ein Bett frisch zu überziehen, ich könne doch bei ihr im Ehebett, im Bett vom Vater schlafen. Ich glaubte, ich höre nicht recht. Und dennoch: es war mir nur mit großer Anstrengung, unter Zittern am ganzen Körper möglich, ein „Spinnst du!“ herauszupressen. Ich zitterte tatsächlich ein paar Minuten, bevor ich darüber lachen konnte.

In ihren letzten Monaten wurden meine Eltern von rumänischen Pflegerinnen vierundzwanzig Stunden betreut, unterstützt von einem Palliativteam, anders war es nicht mehr möglich. Sie hatten wirklich Glück damit, denn diese Betreuung war ausgezeichnet. Meine demente Mutter fiel zeitweise in ihren Naziwahn zurück und beschimpfte ihre Pflegerin und behandelte sie schlecht. Eine Nachbarin, die sich mit der Pflegerin angefreundet hatte, wurde Zeugin einer solchen Szene und war völlig erstaunt, wie die nette Frau Rumpf so ausfallend werden konnte.
Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Vaters war offensichtlich, daß es auch mit meiner Mutter zu Ende ging. Da meine Schwestern beim Vater dabei waren, baten sie mich (Mutter-Sohn) jetzt bei ihr dabei zu sein. Ich nahm mir ein paar Tage Urlaub und wohnte im Sterbezimmer mit meiner sterbenden Mutter. (Die Wohnung im oberen Stock war für die Pflegerin reserviert.) Es war wie beim Vater das Wohnzimmer, ihr Sterbebett stand an der gleichen Stelle unter dem von mir gemalten Bild. Ich selber schlief auf der Couch.

Als ich hinkam, konnte meine Mutter nicht mehr sprechen, und als sie mich sah, machte sie eine Geste wie um nach mir zu greifen, in ihren Augen Angst. Ich ließ es nicht zu, daß sie mich festhielt; ich nahm ihre Hände, aber um sie auf Distanz zu halten. Ich fürchtete tatsächlich, sie wolle in ihren letzten Tagen noch etwas auf mich abladen, im Sterben noch eine Schuld auf mich abwälzen, mir irgendeinen Auftrag unterjubeln. Und ich empfand, daß ihr Griff nach mir die Aufforderung war, sie da raus zu holen, sie vor dem Tod zu retten. Ich dachte mir, was glaubt sie, wer ich bin, daß sie erwartet, ich könne sie vorm Tod retten! (Ihre Hände einfach so zu halten und zu streicheln war mir erst möglich, als sie selber zu schwach war um nach mir zu greifen.)
Ich wartete etwas, dann begann ich auf sie einzureden. Ich sagte ihr, sie solle sich vorm Tod nicht fürchten, sie brauche nur bereit sein, ihr Leben anzuschauen. Sicher, sie werde auch unangenehme Sachen anschauen müssen, auch das, was sie alles getan hat, aber sie solle sich nicht sorgen, Jesus habe schon alle ihre Schulden bezahlt. Das zu sagen ist mir eingefallen, weil gerade Karfreitag war. Heute hat Jesus alle deine Schulden bezahlt, deswegen brauchst du dir keine Gedanken mehr machen, sagte ich.

Ich wunderte mich selber darüber, was ich da redete, denn ich war zu dem Zeitpunkt längst wieder von Kirche und Christentum abgerückt, und die Vorstellung, daß Jesus für meine Sünden gestorben ist, war mir eine unsympathische, unangenehme Vorstellung. Ich will schon selber für meine Sachen einstehen und habe ihn nicht gebeten, für mich zu sterben, und außerdem, wer weiß, was da noch hintennach an Forderungen kommt, sozusagen aus dem Kleingedruckten.

Ich wunderte mich also, daß ich so etwas sagen konnte, aber fuhr in diesem Sinn fort: „Du mußt dich schon darauf einstellen, deinen abgetriebenen Kindern zu begegnen, aber fürchte dich nicht, deine Schuld ist schon bezahlt und deine Kinder lieben dich.“ Ich erzählte ihr, wie mir vor Jahrzehnten im Traum mein abgetriebenes Kind erschienen ist und mich mit schmerzlichen, aber liebenden Augen angeschaut hat und wie mich diese tiefe Liebe erschüttert hat. Dann sagte ich, die Herausforderung wird nicht sein, daß dich deine abgetriebenen Kinder hassen oder bestrafen werden, sondern die Herausforderung wird sein, daß sie dich lieben. Sie werden dich lieben und du wirst dich dieser Liebe so unwürdig fühlen, daß du es kaum aushältst. Aber gerade da, denke an Jesus, laß dich von ihm da durchführen, und auch wenn du dich ganz unwürdig vorkommst, nimm diese Liebe an! Nimm sie an! Weil deine Schulden schon bezahlt sind, kannst du dort hingeführt werden, wo es nichts Böses mehr gibt. Jenseits von all dem. Und dir wird auch gezeigt werden, wie du geworden bist, warum du so geworden bist und weshalb du nicht anders konntest. Dir wird auch gezeigt werden, was mit dir alles geschehen ist, was dir alles angetan wurde, und du wirst dein Leben verstehen können. Laß dich von Jesus dort hinführen, du brauchst nichts tun, du brauchst alles nur anschauen und du wirst alles verstehen.

Ich war selber erstaunt, was da für Worte aus mir kamen, ich wußte nicht, daß das in mir ist. Ich wußte auch nicht, ob und was meine Mutter noch verstand, glaubte aber trotzdem, das Richtige gesagt zu haben. Die Vorstellung gefiel mir, daß man im Tod an den Ort jenseits von gut und böse geführt werden kann, weil nichts mehr da ist, was einem angelastet werden müßte, und es nur mehr um Bewußtwerdung geht. Eine gewisse Genugtuung war es, gerade ihr gegenüber von Jesus zu reden, die das alles immer so abgelehnt hatte und meiner kindlichen Gläubigkeit damals gelinde gesagt sehr skeptisch und abwertend gegenübergestanden ist.

In diesen paar Tagen mit meiner sterbenden Mutter in selben Zimmer lebend tauchte doch so eine vage Erinnerung an ein Gefühl einer selbstverständlichen Verbundenheit auf, begleitet noch von kaum fassbaren, traumartigen Szenen aus unserer Admonter Zeit. Ich blieb jedoch eher distanziert, registrierte ihr langsames Absterben, die Veränderungen in ihrer Atmung, ich machte, was für mich neben der Pflegerin und dem Palliativteam zu tun war – ihre Lippen mit Wasser benetzen zum Beispiel – saß lange bei ihr, jetzt hielt ich auch unbefangen ihre Hände, schreckte nachts aus dem Schlaf auf, wenn ihre Atmung aussetzte. Meine Gedanken und Gefühle kreisen hauptsächlich um diese Admonter Zeit, ich war auch ein wenig aufgewühlt, aber doch sehr gefaßt und distanziert.

Am Ostermontag fuhr ich wieder zurück nach Wien, denn am nächsten Tag mußte ich wieder zur Arbeit. Ich nahm Abschied von meiner Mutter, ich wußte, jetzt endgültig, und als ich noch im Zug saß, kam der Anruf, daß sie soeben gestorben ist. Ich hatte gerade über den MP3-Player Musik von Johnny Cash gehört, dessen Lieder ich in meiner Kindheit durch meine Mutter kennengelernt hatte.

Beim Begräbnis weinte ich ein paar Tränen. Man darf aber nicht vergessen, daß man nicht nur um den Menschen weint, sondern oft darüber, daß die Beziehung zu diesem Menschen jetzt unwiederbringlich vorbei ist, auch, oder gerade, wenn ihr Potential nie voll entfaltet wurde.


Nach dem Begräbnis habe ich das von mir gemalte Bild, unter dem meine beiden Eltern gestorben sind, mitgenommen und in unserer Wohnung aufgehängt. Und nach einigen Tagen spürte ich die Anwesenheit meiner Mutter ganz deutlich an dieser Stelle, so, daß mir ein Schauder über den Rücken lief, und dann noch in einem anderen Raum. Ich war mir ganz sicher, daß das der Geist meiner Mutter war, aber ich fürchtete mich überhaupt nicht, war nur wachsam und aufmerksam und dachte mir, „soll sie ruhig noch ein paar Runden drehen, bevor sie in andere Dimensionen verschwindet.“
Ich war nicht sensitiv genug, um zu spüren, was sie mir, uns noch sagen wollte, ob es eher ein Zögern war, weiterzugehen, oder etwas anderes. So etwas wie sich verabschieden wird es wohl gewesen sein.

















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 18. Juli 2016

408 Wie schlage ich mich bis zur anderen Seite des Universums durch?

Wie schlage ich mich bis zur anderen Seite des Universums durch? So schlecht ausgerüstet, wie ich bin. Sozusagen per Auto-Stopp. Mein Last-Kraft-Wagen hat Schiffbruch erlitten. (Hat der jemals funktioniert?) Im Morast hängen geblieben. Ich will weg von hier. Naja, sagen wir einmal, ich denke von mir, daß ich weg will.
Ich bin in einem schlechten Traum gefangen. Wo ist die Exittaste? Als Kind wußte ich noch, wie ich aus einem Albtraum rauskomme (obwohl ich dann oft nur im nächsten aufgewacht bin).
Die Karte sagt: der fallende Turm. Der Blitz schlägt ein und der Turm stürzt. Die Wucht des Einschlags schleudert die Menschen aus dem Turm. Wer in dieser Bewegung mitspringt, kann überleben.
Also gut, du willst weg von hier, aber bist du auch bereit, dein behagliches Gefängnis des Selbstmitleids und der Alltagswelt aufzugeben? Dann stehst du im Freien, ungeschützt, und das Abenteuer geht los. Es wird nur auf dich und deine Kraft ankommen, ob du überlebst oder nicht. Aus eigener Kraft als Wanderer durchs Universum pilgern. Na!? Wie schaut's aus?















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 16. Juli 2016

407 Abschied 1 (Vater)

Vor gut dreieinhalb Jahren ist mein Vater gestorben. Wie ich sein Sterben erlebte, davon will ich erzählen. Wer sich wundert, daß dieser Text eine so spröde Überschrift trägt – es ist mir ein ganz großes Bedürfnis, Distanz zu wahren.

Als Vorbemerkung möchte ich meine Überzeugung bekunden, daß im schlimmsten Fall die Kinder ihre Eltern so aus dem Leben hinausbegleiten, wie sie, die Eltern, ihre Kinder ins Leben hineinbegleitet haben. Also wenn die Kinder nichts „dazugelernt“ haben, nichts erlöst haben, sich nicht aus den ererbten Verstrickungen befreien konnten, dann bekommen die Eltern das, was sie gegeben haben. Also um irgendwelche Schuldgefühle von mir geht es hier nicht.

Mein Verhältnis zu meinem Vater war von Kindheit an angespannt; ich habe ihn gefürchtet, und wenn ich ehrlich bin, gefürchtet bis zum Schluß. Ich habe ihn nie vom Thron gestürzt, und wenn er doch im Fallen war, habe ich ihn wieder hinaufgehoben; als Kind brauchte ich ihn als Schutz vor der Mutter. Ich erlebte ihn oft als unduldsam, jähzornig und manchmal gewalttätig. Die Wut und den Hass dann in seinen Augen werde ich nie vergessen. Er konnte jedoch auch jovial, nachgiebig und in gewisser Weise kinderfreundlich sein. So hat er – in seiner Generation in unseren Breiten komplett unüblich – gerne den Kinderwagen geschoben und sich dafür nie geniert. Er hat uns Kindern oft Märchen erzählt, dabei saßen wir bei ihm, auf seinem Schoß, und lehnten uns an ihn. Er war wärmer, zugänglicher, körperlich präsenter als die kalte, unberührbare Mutter. Trotzdem konnte ich schon als Kind an ihm rücksichtslose, in seiner Kinder“liebe“ grenzüberschreitende, manchmal fast sadistische Züge wahrnehmen.

Im Krieg war er bei der Waffen-SS und ich war für ihn bald ein Versager, dem er seine Verachtung auch offen angesagt und gezeigt hat. Er verlor als Neunzehnjähriger bei einer Schlacht in Finnland seinen linken Arm und glaubte vor allem mir ständig beweisen zu müssen, daß er mit einem Arm besser ist, als ich mit meinen zwei linken Händen.
Wie gesagt, ich hatte dauernd Angst vor ihm und seinen Wutausbrüchen, und die seltenen Momente, wo ich mit ihm anscheinend „normal“ reden konnte und mich ein wenig öffnen, trieben mir noch als Erwachsenen die Tränen in die Augen, so in dem Sinn: er bringt mich doch nicht um, er duldet mich. Das waren aber keine echten, gleichwürdigen Gespräche, denn ich habe mich dabei total zurückgenommen - um nicht zu sagen – unterworfen.

Im hohen Alter hatte mein Vater Krebs und meine Mutter wurde zunehmend verwirrt und dement. Lange hat der Tumor, der sehr langsam wuchs, meinen Vater nicht gestört und er hat sich aufopfernd und unbedankt um seine Frau gekümmert, die jedoch ihm gegenüber immer feindseliger wurde, vermutlich auch durch die schweren Medikamente, die sie einnehmen mußte, verstärkt. Sie hat ihrem Mann ständig unterstellt, es ständig mit anderen Frauen zu treiben. Sie konnte da zum Beispiel eine Szene schildern, wie eine jüngere Frau meinem Vater in einem Lokal unterm Tisch „einen runtergeholt“ hatte und bezeugen, daß sie das alles selber gesehen hätte, und ohne Zweifel, sie glaubte ihren Wahnvorstellungen wirklich und merkte nicht, daß das in erster Linie ihre Projektionen waren. Daß mein Vater solche Abenteuer gerne erlebt hätte, kann ich mir schon gut vorstellen (meine eigene Projektion?), aber was sich da meine Mutter ausdachte, fand in dieser Realität nicht statt. Man könnte lediglich sagen – wenn meine Vermutung über meinen Vater stimmt - daß sie in ihren Wahnvorstellungen etwas von den zurückgestauten Sehnsüchten ihres Mannes, die sie spürte, ausdrückte, aber es bleibt, daß das ihre Phantasie war.
Mein Vater litt sehr unter den Vorwürfen und Unterstellungen meiner Mutter, die nicht immer nur verbal blieben, sondern auch zu körperlichen Attacken auf ihn ausarten konnten. (Mein Vater hat meine Mutter meines Wissens nie geschlagen.) Er war deswegen oft verzweifelt, manchmal bis zum Weinen, weil sie rationaler Argumentation und auch hieb- und stichfesten Beweisen für die Unmöglichkeit und Irrealität ihrer Wahnvorstellungen nicht mehr zugänglich war. In seiner Hilflosigkeit (oder muß ich auch sagen, in seinem Unverständnis?) wollte er sich einmal die Falschheit der an gerichteten Vorwürfe von einem Notar bestätigen lassen, damit er es ihr und den anderen schwarz auf weiß beweisen kann. Er hat sich dann schon bemüht, diese Vorwürfe nicht persönlich zu nehmen, sondern als Ausdruck ihrer Krankheit zu verstehen, aber leicht war das sicher nicht, noch dazu, wo die Mutter ihre Wahngeschichten als wahre Geschichten im Ort herumerzählt hat.

Trotzdem hat mein Vater für seine Frau den Haushalt gemacht, alles besorgt (was er selber noch erledigen konnte, sonst sprangen meine Schwestern ein), eingekauft, hinter ihr die Herdplatte wieder abgedreht, aufgehoben, was ihr zu Boden gefallen war und so weiter, wiederum etwas, was meine Mutter total verleugnet hat und wofür er von ihr kein Wort des Dankes erhielt.

Lange waren beide Eltern nicht einsichtig, daß sie Unterstützung benötigen und es nicht mehr alleine schaffen und daß auch die ständigen und häufigen Hilfen ihrer Töchter nicht mehr ausreichen. Das anzuerkennen viel ihnen ganz schwer. Als jedoch mein Vater zur Behandlung ins Spital mußte und klar war, daß es jetzt mit dem Krebs ernst wird, war unübersehbar, daß es so nicht mehr weitergehen konnte. Es waren meine Schwestern – vor allem eine von den beiden – die die Eltern endlich dazu brachten, eine Vierundzwanzigstunden-Betreuung zu akzeptieren. Die beiden Pflegerinnen aus Rumänien – vor allem eine von ihnen, die die meiste Zeit unsere Eltern betreut hat – machten ihre schwere Arbeit gewissenhaft und sehr gut; unsere Eltern hatte es sehr gut getroffen.

Schon ein paar Monate vorher waren meine Eltern nicht mehr in der Lage, den Garten ihres Hauses zu pflegen, aber da gab es in der Umgebung eine organisierte Nachbarschaftshilfe, von der regelmäßig ein junger Mann kam, um ihren Rasen zu mähen. Dieser junge Mann hat meinem Vater vorgeschlagen, beim Rasenmähen doch einige ungemähte Inseln stehen zu lassen, damit die Blumen ausblühen können. Aber – und das ist ganz typisch für meinen Vater – das konnte er nicht zulassen. Da ist er noch – solange er konnte – hinter dem Helfer hergegangen um zu kontrollieren, ob der eh alles abmäht. (Ich kann mich auch erinnern, daß er einmal in einem Wald gesagt hat: wie schaut denn der aus, der gehört aufgeräumt!). Erst als mein Vater das Haus und dann das Bett nicht mehr verlassen konnte, verfuhr der junge Mann – nach Rücksprache mit meinen Schwestern - beim Rasenmähen so, wie er es vorgeschlagen hatte und ich kann bestätigen, daß diese Wiese mit den kleinen, blühenden Inseln ein wunderschöner, herzerfrischender Anblick war.
Dabei hat mein Vater durchaus ein wenig das Image eines Naturburschen gepflegt, aber eher auf diese erobernde, blinde, vereinnahmende Nazi-Art – ich sage es einmal so; denn von da kommt das ja her, das war ja seine Sozialisation in seiner Jugend, das war der Hintergrund, nach dem er orientiert war – fragwürdiger Hüttenzauber, anlassige Spielchen, schnell ins Mobbing kippende Scherze und auch ein Anklang an aufdringlichen Höhenluftgrößenwahn. (Ich weiß, ich bin jetzt verbittert und ungerecht; natürlich war er nicht nur so, aber das war schon das Hintergrundrauschen seines Lebens, das da immer mehr oder weniger in sein Denken, Urteilen, Handeln und Leben abgestrahlt  hat.)

Mein Vater war ein durchaus kommunikativer Mensch, ist den Leuten zugegangen und sie ihm. Im Ort war er bekannt und beliebt. Als offensichtlich wurde, daß er nur mehr einige Wochen zu leben haben würde, kamen viele auf Besuch. Vor allem natürlich seine Verwandten. Sein Krankenbett, richtiger gesagt sein Sterbebett stand nicht im beengten Schlafzimmer, sondern im Wohnzimmer, unter einem von mir gemalten Bild, das ich meinen Eltern vor Jahren geschenkt hatte. Dieses Wohnzimmer war an manchen Tagen voll von Besuchern. Auch ich war öfters dort. Das hatte etwas Schönes, wie seine Geschwister mit ihren Familien, manche von weit angereist, um ihn noch lebend zu sehen, seine Kinder, seine Enkelkinder, alle mit ihren Partnern respektive Partnerinnen, mit den Urenkeln, um sein Bett versammelt waren und sich von ihm verabschiedeten. Es war offensichtlich, daß er sich sehr freute.

Gegen Ende lag er fast nur mehr in seinem Bett, konnte kaum noch aufstehen, und dieses Bett hatte auch Gitter, die man runterschieben oder hochziehen konnte, damit er nicht aus dem Bett fallen kann. Es gab auch eine Klingel, mit der er die Pflegerin herbeirufen konnte, wenn sie in ihrem Zimmer war und er Hilfe brauchte. Einmal, als er noch glaubte, das Gitter nicht hochschieben zu müssen, war er in der Nacht aus dem Bett gefallen, konnte nicht mehr aufstehen, vom Boden aus auch nicht mehr die Pflegerin rufen und lag bis zum Morgen am Fußboden. Er hatte die Pflegerin vorher vom Bett aus noch gerufen, sie war aber nicht gekommen. Wir waren davon irritiert, als wir davon hörten, weil wir diese Pflegerin als sehr gewissenhaft und verlässlich erlebt haben; sie erzählte aber, er hätte sie in dieser Nacht schon mehrmals herbeigerufen, um nach der Uhrzeit zu fragen, deshalb habe sie nicht mehr reagiert. Erst nach seinem Tod kam heraus, daß mein Vater in dieser Nacht öfters nach der Pflegerin geläutet hatte um sie dann anzubetteln, daß sie ihm erlaube, sie „anzuschauen, nur anzuschauen“. Alles klar? Seit diesem Zwischenfall waren nachts die Gitter oben und einmal bat er mich, nachdem er sich hingelegt hatte, die Gitter hinaufzuziehen. Ich tat so, aber war mir nicht im Klaren, ob sie in der oberen Position schon eingerastet waren und schaute genauer hin, um den Mechanismus zu verstehen, als er sagte: „das hast du falsch gemacht!“

Da ist in mir eindeutig etwas abgerissen und ich habe mich endgültig von ihm zurückgezogen. Ich trug ja in mir immer noch den Wunsch nach einer letzten Aussprache, wo wir uns voreinander wenigstens ein wenig öffnen können, wo so etwas wie, wie, … wie nenne ich das? … wie Versöhnung stattfinden kann, ansatzweise eine echte Begegnung. Wenn ich es ganz offen ausspreche – es war der Wusch nach so etwas wie, wie ... einen väterlichen Segen; daß er einmal in seinem Leben etwas sagt wie „es ist gut, daß du da bist“, oder „es war nicht leicht zwischen uns, ich wünsche dir aber alles Gute auf deinem Lebensweg“, irgendetwas in der Art. Jetzt, angesichts des Todes wenigstens. Nein, nichts. Ich hatte übrigens zu seinem siebzigsten Geburtstag von meiner Seite her sehr wohl genau das versucht, indem ich eine Rede gehalten hatte, wo ich meine „voreiligen“, in Wirklichkeit ohnehin sehr schaumgebremsten, von Verständnis triefenden Verurteilungen (Nazizeit) „kritisch“ in Frage gestellt habe, wo ich ihm meine Hand entgegen gestreckt habe. Die Rede ist bei ihm und den Zuhörern gut angekommen; die Hand hat er sozusagen ergriffen, aber nur, um sich hochzuziehen; von ihm ist nie irgendetwas Ähnliches gekommen, zum Beispiel, „ich habe dich in meinem Zorn oft ungerecht geschlagen (ich weiß, es gibt keine gerechten Schläge, aber das, wofür er mich offiziell geschlagen hat, habe ich gar nicht getan), das tut mir leid, ich wußte mir nicht anders zu helfen“, oder „ich habe es damals nicht besser gewußt“. Oder etwas Ähnliches. Nein, nichts. Gar nichts. Einfach gar nichts. Nichts. Nichts. Nichts. Oder irgendeine Anerkennung für irgendwas. Fehlanzeige, nichts. Nein. Ich hatte gehofft, daß die Nähe des Todes in ihm etwas öffnen könnte, ein Bedürfnis, sein Leben, seine Beziehungen in Ordnung zu bringen. Nein, nichts.
Daraufhin habe ich mit ihm abgeschlossen und bin nicht mehr an sein Sterbebett gekommen. Welches Schimpfwort mir damals eingefallen ist, weiß ich nichts mehr so genau, aber ungefähr „du kannst mich mal, du grober, unsensibler Klotz! Ist das alles, was du angesichts deines Todes zusammenbringst?“

Bei seinem Begräbnis waren sehr viele Leute, der Kameradschaftsbund hat geböllert, ein Stahlhelm am Sarg, aber das war mir schon völlig egal. Dort gehörte er ja dazu. Ich bin da nur so eine bestenfalls geduldete Randfigur.


Ich habe selber zwei Kinder und wenn sie einmal ihre Geschichten aufschreiben oder erzählen, ich vermute, diese werden nicht wesentlich anders ausschauen, als meine eigene, denn ich ahne, daß ich viel von dem an meine Kinder weitergegeben habe, was ich durch meine Eltern erlitten habe, wenn auch meistens in anderer Verkleidung. Ich wünsche ihnen sehr, daß sie ein Stück weiter kommen als ich, ein gutes Stück weiter, und daß sie hier auf Erden glücklich sein können.

Und wie es mir bei meinem eigenen Tod gehen wird, kann ich auch nicht wissen. Wir werden ja sehen.


















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 15. Juli 2016

406 Das Gleiche

Wie soll ich denn das alles noch beschreiben, mir fallen keine neuen Worte und Bilder mehr ein. Es ist immer das Gleiche; horche, fühle ich im mich hinein, ist diese Schwere da, etwas Würgendes im Hals, etwas Ziehendes ums Herz, dieses innerliche Gebunden- und Gefesseltsein, dieses Wollen und nicht Können, diese Resignation, diese Verzweiflung, diese Hoffnungslosigkeit.
Nicht, daß das wichtig ist, aber das ist da, wenn ich nach innen schaue. Ich beschreibe nur, was da ist.

Die zwei Visionäre glurren mich wieder lächelnd an, aber die sind außen. Außen. Außen. Außen. Die Ruhe vor dem Sturm?

Was höre ich da draußen? Ferne Stimmen? Lache die? Singen die? Es ist zu weit weg, als daß ich das feststellen kann. Kommen die von der Straße? Oder aus einem Fenster? Echt oder aus einem Fernseher? Ich kann es nicht mehr überprüfen, weil eine Entlüftung losgeht und alles überdröhnt. Egal, es kann ja auch eine Sinnestäuschung gewesen sein, es hat so unglaubwürdig geklungen. Jedenfalls war mein Geist für kurze Zeit abgelenkt vom inneren Schmerzreservoir. Ich liege noch ruhig und ratlos da. Es ist zwischen ein und zwei Uhr nachts.

Ich wundere mich jetzt schon, daß ich morgen wieder aufstehen werde. Jetzt rettet mich die Müdigkeit.



(Liebe Leserin! Lieber Leser! Wenn dir die ständigen Wiederholungen meiner Schmerz-, Angst- und Verzweiflungsbeschreibungen schon auf die Nerven gehen, dann bedenke: du mußt das nicht lesen. Du kannst es jederzeit wegklicken. Ich schreibe diesen Text in den Computer, während unten im Hof ständig und wiederholt eine Kettensäge aufheult; oder ein ähnliches Gerät. Überlege einmal, wie nervend dieses Geräusch ist. Und das ist wirklich ein aufdringliches Aufheulen. Dahinter muß sich der Schmerz des zivilisierten Teils der Menschheit verbergen, des Teils, der nicht willens oder nicht in der  Lage ist, sich seiner inneren Ängste, Schmerzen, Verzweiflung zu stellen. In diesem depperten Gerät heult die ganze verdrängende Menschheit auf, zumindest die der industrialisierten Länder, der Menschen, die ihr Inneres nicht anschauen können oder wollen und es deswegen nach außen projizieren. Da heult ihre gequälte Natur, aber weil verdrängt, muß diese Qual an Natur und Umwelt weitergegeben werden, muß alles in den Höfen, Gärten, Parks weggeschnitten werden, was  ihren kalten, simplen, erstorbenen Vorstellungen nicht entspricht. Und nicht etwa in mühsamer, demütiger, in die bearbeitete Natur wahrnehmender und spürender Handarbeit, nein, sondern motor- und lärmgestützt, vom Energieraub hochgeputscht, vollgepumpt mit der Benzindroge, oder dem Elektro-Kokain, zack! zack! weg damit! Weg mit dem störenden Geäst! In einer Art Panik, die eindeutig aus großen inneren Ängsten kommt. Und weil sie die nicht wahrhaben wollen, muß die ganze Umgebung beschnitten werden. Darum muß so fanatisch rasengemäht und unkrautgespritzt werden. Weil die eigene gequälte, beschnittene, zurecht gestutzte Seele nicht ausgehalten wird. Nein, nein, der ganze Wahnsinn da draußen kann erst nachlassen, wenn die Menschen bereit sind, nach innen zu schauen.)










©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com


Donnerstag, 14. Juli 2016

405 Sturmböen

Kann ich bei diesem Wetter das Fenster offen lassen? Mitternacht ist vorbei. Draußen kommen immer wieder Sturmböen auf. Aber jetzt ist es ruhig. Ich versuche es.

Mein Schreiben hat nur mehr wenig mit literarischen Ambitionen zu tun. Ich will nur nicht stillschweigend untergehen. Ich will zumindest versucht haben, mein Inneres nach außen zu bringen. Zu diesem Versuch gehört auch, daß es wahrgenommen werden kann. Ich will auch das Wahrgenommenwerden versucht haben. Vielleicht kann irgendwer irgendwann irgendetwas damit anfangen. Auch ich selber habe gar nicht bemerkt, was da alles in mir ist. Ich glaube nicht, daß ich das in erster Linie aus Angst vor dem Inhalt nicht gesehen habe, sondern aus Angst vor den und aus Angst um die Autoritäten, die mir verboten haben, das alles zu sehen, eingeschüchtert und zum Komplizen gemacht seit frühester Kindheit. Aufgewachsen in schweren Lebenslügen. Jetzt erst beginnt sich der Nebel zu lichten. Durch Lesen, aber auch durch meine Schreiberei.
Da erschrecke ich manchmal, ein wenig wie der Reiter vom Bodensee, und wundere mich, daß ich nicht schon längst eingebrochen bin.
Aber habe ich jetzt bereits – endlich! - festen Boden unter den Füßen? Oder bin ich noch auf dem Eis und der nächste Föhnsturm bringt den Untergang? Ein wenig schwimmen wäre vielleicht auch noch möglich, wenn es nicht zu kalt ist und nicht zu lange dauert.

Immer, wenn ich mein Leben spüre, ist es vor allem Trauer und Schmerz. Das macht nichts! Wenn dafür nur genug Raum da ist.

Ein kurzer, heftiger Windstoß hat im Lichtschacht krachend etwas umgeworfen oder zugeschlagen. Ich schrecke aus dem Schlaf auf und weiß noch aus dem Traum, daß mir drüben mein Pyjama noch nicht angemessen ist.














©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 13. Juli 2016

404 Spröde Titel

Wer wundert sich über die spröden Titel? Kaschiere nicht deine Sprachlosigkeit mit sprachlichen und wortspielerischen Tricks. Der Mund steht dir offen und du lallst hilflos; auch schriftlich. Deine Täteranteile zu sehen fällt dir schwer, im Gegensatz zu Generalselbstbezichtigungen, die dir leicht fallen, weil sie sich in ihrer Verallgemeinerung und Übertreibung unglaubwürdig machen. Niemand nimmt sie dir ab. Was für ein wahnsinniges Erbe! Ja, ja, klingt gut, aber ist bloß Verleugnung und Beschwichtigung. Wie wäre es mit Still-Sein und das Unfassbare ohne Faxen aushalten? Draußen gehen irgendwelche Schritte – auch wenn du blöde Bilder verwendest, das hilft dir nichts; du versuchst vergeblich, dich sensibler hinzustellen, als du bist. (Du weißt schon, der Unterschied zwischen empfindsam und empfindlich.) Sicher, das Rauschen des Flugzeuges hat etwas elegisches, das dir vertraut ist, wo du dich im sich entfernenden Geräusch mit wegträumst. Tagträumst. So geht nichts weiter. (Muß es das?) Staubsaugergeräusche; unangenehm. Man möchte aggressiv werden und frauenfeindlich. (Ha, ha, werden ist gut!) Du kommst dir nicht aus; du kannst noch so herumhüpfen. Auch wenn du dich darüber amüsierst, daß du im Bett liegend vom Herumhüpfen sprichst – das hilft dir alles nichts. Was hilft mir dann? Das weiß ich nicht. Wie wäre es mit Wahrheit. (Und sag jetzt nicht: „Was ist Wahrheit!?“!)















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

403 Normalität

Ich empfinde mich in meinem beruflichen und zum Teil auch im privateren Leben von viel Lärm umgeben, so daß ich froh bin, wenn es still ist. Selten drehe ich Radio oder Musik auf, sondern genieße die Ruhe, wenn sie sich ergibt. Trotzdem, in letzter Zeit schalte ich immer öfter das Mittagsjournal ein. Anscheinend suche ich dabei Normalität. Obwohl es absurd ist, die dort zu suchen, wo eine Wahnsinnsmeldung nach der anderen kommt. Sei es, daß von Wahnsinnstaten berichtet wird, sei es, weil wir daneben noch immer in wahnwitziger Verdrängung unsere Pensionsanspruchsnormalität aufrecht erhalten wollen. Aber offensichtlich suche auch ich zur Zeit dort diese „Normalität“. Alles ist so, wie es immer ist; alles läuft weiter wie bisher. Ich will auch „normal“ sein, selbstverständlich, nicht dauernd fragwürdig sein und mich in Frage stellen, sondern in Pension gehen. Obwohl nach so einer Nachrichtensendung immer ein schaler Nachgeschmack zurückbleibt (Eigentlich bei fast allen Sendungen), dem auch eine untergründige Übelkeit anhaftet. Ich fürchte, ich spüre genau, daß dieser Normalität das Potential zum totalen Wahnsinn innewohnt. Mein Gott! Wohin?













©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 12. Juli 2016

402 Die Sauftour

Heute Nacht träumte mir, ich wäre mit Freunden auf Sauftour unterwegs. Es müssen Freunde aus anderen Welten gewesen sein, denn jetzt weiß ich nicht, wer sie waren; ich kenne sie nicht. Im Traum jedoch waren es Freunde, und als ich feststellte, daß ich irgendwo meine Jacke vergessen hatte – meine Jacke mit all dem wichtigen Zeugs wie Ausweise, Karten, Schlüssel, Geld, Diamanten (Scherz!) - sind sie mit mir die Tour zurückgegangen, weil ich alleine dazu nicht mehr fähig gewesen wäre, bis wir sie in einem Lokal gefunden haben.
Genaugenommen kann ich mich gar nicht erinnern, irgendetwas getrunken zu haben, aber im Traum kommen Gewißheiten offensichtlich anders zustande. Jedenfalls wußte ich trotzdem, es war eine Sauftour. Die Stadt jedoch, durch die wir zogen, ist mir unbekannt. Oder war es überhaupt eine Stadt? Vom Aussehen her schon.


Vom Anhören her ist das da draußen jetzt Regen, der angenehm plätschert und hoffentlich die Hitze bricht. Ich habe bei offenem Fenster geschlafen und genieße das schöne, beruhigende, vielversprechende Geräusch des Wassers. Das Geheul einer Klimaanlage oder eines Dunstabzuges im Lichtschacht übertönt den zarten Regen. Egal! Die Erde wird trotzdem naß. Jetzt kommt noch ein zweites solches Gerät dazu. Rücksichtslos ist das schon! Ich halte mich zurück, um mich nicht zu ärgern, aber schade um die schöne, herzerfrischende Morgenstimmung ist es doch.
Immer das Übertönen des Zarten, Heilenden durch Lärm und heulende technologische Wichtigtuerei, dieses Aufgetrumpfe angeblicher Vernunft, dem man schwer etwas entgegensetzen kann, weil es ja so g'scheit und praktisch daherkommt, auch dann, wenn es zurückhaltender auftritt, weil es sowieso kaum Widerstand befürchten muß. Klimaanlage – wie praktisch! Wie bequem! Schau – zack! Problem gelöst. Hitze, Kälte – alles kein Problem.
Wie liebe ich es, auf der Alm einzuheizen, auch wenn es oft mühsam ist und bei entsprechendem Wetter der Rauchfang schlecht zieht und die Hütte verraucht ist. Es kann sehr kalt sein am Morgen, daß man noch schlottert, bis es allmählich warm wird in der Hütte, wenn dann das Feuer endlich brennt und knistert.

Jetzt höre ich wieder den Regen, der stärker wird. Sanft massiert er meine verspannte Seele und ich schlafe vor lauter Ruhe und Genuß beinahe wieder ein.

Der Regen hat wieder aufgehört und eine leere Stille bleibt zurück, in der sich das Ticken des Weckers in den Vordergrund schiebt.

Der Regen setzt nach fünf Minuten neuerlich ein und gleich entsteht wieder diese besondere Stimmung. Ich strecke meine Füße aus und schließe die Augen. Ich lausche und sauge mit der Nase den Duft der frischen feuchten Luft ein.












©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

401 Küchenuhr

Heute (vorgestern) habe ich zum erstenmal seit achtzehn Jahren bewußt wahrgenommen, daß unsere Küchenuhr laut tickt. Ich war allein in der Wohnung, es war ganz still und ich habe Kartoffel geschält. Und da habe ich das Ticken bemerkt. Ich finde, unsere Uhr tickt schön. Es war schon öfters still in unserer Wohnung, vermutlich jedoch hielt ich mich da nur in der Küche auf, um irgendwelche Tätigkeiten auszuführen, die selber Lärm oder auch nur Geräusche machten: Wasser aufdrehen, am Herd das Gas anzünden, Geschirr raus und rein räumen, Packungen aufreißen, schneiden, hacken, kochen, braten …
Ganz kann ich es nicht ausschließen, daß ich dieses Ticken schon einmal wahrgenommen habe, aber wieder vergessen. Trotzdem, heute war es, als hörte ich es zum ersten Mal. (Erdäpfelschälen macht keinen Lärm) und es hat irgendetwas in mir angeschlagen. Was, das ist für mich nicht faßbar. Vielleicht hat es mit den Uhren im Haus meiner Lieblingstante zu tun. Vielleicht.













©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 9. Juli 2016

400 Ein wahrlich magischer Anblick

Heute Nacht (6.7.) hat mir im Traum eine wilde, junge Frau – von Aussehen, Kleidung, Bewegungen und Auftreten her zwischen Akrobatin und Zauberin – am Ende einer sicher und konzentriert ausgeführten Bewegungsübung, die mich an magical passes erinnert hat, ihre übergroße, fleischliche Vagina gezeigt, umkränzt  von überdimensionalen, „herr“lichen, prächtigen Schamlippen (warum eigentlich Scham-Lippen?). Ein wirklich magischer Anblick. Nicht, daß ich im Ernst gedacht habe, daß sie mich meint. Ich vermutete eher, sie will mich provozieren, damit ich mich in meiner Reaktion lächerlich mache. Also blieb ich vorsichtig und zurückhaltend, genaugenommen ohne Reaktion. Nur hingeschaut habe ich.
Zuerst überrascht, dann eher verstohlen hingeschaut, kurz. Und dann, noch erschrocken, verunsichert, ein bißchen fragend, ganz vorsichtig ein wenig hoffend, habe ich ihr ins Gesicht geblickt. In ihre lachenden, wie mir schien spöttischen, freudestrahlenden, lebensvollen, energiegeladenen, vom Schalk blitzenden, von Lebenslust überquellenden, aber be“herr“schten Augen. Mich bewegen oder handeln konnte ich nicht. Auch nach Herzenslust ihre Vagina anschauen konnte ich nicht; das habe ich mich nicht getraut. Das steht mir doch gar nicht zu, mir, mit meiner inneren Leere.




Anima?! Warst du das? Oder sonst ein Wesen aus anderen Welten, für mich oder von mir in eine für meinen beschränkten Horizont anschauliche Gestalt gekleidet? Eine Zauberin? Die Welt? Die Geliebte Erde? Das Leben? Mein Potential?

















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

399 Bald wird die Sonne aufgehen

Bald wird die Sonne aufgehen. Das Leuchten der Berge rückt immer näher zu den Almwiesen herunter. Mit der zuversichtlichen Botschaft aus den Weiten des Universums vergangene Nacht verspricht das ein guter Tag zu werden. Aufstehen noch in der kalten Morgendämmerung, den Herd einheizen, Tee und Haferbrei kochen – das Obst waschen und in Stücke schneiden, zum Brei geben, umrühren, noch weiterköcheln lassen. Fröhliche Stille, in der alle Tätigkeit, alle Abläufe selbstverständlich von der Hand gehen.

Die Gedanken treiben sich nun herum und malen sich Geschichten vom Gelingen aus. Irgendetwas in mir will mißtrauisch werden. Ich registriere das, aber lasse mir den Frieden nicht stören. Wenn es wieder schief geht, dann ist es dafür immer noch früh genug.

Die Hütte ist inzwischen schon warm, das brennende Holz knackt im Herd. Der Wald und die Wiese dort drüben am steilen, westlichen Berghang leuchten bereits, bald wird das Sonnenlicht hier sein, höchstens zehn Minuten. (Verschätzt, es hat zwanzig Minuten gedauert.) Die zum Trocknen über dem Herd aufgehängten Geschirrtücher schaukeln in der aufsteigenden Wärme; es ist Zeit, Holz nachzulegen. Ich zählte um sechs Uhr früh sechs Kondenzstreifen am Himmel.

Die Gedanken … ich interessiere mich nicht für E-Bikes, nicht für das Neueste am IT-Markt, auch kaum für die neuesten Serien, mein Politgerede dient mehr der Tarnung. Ich bin immer noch bei den Grundlagen. Mit Grundlagenforschung bin ich beschäftigt – wie kann man/darf man/muß man existieren? Wie ist die Existenz begründbar? Wie kann sie gerechtfertigt werden? Wer oder was stellt sie in Frage? Wie fühlt sich das an? Was ist der Mensch wirklich? Wieso … das scheint meine Arbeit zu sein. Sonst habe ich nichts zu tun.

Es ist Nachmittag. Die Gedanken … warum soll ich mein kleines, befristetes Hüttenreich aufgeben? Meinen bescheidenen, vorübergehenden Hausstand auflösen? Ich bin doch froh, daß ich dieses kleine Wirkungsfeld knapp eine Woche genießen kann. Ich ordne mir die Welt, sortiere das Geschirr ungefähr nach Verschmutzung, bevor ich es abwasche, richte alles dafür her, bereite alles vor, mache Platz zum Abtropfen frei, das Wasser am Herd ist heiß, ich wasche ab, lege das Geschirr auf, trockne ab, zum Schluß hänge ich die nassen Geschirrtücher über den Herd. Dann sitze ich in der Hütte und gehe nicht hinaus.

Es ist späterer Nachmittag. Die Tische sind umgestellt. Küchentisch zur Essecke. So! So ist es richtig. Das weiß ich. Ich schaue an diesem Küchentisch sitzend zur Hüttentür hinaus. Plötzlich ist der Wald so plastisch, die Bäume sind einzelne Figuren, die mich anstarren, klar unterscheidbar, aber dennoch eine dicht stehende Masse. „Der Kaiser schickt Soldaten aus ...“ Immer, wenn ich hinschaue, bewegen sie sich nicht, aber sie scheinen bloß – wie es dem Spiel entspricht – kurz in ihren Bewegungen innegehalten zu haben, kurz erstarrt, und warten darauf, daß ich wieder wegschaue, um ein paar Zentimeter, oder nur Millimeter näher zu rücken. Noch fürchte ich mich nicht vor euch. Vielleicht fürchte ich mich überhaupt nicht vor euch. Gar nicht. Wir werden es sehen.

Am Berghang ganz hinten im Osten kommen unzählige Bäume herunter, sie rücken nach, in losen Gruppen, vereinzelt, in dichten Blocks und Konglomeraten, manchmal aber fast in Reih und Glied. Eine riesige Zeitlupenwelle.
Ich habe Zeit. Die Tür steht offen. Da! Der Baum dort, in der zweiten Reihe, schreitet wirklich aus! Der Zaun wird sie nicht aufhalten.













©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

398 Endlich!

Unglaublich, wie ein schöner Traum die innere Stimmung verändern kann. Ich bin aufgewacht in seelischer Balance, glücklich, zuversichtlich, meiner Sache gewiß. Endlich!













©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

397 Meine kleine Nazizeit

Ich schaue auf grüne Berge, Wiesen und Wälder hinaus, sonnenbeschienen und wolkenbeschattet, durch die offene Tür der kleinen Hütte.
Zwei Bäche rauschen.
Das Rauschen dieser zwei Bäche vereinigt sich mit dem Surren in meinen Ohren. Vorhin, als ich hinausgeschaut habe, war der Himmelsausschnitt, den ich vom Inneren der Hütte aus sehen konnte, von weißen Wolken bedeckt, jetzt, beim neuerlich durch die Tür geworfenen Blick, nachdem ich die paar Zeilen notiert hatte, ist dieser Himmelsausschnitt zur Hälfte blau. Aber die vorher leuchtenden Matten der Berghänge sind jetzt dunkel und stumpf.
Nun kommen die Rufe der spielenden Kinder dazu; und die Wolken haben bis auf ein paar blaue Reste wieder meinen gesamten Ausschnitt des Himmels erobert.

In meiner Seele ist es schwer, daran ändern die den Berghang heruntertanzenden Lärchen – die schlanken Stämme kahl, die Wipfel hellgrün, licht, und aus der Ferne zart - nur wenig, wie ein feines Ballett sind sie, nachdem sie sich in extremer Zeitlupe bewegen, kein unangebrachtes Herumgehopse. (Oder flüchten sie vor der dicht anrückenden Masse der dunklen Fichten nach oben? … Nein, dafür wirken sie zu leicht. Mein Mißtrauen meldet sich ständig.)

Ich bin froh, daß ich da draußen solche Leichtigkeit sehe, oder finde, oder vermute, oder erhoffe. Wenigstens draußen. Ja, es tut mir gut, diese Zartheit zu sehen, ich, mit meiner kleinen Nazizeit in meiner Seele, nach dem Krieg noch eingebrannt in die Kindheit. Schwer ist das. Sehr schwer. Wüste Verwirrung. Horche ich in mich hinein, ist das da: Leere, Nichts, Panik, Angst, Angst, Angst, Atemstillstand, Würgen, aufgerissene Augen, Brechreiz, Schutzlosigkeit … . Hausnummer 88.
Ich seufze tief und blicke wieder zu den zarten Lärchen hinaus und seufze wieder und lasse ein wenig los.

Jetzt werde ich gerufen, darf helfen; meine Hilfe kommt mir ganz gering und ganz spröd vor. Dann rede ich mit den Menschen. Da bin ich so aufgeregt, auf Augenhöhe zu reden steht mir nicht zu. Ich muß es trotzdem tun, oder so tun als ob. Ich bin ganz außer mir. Außer mir, den ich gar nicht kenne. Kein sicheres Basislager. Nach fünf Minuten dieser Anspannung – getarnt als vernünftige Ernsthaftigkeit – bin ich erschöpft. Mein sowieso schon ausweichender Blick verliert sich in der Ferne. Ich habe Angst und will flüchten. Ich höre nicht gut, verstehe schlecht, verliere den Faden; alles ist vom Alarm eingekreist. Bitte behandelt mich nicht gleichwertig, das halte ich nicht aus. Diese Fassade aufrecht zu erhalten geht über meine Kraft. Ich kann beim gemeinsamen Fundus/Essen/Einkaufen/Agieren … nicht mithalten, ich bin wirtschaftlich, finanziell, sozial, was die Lebenstüchtigkeit betrifft nicht potent genug. Ich kann eure Einladungen nicht erwidern, denn ich habe kein Haus, kein Revier, kein Reich, kein Vermögen, kein Ich.

Ich gehe weg. Gehe in die Hütte zurück, zu meinem Notizbuch. Das wird mich retten.

Ich lege Holz nach. Das Herdfeuer brennt auf. Drei junge Kälber tollen auf der Wiese herum. Die Abenddämmerung kehrt allmählich ins Hochtal ein. (Kann ich solchen Bildern trauen?) Ich trete vor die Hütte und schaue mich um. (In der Hütte stinkt es nach angebrannter Milch, weil ich beim Schreiben auf den Topf Milch vergessen habe, den ich auf den Herd gestellt hatte.) Daran kann mich jetzt niemand hindern, auch meine inneren Gespenster nicht.

Jetzt weiß ich, was der Alarm sagt: Das ist eine Situation, wo das Ich (ein Mann, der Souverän, der freie Bürger, ein freier Mensch, jemand) Rede und Antwort steht. Aber bei dir, da ist kein freier Mensch, da ist keiner, da ist nichts, da ist niemand. Wie willst du dann die Situation bestehen? Sie werden es merken, daß da nichts ist und dann ist es aus.


Ich gehe wieder hinaus vor die Hütte und schaue mich auf der Alm um. Meine Hände habe ich auf der Balustrade aufgestützt, und diese Geste, diese Haltung verleitet mich zu phantasieren, ich wäre jemand, ich besitze dieses Land und lasse meinen Blick über meine Wiesen und Weiden schweifen, über meine Kühe und Kälber, meine Wälder. Ich habe das alles von meinen Vorfahren übernommen und habe es gepflegt und gestaltet und pflege und gestalte es weiter. Ich habe mich und mein Anwesen behaupten können, habe es zum Blühen gebracht, habe mein Werk gut getan. Bald werde ich es an meine Kinder weitergeben. Meinem stolzen und zufriedenem Blick ist ein wenig Wehmut beigemischt, ein leichter Abschiedsschmerz, aber kein bösartiger. Ich habe ja meinen Kindern aus meiner Fülle diese Fülle des Lebens weitergegeben und mein Erbe wird in guten Händen sein. Ich werde mich zurückziehen und mich an ihrem Aufblühen erfreuen. Ich werde meine Augen an dieser schönen Welt weiden und wenn ich sterbe, werde ich sie alle segnen.

In den Abend hinein bricht jetzt durch die Wolken noch ein später Sonnenfleck durch und läßt eine kleine Stelle an diesem Berghang da oben aufleuchten.
















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 1. Juli 2016

396 Prüfung nicht bestanden

Im Traum habe ich irgendwelche Aufgaben nicht erfüllt, irgendwelche Tests, Prüfungen nicht bestanden. Angefangen hat es mehr wie ein Spiel, ähnlich einer Schnitzeljagd, aber bald war es ernst und purer Stress. Niemand hat mir die Spielregeln, die Aufgaben und Aufgabenstellung mitgeteilt und erklärt. Kein „es geht darum, daß du dies und das ...“. Eine Prüfung, ohne zu wissen, was, wie, wo etc. geprüft wird. Niemand da, der einem Auskunft geben könnte, auch niemand solcher telephonisch oder sonstwie zu erreichen. Mir dämmert, die Prüfung findet die ganze Zeit schon statt, das alles gehört schon dazu. Ich soll mit anderen zusammenarbeiten; Verwandte, wie es scheint, eine Schwester soll auch dabei sein. Wir treffen uns in einem komischen Café, aber meine Schwester ist das nicht, auch sonst sind mir alle eher fremd. Oder? Schlußendlich versuche ich vergeblich, meine Schwester oder sonst jemanden vom Café aus zu erreichen; es funktioniert weder telephonisch noch sonst irgendwie. Zunächst schien es ja so, als wäre das ein wichtiger Treffpunkt, und es käme jemand, der uns über die Aufgabe aufklären kann. Oder eigentlich mich, den die anderen am Tisch sind scheinanwesend, unansprechbar, verschwommen, gar nicht recht wahrnehmbar. Niemand ist gekommen. Niemand war erreichbar. Plötzlich merke ich, alle sind weg. Sie sind ganz allmählich verschwunden, aber ich habe es plötzlich bemerkt. Ich denke, jetzt in Panik, ich muß auch schnell weg. Ich weiß aber nicht, warum. Da habe ich wieder etwas wichtiges nicht mitbekommen. Weder warum die weg sind, noch wohin. Als wäre sie gewarnt worden und ich nicht. Oder ich habe nicht kapiert, was allen anderen klar ist. Irgendwo hinter einer Glasfront des Lokals irrt eine alte, gespenstische, schwarze, zombiehafte Gestalt im Nachthemd herum, von der ich weiß, daß das meine Mutter ist. Aber auch sie ist nicht in der Lage irgendetwas verständliches zu sagen oder mitzuteilen. Ich springe auf und stoße mit einer ungeschickten Bewegung unabsichtlich einen Karton mit Himbeeren um, den eine Frau, die vorher am Tisch gesessen ist, zurückgelassen hat. Überhaupt haben die alles liegen gelassen. Der halbe Inhalt des Kartons hat sich auf meinen Sessel und den Boden verstreut. Ich weiß, ich muß schnell weg, will das jedoch noch in Ordnung bringen. Ich suche eine Mistschaufel und einen Bartwisch, aber finde nichts. Es ist auch vom Personal des Lokals plötzlich niemand mehr da. Niemand, den ich fragen könnte, oder dem ich – ich habe es ja eilig – wenigstens sagen könnte, daß mir das passiert ist und daß es mir leid tut.


















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

395 Der Traumkugelschreiber schreibt nicht

Das Surren geht mir so intensiv durch den Kopf, daß der zu wackeln und vibrieren beginnt. Kann aber sein, es ist das noch die Traumwahrnehmung. Die Alltagswahrnehmung stürzt sich auf die Sorgen der nächsten Tage, die dafür bereit liegen. Ein bisher fremder und unbekannter Laut aus der Außenwelt mischt sich dazu und hört dann wieder auf.
Ein angenehmes Kribbeln läuft mir vom Nacken herauf über die Schädeldecke.

Ich will auf der falschen, nämlich der Traumseite im Text etwas durchstreichen, jedoch der Traumkugelschreiber schreibt nicht.

Im Haus am Fluß ist ein Kastl verschwunden; während ich am Klo war? Darin waren alle meine Unterhosen. Ich versuche, bei den Vermietern zu reklamieren, aber ich finde sie nicht, nicht einmal ihre Büros, nicht ihre Namen.

Jetzt geh ich einen langen, nackten, kahlen, betonierten unterirdischen Gang entlang. An einer einzigen Stelle wächst ein kleines Grasbüschel.

Wieder erwische ich das Traumnotizbuch, als ich das bisher Geschriebene lesen und überprüfen will.
















©Peter Alois Rumpf    Juni 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

394 Ich lege das Notizbuch weg

In der Morgendämmerung, bei den ersten Rufen der Amseln aufgewacht, begleitet vom Brennen in meiner Lunge und die Stille empfindlich störenden Hustenanfällen. Dann jedoch still, ganz still. Die optimistische, Bilder des einfachen Lebens heraufbeschwörende Morgenstunde – mit der Sonne aufstehen, sein Tagewerk verrichten, mit der Sonne rechtschaffen müde schlafen gehen.

Ein neuerlicher Hustenanfall macht mich allerdings wieder mürbe und müd und erinnert mich daran, daß ich am Rückzug bin und nicht in den Aufbruchsjahren. Die Augen wollen mir wieder zufallen.

Mauersegler und Tauben mischen sich nun in das wieder aufgenommene, entferntere Singen der Amseln.

Ich lege das Notizbuch weg um wieder zu schlafen.















©Peter Alois Rumpf    Juni 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com