409 Abschied 2 (Mutter)
Vor über drei Jahren ist meine Mutter gestorben. Wie ich ihr
Sterben erlebte, davon will ich erzählen. Wer sich wundert, daß dieser Text
eine so spröde Überschrift trägt – es ist mir ein ganz großes Bedürfnis,
Distanz zu wahren.
Als Vorbemerkung möchte ich meine Überzeugung bekunden, daß
im schlimmsten Fall die Kinder ihre Eltern so aus dem Leben hinausbegleiten,
wie sie, die Eltern, ihre Kinder ins Leben hineinbegleitet haben. Also wenn die
Kinder nichts „dazugelernt“ haben, nichts erlöst haben, sich nicht aus den
ererbten Verstrickungen befreien konnten, dann bekommen die Eltern das, was sie
gegeben haben. Also um irgendwelche Schuldgefühle von mir geht es hier nicht.
Vor kurzem habe ich das Buch „Adolf Hitler, die deutsche
Mutter und ihr erstes Kind: Über zwei NS-Erziehungsbücher“ von Sigrid
Chamberlain gelesen, in dem die Prinzipien einer solchen Erziehung analysiert
und ihre Auswirkungen beschrieben werden. Meine Mutter kannte zumindest eines
dieser Nazierziehungsbücher von Johanna Haarer, „die deutsche Mutter und ihr
erstes Kind“, damals und lange noch nach dem Krieg ein Standardwerk zur
Säuglingspflege und Kleinkindererziehung, ganz sicher, denn sie hatte in der
Nazizeit eine (wegen des Zusammenbruchs
des dritten Reiches dann unabgeschlossene) Ausbildung zur Fürsorgerin gemacht.
Bei meiner Lektüre habe ich im Buch viele Elemente ihrer Erziehung
wiedererkannt.
Wenn ich meine Erziehung durch meine Mutter zusammenfassen
soll, kann ich einfach drei Aussagen des Buches von Chamberlain zitieren:
„Bestens versorgt, aber ungeborgen“, „Symbiose statt Beziehung“, „Erregung
statt Gefühle“.
Ja, bestens versorgt war ich immer, das Essen, das meine
Mutter kochte, war ausgezeichnet, und ich wurde auch kleidungsmäßig gut
„ausstaffiert“, wie sie es nannte, aber ansonsten völlig allein und im Stich
gelassen. Meine Mutter war auch nicht berufstätig – sie betonte immer, wegen
der Kinder - aber ich vermute, sie hätte sich in der Welt da draußen gar nicht
zurecht gefunden und hatte in Wirklichkeit Angst, sich der Arbeitswelt zu
stellen. Daher volle Konzentration auf die Kinder, vor allem auf mich. Ich war
so jedoch nicht nur mit Kleidung „ausstaffiert“, sondern auch mit ihren
Erwartungen und Vorstellungen an und über mich.
Der Astrologe Wolfgang Döbereiner hat die Behauptung
aufgestellt, daß die Mütter ihren Söhnen dann den Namen „Peter“ geben, wenn sie
nicht den Mann heiraten konnten, den sie sich wünschten, erträumten
(realistisch, unrealistisch – ganz egal), sondern einen Ersatzpartner nehmen,
von dem sie denken, daß er eigentlich nicht gut genug ist für sie. Der Sohn
Peter soll dann seine Mutter an den „eigentlichen“ Partner erinnern; er ist der
Repräsentant des eigentlichen Geliebten der Mutter (egal, ob es den wirklich
gegeben hat, oder ob der bloß in der Phantasie herbeigeholt wurde). Döbereiner
bringt das mit dem Petrusamt, nämlich Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein,
in Verbindung. Damit ist der Sohn schon gegen seinen Vater gestellt und zieht
dessen Hass auf den unbesiegbaren, weil ungreifbaren Konkurrenten auf sich –
wenn dieser Vater nicht Manns genug ist, in die Tiefen des Geschehens zu
blicken und solch grausame, dann schicksalshaft erscheinende Mechanismen zu
durchschauen und ins Bewußtsein zu heben.
Was immer es mit dieser Theorie auf sich hat – bei uns hat
sie genau zugetroffen (und zum Beispiel auch bei Peter Rosegger, wie man dort
nachlesen kann). Noch dazu lebte und arbeitete mein Vater zu der Zeit an einem
anderen Ort als dem Familienwohnsitz und war nur etwa alle zwei Wochen von
Samstag Abend bis Sonntag Abend „auf
Besuch“.
Ich kann mich nur an einzelne Szenen aus dieser Zeit bis
Mitte meines vierten Lebensjahres erinnern, aber das war dann zwischen meiner
Mutter und mir schon ein ungesunde Symbiose, noch dazu, wo sich meine Mutter –
selber sehr ängstlich und unsicher in der ihr fremden, vom Vater geprägten
Umgebung – an mich klammerte. Wie bei vielen von ihren Männern enttäuschten
Nachkriegsmüttern sollte ich sie in der feindlichen Umgebung als Sohn und
Mannersatz (oder Ersatzmann) beschützen. Das bedeutet für den Sohn auf jeden
Fall heillose Überforderung. Mit der von der Mutter aufgesetzt bekommenen
Königskrone (Ersatzmann, Repräsentant des eigentlichen Geliebten) am Kopf habe
ich - beinah könnte man sagen - „natürlich“ sofort die Aggressionen aller
älteren Buben auf mich gezogen, die sich fragten, „was ist der schon!“ und mir
zeigen wollten, das sie stärker sind als ich und mir, dem falschen König,
überlegen. Noch dazu, wo auch meine Mutter mich als zu schwach empfand und als
Versager ihren Erwartungen gegenüber. Als ich als Säugling unter Magenstörungen
litt, die bewirkten, daß ich sehr oft erbrechen mußte, und ich deshalb wenig
zunahm, da hat meine Mutter, wie sie erzählte, „schon oft geweint, daß die
anderen (Mütter) so feste Buben haben, ich aber nur so einen ...“ - da hat sie
ihren Satz abgebrochen, weil sie merkte, was sie gerade sagen wollte. (Im
Übrigen gab es dort im Umfeld noch ein anderes Baby, das an diesem
Magenpförtnerkrampf litt, und es hieß ebenfalls Peter. Ich zitiere Wikipedia,
Pylorusstenose: „Die Erkrankung ist bereits mit der Geburt angelegt und kommt
familiär gehäuft vor (...). Die Ursachen sind bislang ungeklärt. Zu finden ist
die Krankheit vor allem bei West- und Nordeuropäern mit einer Häufigkeit von
1:300, selten bei Asiaten und fast nie bei Afrikanern. Der Erkrankungsgipfel
liegt bei drei Wochen nach der Geburt. Die Krankheit tritt besonders bei den
erstgeborenen Jungen auf (Verhältnis Jungen : Mädchen: 4-5 : 1).“) (Also
ich würde sagen, Ursachen geklärt: Die Krankheit tritt in den Regionen auf, wo die Mütter ihre
– nennen wir es einmal ruhig so: - natürlichen Mutterinstinkte verloren haben
und ihren Umgang mit dem Baby nach (mehr oder weniger) wissenschaftlichem
Programm durchführen. Die Vorstellungen, wie das Kind zu sein hat, sind schon
fertig und vorgegeben, es kommt nicht auf die Welt und dann wird geschaut, wer
es ist, wie es sich entwickelt, was es für Bedürfnisse hat, was es will, was es
braucht, sondern es ist ein meist ehrgeiziges Projekt der Eltern, besonders der
Mutter, in das investiert wird; die Investitionen müssen sich dann auch lohnen. Das Kind ist
ein Projekt, kein Geschenk des Himmels. Und das will das Kind nicht schlucken.
In esoterischen Gefilden kursiert die Theorie, daß sich jedes Kind seine Eltern
aussucht; das fällt mir schwer anzunehmen, denn wenn ich in mich hineinhöre,
ist immer noch der Impuls, diese Stimme da, die sagt: nichts wie weg von hier!)
Für meine Mutter hätte ich entsprechend ihren Vorstellungen
so ein Nazi-Siegertyp sein sollen, Krankheit, Schwäche waren da nicht
vorgesehen. So ein Typ war ich aber nicht. Sie lieferte mich in meiner ganzen
Kindheit regelrecht diesen anderen, meist älteren Buben aus, die ihrem Ideal
besser entsprachen, in der Erwartung, die werden mir schon das Schwache
austreiben, durch Härte werden sie schon einen richtigen Buben aus mir machen,
ich werde mich einfach wehren müssen.
Das waren grausame Spiele, die konnten mit mir machen, was
sie wollten, ich konnte mich nie wehren. Im Gegenteil. Natürlich wußte ich
genau, daß ich zu Hause nie erzählen durfte, was mit mir passierte („Petze“),
denn meine Eltern wären beide bloß enttäuscht von mir gewesen und hätten geschimpft
und mir die Schuld gegeben - „Hättest dich halt gewehrt!“ Ich war wirklich
schutzlos. Es ist durchaus vorgekommen, daß ich es nicht mehr verhindern
konnte, weinend nach Hause zu gehen, und mich meine Mutter gerade deswegen
geschlagen hat, wirklich mit der Rute zugedroschen, manchmal mit umgedrehter
Rute, also mit dem Griff ins Gesicht, damit es mehr schmerzt. Auch ihre Wut und
ihren abgrundtiefen Hass in diesen Momenten in ihren Augen werde ich nie
vergessen. (darüber habe ich schon in mehreren Texten hier in der Schublade
geschrieben, darum gehe ich hier nicht weiter darauf ein.)
Als Kind ist man ja fürs Überleben bereit, sich selber
aufzugeben und so war es klar, daß ich ihr nicht auskommen konnte. Mein
Versuch, mit zehn Jahren ins katholische Knabenseminar nach Graz zu entkommen,
hat sie geschickt vereitelt. (Es ist zu vermuten, daß ich dann einer anderen
Mutter „anheimgefallen“ wäre, nämlich der Mutter Kirche, aber diese hat
eindeutig eine größere „Bandbreite“ und sie hätte man an ihren heiligen
Schriften, denen sie sich verpflichtet hat, messen können.)
Diese Symbiose war also stark und sichtbar; ich galt schon
als Mutters Sohn. Das heißt aber nicht, daß unsere Beziehung liebevoll gewesen
wäre, nein, emotionale oder körperliche Wärme war kaum da, auch nicht in
symbiotischer Verdrehung. Ich empfand meine Mutter als eher kalt und vor allem
unberührbar. Als Säugling wird sie mich schon berührt, hochgenommen und
getragen haben, aber an so etwas wie Zärtlichkeit kann ich mich nicht erinnern.
Auch wenn ich mein Gedächtnis durchgehe, ich kann mich nur an zwei Umarmungen
von ihr erinnern. Die zweite war, als ich nach der erfolgreich abgeschlossenen
Matura nach Hause kam, da hat sie mich umarmt. Mir war das aber äußerst
unangenehm, ich hätte sie am liebsten weggestoßen, aber dazu war ich nicht
selbstbewußt genug. Ihre Umarmung war für mich ganz befremdlich.
Die erste Umarmung, an die ich mich erinnern kann,
„passierte“ noch in meinem Volksschulalter. Ich war krank und lag mit Fieber im
Bett, die Mutter arbeitete in der Küche und hörte Radio. Vielleicht hat eine
Sendung bei ihr etwas ausgelöst, jedenfalls kam sie mit Tränen in das
Kinderzimmer gestürzt und drückte mich an sich. Ich war schockiert und fragte
sie: „Mutti, muß ich denn jetzt sterben?“ Anders konnte ich mir das nämlich
nicht erklären.
Es ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, daß diese
kalte Symbiose so stark war. Als ich etwas älter wurde, so richtig dann in der
Gymnasiumszeit, kam ich immer mehr in die Rolle als ihr Gesprächspartner, dem
sie alles erzählte. Mit ihrem Mann führte sie keine solchen Gespräche. Ich
wurde ihr Vertrauter und Mistkübel, in den sie all ihren Psychoschutt leerte,
denn Herzausschütten war das nicht. Es blieb intellektuell – im Sinne eines von
Herz und Empfinden abgeschnittenen Geistes – und „theoretisch“. Oft beklagte
sie sich dabei über meinen Vater, setzte ihn herab, kritisierte ihn, jammerte
ewig herum, aber ohne daß die Gespräche irgendwohin führten, sie dienten nur
dem Versuch, ihre schwer gestörte Seele mit ungeeigneten Mitteln zu entlasten.
Auch für diese Gespräche galt „Erregung statt Gefühle“.
Ich war dazu abgerichtet, zuzuhören, zuzustimmen, zu nicken,
Verständnis auszudrücken oder vorzutäuschen. Ich selber hatte dabei schon auch
die Gelegenheit, über irgendwelche Themen, z.B. politische, zu reden, aber kaum
eine Chance, etwas Echtes von mir zu erzählen, und wenn doch, dann wurde es
später, bei passender Gelegenheit, gegen mich gerichtet, lächerlich gemacht,
weiter erzählt, bestenfalls gleich als Anlaß für einen weiteren ihrer langen
Monologe genommen, der zeigen sollte, wie schwer sie es hatte. Dafür galt ich
bei ihr jetzt als „ernsthaft“, als jemand, mit dem man so gut reden konnte. Das
hinderte sie aber keineswegs daran, in meiner Anwesenheit fremden Leuten zu
erzählen, wie unsportlich und unmännlich ich mich entwickle („aus dem wird nie
ein richtiger Mann!“).
Diese eigenartige Vertrautheit im abgehobenen Gespräch – die
stellten nämlich schon so etwas wie eine Verbindung zur Mutter her – gerieten
immer wieder - schon allein durch mein widerspruchsloses Zuhören oder auch mein
Zustimmen - zur Komplizenschaft gegen meinen Vater. Der hatte mich sowieso
schon der Mutter überlassen und stellte nur gelegentlich in seinen
Wutausbrüchen seine Vorherrschaft wieder her und machte so seine Überlegenheit
klar.
Trotz all dem wollte sie mit mir angeben, besonders der
väterlichen Verwandtschaft gegenüber, die sie als minderwertig ansah, mit mir
als dem ersten Gymnasiasten in der Familie. Und sie hatte sich wirklich darum gekümmert,
daß ich aufs Gymnasium kam, mit Unterstützung einer jungen Lehrerin („der Bub
gehört sicher aufs Gymnasium“. Danke, Frau Bina!), denn der Volksschuldirektor
wollte es ihr ausreden, weil der keine „Unterschichtkinder“ aufs Gymnasium
schicken wollte und meine Mutter hatte schon nachgegeben.
Ich, oder ihr Projektionsbild von mir, wurde von ihr
hochgehoben und hochgejubelt, fast ein Kult getrieben, solange es ging, ich
wurde eindeutig und massiv gegenüber meinen Schwestern bevorzugt, was jedoch
auch eher ein zweifelhaftes Vergnügen war, denn zu erfüllen waren alle diese
Erwartungen, allein schon in ihrer Widersprüchlichkeit, nicht. Ich war also
brav, gehorsam, hatte mich meinen Eltern gegenüber total zurückgenommen, nahm
wegen ihrer großen Empfindlichkeit und Labilität - die Mutter ständig
ängstlich, besorgt, nervös, hysterisch und am Limit, der Vater jähzornig – bis
zur Selbstverleugnung auf sie Rücksicht. Ich war lebensuntüchtig, gehemmt, ich
konnte schwer Nein-Sagen, tat mich schwer mit dem Grüßen (von mir aus
die Menschen ansprechen). Noch heute kann ich kaum jemandem mit seinem Namen
anreden.
Das alles, auch die Symbiose mit meiner Mutter, konnte ich
als Erwachsener trotz vieler Therapien kaum abschütteln. Es half mir nichts,
daß ich als junger Erwachsener nur alle zwei Jahre für ein paar Tage bei den
Eltern vorbeischaute, war ich in ihrem Bereich, griffen die alten Mechanismen
noch immer.
Als meine Eltern schon alt waren, noch bevor sie sich zu
einer Vierundzwanzigstunden-Betreuung durchringen konnten, war ich einmal dort,
um meine demente Mutter zu betreuen, weil mein Vater, der sich bis dahin um sie
gekümmert hatte, wegen eines Tumors eine Woche ins Spital mußte. Ich kam an,
begrüßte die Mutter, wollte die Stiegen zur oberen Wohnung, die ich mit meiner
Familie oft als Ferienwohnung benutzt hatte, hinaufeilen, als mich meine Mutter
fragte, wieso ich denn hinaufginge. Ich schaute sie erstaunt an und sagte „um
mein Gepäck abzulegen und mein Bett herzurichten.“ Sie erwiderte, daß es doch
nicht nötig sei, ein Bett frisch zu überziehen, ich könne doch bei ihr im
Ehebett, im Bett vom Vater schlafen. Ich glaubte, ich höre nicht recht. Und
dennoch: es war mir nur mit großer Anstrengung, unter Zittern am ganzen Körper
möglich, ein „Spinnst du!“ herauszupressen. Ich zitterte tatsächlich ein paar
Minuten, bevor ich darüber lachen konnte.
In ihren letzten Monaten wurden meine Eltern von rumänischen
Pflegerinnen vierundzwanzig Stunden betreut, unterstützt von einem
Palliativteam, anders war es nicht mehr möglich. Sie hatten wirklich Glück
damit, denn diese Betreuung war ausgezeichnet. Meine demente Mutter fiel
zeitweise in ihren Naziwahn zurück und beschimpfte ihre Pflegerin und
behandelte sie schlecht. Eine Nachbarin, die sich mit der Pflegerin
angefreundet hatte, wurde Zeugin einer solchen Szene und war völlig erstaunt,
wie die nette Frau Rumpf so ausfallend werden konnte.
Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Vaters war
offensichtlich, daß es auch mit meiner Mutter zu Ende ging. Da meine Schwestern
beim Vater dabei waren, baten sie mich (Mutter-Sohn) jetzt bei ihr dabei zu
sein. Ich nahm mir ein paar Tage Urlaub und wohnte im Sterbezimmer mit meiner
sterbenden Mutter. (Die Wohnung im oberen Stock war für die Pflegerin
reserviert.) Es war wie beim Vater das Wohnzimmer, ihr Sterbebett stand an der
gleichen Stelle unter dem von mir gemalten Bild. Ich selber schlief auf der
Couch.
Als ich hinkam, konnte meine Mutter nicht mehr sprechen, und
als sie mich sah, machte sie eine Geste wie um nach mir zu greifen, in ihren Augen
Angst. Ich ließ es nicht zu, daß sie mich festhielt; ich nahm ihre Hände, aber
um sie auf Distanz zu halten. Ich fürchtete tatsächlich, sie wolle in ihren
letzten Tagen noch etwas auf mich abladen, im Sterben noch eine Schuld auf mich
abwälzen, mir irgendeinen Auftrag unterjubeln. Und ich empfand, daß ihr Griff
nach mir die Aufforderung war, sie da raus zu holen, sie vor dem Tod zu retten.
Ich dachte mir, was glaubt sie, wer ich bin, daß sie erwartet, ich könne sie
vorm Tod retten! (Ihre Hände einfach so zu halten und zu streicheln war mir
erst möglich, als sie selber zu schwach war um nach mir zu greifen.)
Ich wartete etwas, dann begann ich auf sie einzureden. Ich
sagte ihr, sie solle sich vorm Tod nicht fürchten, sie brauche nur bereit sein,
ihr Leben anzuschauen. Sicher, sie werde auch unangenehme Sachen anschauen
müssen, auch das, was sie alles getan hat, aber sie solle sich nicht sorgen,
Jesus habe schon alle ihre Schulden bezahlt. Das zu sagen ist mir eingefallen,
weil gerade Karfreitag war. Heute hat Jesus alle deine Schulden bezahlt,
deswegen brauchst du dir keine Gedanken mehr machen, sagte ich.
Ich wunderte mich selber darüber, was ich da redete, denn
ich war zu dem Zeitpunkt längst wieder von Kirche und Christentum abgerückt,
und die Vorstellung, daß Jesus für meine Sünden gestorben ist, war mir eine
unsympathische, unangenehme Vorstellung. Ich will schon selber für meine Sachen
einstehen und habe ihn nicht gebeten, für mich zu sterben, und außerdem, wer
weiß, was da noch hintennach an Forderungen kommt, sozusagen aus dem
Kleingedruckten.
Ich wunderte mich also, daß ich so etwas sagen konnte, aber
fuhr in diesem Sinn fort: „Du mußt dich schon darauf einstellen, deinen
abgetriebenen Kindern zu begegnen, aber fürchte dich nicht, deine Schuld ist schon
bezahlt und deine Kinder lieben dich.“ Ich erzählte ihr, wie mir vor
Jahrzehnten im Traum mein abgetriebenes Kind erschienen ist und mich mit
schmerzlichen, aber liebenden Augen angeschaut hat und wie mich diese tiefe
Liebe erschüttert hat. Dann sagte ich, die Herausforderung wird nicht sein, daß
dich deine abgetriebenen Kinder hassen oder bestrafen werden, sondern die
Herausforderung wird sein, daß sie dich lieben. Sie werden dich lieben und du
wirst dich dieser Liebe so unwürdig fühlen, daß du es kaum aushältst. Aber
gerade da, denke an Jesus, laß dich von ihm da durchführen, und auch wenn du
dich ganz unwürdig vorkommst, nimm diese Liebe an! Nimm sie an! Weil deine
Schulden schon bezahlt sind, kannst du dort hingeführt werden, wo es nichts
Böses mehr gibt. Jenseits von all dem. Und dir wird auch gezeigt werden, wie du
geworden bist, warum du so geworden bist und weshalb du nicht anders konntest.
Dir wird auch gezeigt werden, was mit dir alles geschehen ist, was dir alles
angetan wurde, und du wirst dein Leben verstehen können. Laß dich von Jesus
dort hinführen, du brauchst nichts tun, du brauchst alles nur anschauen und du
wirst alles verstehen.
Ich war selber erstaunt, was da für Worte aus mir kamen, ich
wußte nicht, daß das in mir ist. Ich wußte auch nicht, ob und was meine Mutter
noch verstand, glaubte aber trotzdem, das Richtige gesagt zu haben. Die
Vorstellung gefiel mir, daß man im Tod an den Ort jenseits von gut und böse
geführt werden kann, weil nichts mehr da ist, was einem angelastet werden müßte,
und es nur mehr um Bewußtwerdung geht. Eine gewisse Genugtuung war es, gerade
ihr gegenüber von Jesus zu reden, die das alles immer so abgelehnt hatte und
meiner kindlichen Gläubigkeit damals gelinde gesagt sehr skeptisch und
abwertend gegenübergestanden ist.
In diesen paar Tagen mit meiner sterbenden Mutter in selben
Zimmer lebend tauchte doch so eine vage Erinnerung an ein Gefühl einer
selbstverständlichen Verbundenheit auf, begleitet noch von kaum fassbaren,
traumartigen Szenen aus unserer Admonter Zeit. Ich blieb jedoch eher
distanziert, registrierte ihr langsames Absterben, die Veränderungen in ihrer
Atmung, ich machte, was für mich neben der Pflegerin und dem Palliativteam zu
tun war – ihre Lippen mit Wasser benetzen zum Beispiel – saß lange bei ihr,
jetzt hielt ich auch unbefangen ihre Hände, schreckte nachts aus dem Schlaf
auf, wenn ihre Atmung aussetzte. Meine Gedanken und Gefühle kreisen
hauptsächlich um diese Admonter Zeit, ich war auch ein wenig aufgewühlt, aber
doch sehr gefaßt und distanziert.
Am Ostermontag fuhr ich wieder zurück nach Wien, denn am
nächsten Tag mußte ich wieder zur Arbeit. Ich nahm Abschied von meiner Mutter,
ich wußte, jetzt endgültig, und als ich noch im Zug saß, kam der Anruf, daß sie
soeben gestorben ist. Ich hatte gerade über den MP3-Player Musik von Johnny
Cash gehört, dessen Lieder ich in meiner Kindheit durch meine Mutter
kennengelernt hatte.
Beim Begräbnis weinte ich ein paar Tränen. Man darf aber
nicht vergessen, daß man nicht nur um den Menschen weint, sondern oft darüber,
daß die Beziehung zu diesem Menschen jetzt unwiederbringlich vorbei ist, auch,
oder gerade, wenn ihr Potential nie voll entfaltet wurde.
Nach dem Begräbnis habe ich das von mir gemalte Bild, unter
dem meine beiden Eltern gestorben sind, mitgenommen und in unserer Wohnung
aufgehängt. Und nach einigen Tagen spürte ich die Anwesenheit meiner Mutter
ganz deutlich an dieser Stelle, so, daß mir ein Schauder über den Rücken lief,
und dann noch in einem anderen Raum. Ich war mir ganz sicher, daß das der Geist
meiner Mutter war, aber ich fürchtete mich überhaupt nicht, war nur wachsam und
aufmerksam und dachte mir, „soll sie ruhig noch ein paar Runden drehen, bevor
sie in andere Dimensionen verschwindet.“
Ich war nicht sensitiv genug, um zu spüren, was sie mir, uns
noch sagen wollte, ob es eher ein Zögern war, weiterzugehen, oder etwas
anderes. So etwas wie sich verabschieden wird es wohl gewesen sein.
©Peter Alois Rumpf Juli
2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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