Dienstag, 19. Juli 2016

409 Abschied 2 (Mutter)

Vor über drei Jahren ist meine Mutter gestorben. Wie ich ihr Sterben erlebte, davon will ich erzählen. Wer sich wundert, daß dieser Text eine so spröde Überschrift trägt – es ist mir ein ganz großes Bedürfnis, Distanz zu wahren.

Als Vorbemerkung möchte ich meine Überzeugung bekunden, daß im schlimmsten Fall die Kinder ihre Eltern so aus dem Leben hinausbegleiten, wie sie, die Eltern, ihre Kinder ins Leben hineinbegleitet haben. Also wenn die Kinder nichts „dazugelernt“ haben, nichts erlöst haben, sich nicht aus den ererbten Verstrickungen befreien konnten, dann bekommen die Eltern das, was sie gegeben haben. Also um irgendwelche Schuldgefühle von mir geht es hier nicht.


Vor kurzem habe ich das Buch „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind: Über zwei NS-Erziehungsbücher“ von Sigrid Chamberlain gelesen, in dem die Prinzipien einer solchen Erziehung analysiert und ihre Auswirkungen beschrieben werden. Meine Mutter kannte zumindest eines dieser Nazierziehungsbücher von Johanna Haarer, „die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, damals und lange noch nach dem Krieg ein Standardwerk zur Säuglingspflege und Kleinkindererziehung, ganz sicher, denn sie hatte in der Nazizeit eine  (wegen des Zusammenbruchs des dritten Reiches dann unabgeschlossene) Ausbildung zur Fürsorgerin gemacht. Bei meiner Lektüre habe ich im Buch viele Elemente ihrer Erziehung wiedererkannt.
Wenn ich meine Erziehung durch meine Mutter zusammenfassen soll, kann ich einfach drei Aussagen des Buches von Chamberlain zitieren: „Bestens versorgt, aber ungeborgen“, „Symbiose statt Beziehung“, „Erregung statt Gefühle“.

Ja, bestens versorgt war ich immer, das Essen, das meine Mutter kochte, war ausgezeichnet, und ich wurde auch kleidungsmäßig gut „ausstaffiert“, wie sie es nannte, aber ansonsten völlig allein und im Stich gelassen. Meine Mutter war auch nicht berufstätig – sie betonte immer, wegen der Kinder - aber ich vermute, sie hätte sich in der Welt da draußen gar nicht zurecht gefunden und hatte in Wirklichkeit Angst, sich der Arbeitswelt zu stellen. Daher volle Konzentration auf die Kinder, vor allem auf mich. Ich war so jedoch nicht nur mit Kleidung „ausstaffiert“, sondern auch mit ihren Erwartungen und Vorstellungen an und über mich.

Der Astrologe Wolfgang Döbereiner hat die Behauptung aufgestellt, daß die Mütter ihren Söhnen dann den Namen „Peter“ geben, wenn sie nicht den Mann heiraten konnten, den sie sich wünschten, erträumten (realistisch, unrealistisch – ganz egal), sondern einen Ersatzpartner nehmen, von dem sie denken, daß er eigentlich nicht gut genug ist für sie. Der Sohn Peter soll dann seine Mutter an den „eigentlichen“ Partner erinnern; er ist der Repräsentant des eigentlichen Geliebten der Mutter (egal, ob es den wirklich gegeben hat, oder ob der bloß in der Phantasie herbeigeholt wurde). Döbereiner bringt das mit dem Petrusamt, nämlich Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein, in Verbindung. Damit ist der Sohn schon gegen seinen Vater gestellt und zieht dessen Hass auf den unbesiegbaren, weil ungreifbaren Konkurrenten auf sich – wenn dieser Vater nicht Manns genug ist, in die Tiefen des Geschehens zu blicken und solch grausame, dann schicksalshaft erscheinende Mechanismen zu durchschauen und ins Bewußtsein zu heben.
Was immer es mit dieser Theorie auf sich hat – bei uns hat sie genau zugetroffen (und zum Beispiel auch bei Peter Rosegger, wie man dort nachlesen kann). Noch dazu lebte und arbeitete mein Vater zu der Zeit an einem anderen Ort als dem Familienwohnsitz und war nur etwa alle zwei Wochen von Samstag Abend bis Sonntag Abend „auf  Besuch“.

Ich kann mich nur an einzelne Szenen aus dieser Zeit bis Mitte meines vierten Lebensjahres erinnern, aber das war dann zwischen meiner Mutter und mir schon ein ungesunde Symbiose, noch dazu, wo sich meine Mutter – selber sehr ängstlich und unsicher in der ihr fremden, vom Vater geprägten Umgebung – an mich klammerte. Wie bei vielen von ihren Männern enttäuschten Nachkriegsmüttern sollte ich sie in der feindlichen Umgebung als Sohn und Mannersatz (oder Ersatzmann) beschützen. Das bedeutet für den Sohn auf jeden Fall heillose Überforderung. Mit der von der Mutter aufgesetzt bekommenen Königskrone (Ersatzmann, Repräsentant des eigentlichen Geliebten) am Kopf habe ich - beinah könnte man sagen - „natürlich“ sofort die Aggressionen aller älteren Buben auf mich gezogen, die sich fragten, „was ist der schon!“ und mir zeigen wollten, das sie stärker sind als ich und mir, dem falschen König, überlegen. Noch dazu, wo auch meine Mutter mich als zu schwach empfand und als Versager ihren Erwartungen gegenüber. Als ich als Säugling unter Magenstörungen litt, die bewirkten, daß ich sehr oft erbrechen mußte, und ich deshalb wenig zunahm, da hat meine Mutter, wie sie erzählte, „schon oft geweint, daß die anderen (Mütter) so feste Buben haben, ich aber nur so einen ...“ - da hat sie ihren Satz abgebrochen, weil sie merkte, was sie gerade sagen wollte. (Im Übrigen gab es dort im Umfeld noch ein anderes Baby, das an diesem Magenpförtnerkrampf litt, und es hieß ebenfalls Peter. Ich zitiere Wikipedia, Pylorusstenose: „Die Erkrankung ist bereits mit der Geburt angelegt und kommt familiär gehäuft vor (...). Die Ursachen sind bislang ungeklärt. Zu finden ist die Krankheit vor allem bei West- und Nordeuropäern mit einer Häufigkeit von 1:300, selten bei Asiaten und fast nie bei Afrikanern. Der Erkrankungsgipfel liegt bei drei Wochen nach der Geburt. Die Krankheit tritt besonders bei den erstgeborenen Jungen auf (Verhältnis Jungen : Mädchen: 4-5 : 1).“) (Also ich würde  sagen, Ursachen geklärt: Die Krankheit  tritt in den Regionen auf, wo die Mütter ihre – nennen wir es einmal ruhig so: - natürlichen Mutterinstinkte verloren haben und ihren Umgang mit dem Baby nach (mehr oder weniger) wissenschaftlichem Programm durchführen. Die Vorstellungen, wie das Kind zu sein hat, sind schon fertig und vorgegeben, es kommt nicht auf die Welt und dann wird geschaut, wer es ist, wie es sich entwickelt, was es für Bedürfnisse hat, was es will, was es braucht, sondern es ist ein meist ehrgeiziges Projekt der Eltern, besonders der Mutter, in das investiert wird; die Investitionen  müssen sich dann auch lohnen. Das Kind ist ein Projekt, kein Geschenk des Himmels. Und das will das Kind nicht schlucken. In esoterischen Gefilden kursiert die Theorie, daß sich jedes Kind seine Eltern aussucht; das fällt mir schwer anzunehmen, denn wenn ich in mich hineinhöre, ist immer noch der Impuls, diese Stimme da, die sagt: nichts wie weg von hier!)

Für meine Mutter hätte ich entsprechend ihren Vorstellungen so ein Nazi-Siegertyp sein sollen, Krankheit, Schwäche waren da nicht vorgesehen. So ein Typ war ich aber nicht. Sie lieferte mich in meiner ganzen Kindheit regelrecht diesen anderen, meist älteren Buben aus, die ihrem Ideal besser entsprachen, in der Erwartung, die werden mir schon das Schwache austreiben, durch Härte werden sie schon einen richtigen Buben aus mir machen, ich werde mich einfach wehren müssen.

Das waren grausame Spiele, die konnten mit mir machen, was sie wollten, ich konnte mich nie wehren. Im Gegenteil. Natürlich wußte ich genau, daß ich zu Hause nie erzählen durfte, was mit mir passierte („Petze“), denn meine Eltern wären beide bloß enttäuscht von mir gewesen und hätten geschimpft und mir die Schuld gegeben - „Hättest dich halt gewehrt!“ Ich war wirklich schutzlos. Es ist durchaus vorgekommen, daß ich es nicht mehr verhindern konnte, weinend nach Hause zu gehen, und mich meine Mutter gerade deswegen geschlagen hat, wirklich mit der Rute zugedroschen, manchmal mit umgedrehter Rute, also mit dem Griff ins Gesicht, damit es mehr schmerzt. Auch ihre Wut und ihren abgrundtiefen Hass in diesen Momenten in ihren Augen werde ich nie vergessen. (darüber habe ich schon in mehreren Texten hier in der Schublade geschrieben, darum gehe ich hier nicht weiter darauf ein.)

Als Kind ist man ja fürs Überleben bereit, sich selber aufzugeben und so war es klar, daß ich ihr nicht auskommen konnte. Mein Versuch, mit zehn Jahren ins katholische Knabenseminar nach Graz zu entkommen, hat sie geschickt vereitelt. (Es ist zu vermuten, daß ich dann einer anderen Mutter „anheimgefallen“ wäre, nämlich der Mutter Kirche, aber diese hat eindeutig eine größere „Bandbreite“ und sie hätte man an ihren heiligen Schriften, denen sie sich verpflichtet hat, messen können.)

Diese Symbiose war also stark und sichtbar; ich galt schon als Mutters Sohn. Das heißt aber nicht, daß unsere Beziehung liebevoll gewesen wäre, nein, emotionale oder körperliche Wärme war kaum da, auch nicht in symbiotischer Verdrehung. Ich empfand meine Mutter als eher kalt und vor allem unberührbar. Als Säugling wird sie mich schon berührt, hochgenommen und getragen haben, aber an so etwas wie Zärtlichkeit kann ich mich nicht erinnern. Auch wenn ich mein Gedächtnis durchgehe, ich kann mich nur an zwei Umarmungen von ihr erinnern. Die zweite war, als ich nach der erfolgreich abgeschlossenen Matura nach Hause kam, da hat sie mich umarmt. Mir war das aber äußerst unangenehm, ich hätte sie am liebsten weggestoßen, aber dazu war ich nicht selbstbewußt genug. Ihre Umarmung war für mich ganz befremdlich.
Die erste Umarmung, an die ich mich erinnern kann, „passierte“ noch in meinem Volksschulalter. Ich war krank und lag mit Fieber im Bett, die Mutter arbeitete in der Küche und hörte Radio. Vielleicht hat eine Sendung bei ihr etwas ausgelöst, jedenfalls kam sie mit Tränen in das Kinderzimmer gestürzt und drückte mich an sich. Ich war schockiert und fragte sie: „Mutti, muß ich denn jetzt sterben?“ Anders konnte ich mir das nämlich nicht erklären.

Es ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, daß diese kalte Symbiose so stark war. Als ich etwas älter wurde, so richtig dann in der Gymnasiumszeit, kam ich immer mehr in die Rolle als ihr Gesprächspartner, dem sie alles erzählte. Mit ihrem Mann führte sie keine solchen Gespräche. Ich wurde ihr Vertrauter und Mistkübel, in den sie all ihren Psychoschutt leerte, denn Herzausschütten war das nicht. Es blieb intellektuell – im Sinne eines von Herz und Empfinden abgeschnittenen Geistes – und „theoretisch“. Oft beklagte sie sich dabei über meinen Vater, setzte ihn herab, kritisierte ihn, jammerte ewig herum, aber ohne daß die Gespräche irgendwohin führten, sie dienten nur dem Versuch, ihre schwer gestörte Seele mit ungeeigneten Mitteln zu entlasten. Auch für diese Gespräche galt „Erregung statt Gefühle“.
Ich war dazu abgerichtet, zuzuhören, zuzustimmen, zu nicken, Verständnis auszudrücken oder vorzutäuschen. Ich selber hatte dabei schon auch die Gelegenheit, über irgendwelche Themen, z.B. politische, zu reden, aber kaum eine Chance, etwas Echtes von mir zu erzählen, und wenn doch, dann wurde es später, bei passender Gelegenheit, gegen mich gerichtet, lächerlich gemacht, weiter erzählt, bestenfalls gleich als Anlaß für einen weiteren ihrer langen Monologe genommen, der zeigen sollte, wie schwer sie es hatte. Dafür galt ich bei ihr jetzt als „ernsthaft“, als jemand, mit dem man so gut reden konnte. Das hinderte sie aber keineswegs daran, in meiner Anwesenheit fremden Leuten zu erzählen, wie unsportlich und unmännlich ich mich entwickle („aus dem wird nie ein richtiger Mann!“).
Diese eigenartige Vertrautheit im abgehobenen Gespräch – die stellten nämlich schon so etwas wie eine Verbindung zur Mutter her – gerieten immer wieder - schon allein durch mein widerspruchsloses Zuhören oder auch mein Zustimmen - zur Komplizenschaft gegen meinen Vater. Der hatte mich sowieso schon der Mutter überlassen und stellte nur gelegentlich in seinen Wutausbrüchen seine Vorherrschaft wieder her und machte so seine Überlegenheit klar.

Trotz all dem wollte sie mit mir angeben, besonders der väterlichen Verwandtschaft gegenüber, die sie als minderwertig ansah, mit mir als dem ersten Gymnasiasten in der Familie. Und sie hatte sich wirklich darum gekümmert, daß ich aufs Gymnasium kam, mit Unterstützung einer jungen Lehrerin („der Bub gehört sicher aufs Gymnasium“. Danke, Frau Bina!), denn der Volksschuldirektor wollte es ihr ausreden, weil der keine „Unterschichtkinder“ aufs Gymnasium schicken wollte und meine Mutter hatte schon nachgegeben.
Ich, oder ihr Projektionsbild von mir, wurde von ihr hochgehoben und hochgejubelt, fast ein Kult getrieben, solange es ging, ich wurde eindeutig und massiv gegenüber meinen Schwestern bevorzugt, was jedoch auch eher ein zweifelhaftes Vergnügen war, denn zu erfüllen waren alle diese Erwartungen, allein schon in ihrer Widersprüchlichkeit, nicht. Ich war also brav, gehorsam, hatte mich meinen Eltern gegenüber total zurückgenommen, nahm wegen ihrer großen Empfindlichkeit und Labilität - die Mutter ständig ängstlich, besorgt, nervös, hysterisch und am Limit, der Vater jähzornig – bis zur Selbstverleugnung auf sie Rücksicht. Ich war lebensuntüchtig, gehemmt, ich konnte schwer Nein-Sagen, tat mich schwer mit dem Grüßen (von mir aus die Menschen ansprechen). Noch heute kann ich kaum jemandem mit seinem Namen anreden.

Das alles, auch die Symbiose mit meiner Mutter, konnte ich als Erwachsener trotz vieler Therapien kaum abschütteln. Es half mir nichts, daß ich als junger Erwachsener nur alle zwei Jahre für ein paar Tage bei den Eltern vorbeischaute, war ich in ihrem Bereich, griffen die alten Mechanismen noch immer.

Als meine Eltern schon alt waren, noch bevor sie sich zu einer Vierundzwanzigstunden-Betreuung durchringen konnten, war ich einmal dort, um meine demente Mutter zu betreuen, weil mein Vater, der sich bis dahin um sie gekümmert hatte, wegen eines Tumors eine Woche ins Spital mußte. Ich kam an, begrüßte die Mutter, wollte die Stiegen zur oberen Wohnung, die ich mit meiner Familie oft als Ferienwohnung benutzt hatte, hinaufeilen, als mich meine Mutter fragte, wieso ich denn hinaufginge. Ich schaute sie erstaunt an und sagte „um mein Gepäck abzulegen und mein Bett herzurichten.“ Sie erwiderte, daß es doch nicht nötig sei, ein Bett frisch zu überziehen, ich könne doch bei ihr im Ehebett, im Bett vom Vater schlafen. Ich glaubte, ich höre nicht recht. Und dennoch: es war mir nur mit großer Anstrengung, unter Zittern am ganzen Körper möglich, ein „Spinnst du!“ herauszupressen. Ich zitterte tatsächlich ein paar Minuten, bevor ich darüber lachen konnte.

In ihren letzten Monaten wurden meine Eltern von rumänischen Pflegerinnen vierundzwanzig Stunden betreut, unterstützt von einem Palliativteam, anders war es nicht mehr möglich. Sie hatten wirklich Glück damit, denn diese Betreuung war ausgezeichnet. Meine demente Mutter fiel zeitweise in ihren Naziwahn zurück und beschimpfte ihre Pflegerin und behandelte sie schlecht. Eine Nachbarin, die sich mit der Pflegerin angefreundet hatte, wurde Zeugin einer solchen Szene und war völlig erstaunt, wie die nette Frau Rumpf so ausfallend werden konnte.
Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Vaters war offensichtlich, daß es auch mit meiner Mutter zu Ende ging. Da meine Schwestern beim Vater dabei waren, baten sie mich (Mutter-Sohn) jetzt bei ihr dabei zu sein. Ich nahm mir ein paar Tage Urlaub und wohnte im Sterbezimmer mit meiner sterbenden Mutter. (Die Wohnung im oberen Stock war für die Pflegerin reserviert.) Es war wie beim Vater das Wohnzimmer, ihr Sterbebett stand an der gleichen Stelle unter dem von mir gemalten Bild. Ich selber schlief auf der Couch.

Als ich hinkam, konnte meine Mutter nicht mehr sprechen, und als sie mich sah, machte sie eine Geste wie um nach mir zu greifen, in ihren Augen Angst. Ich ließ es nicht zu, daß sie mich festhielt; ich nahm ihre Hände, aber um sie auf Distanz zu halten. Ich fürchtete tatsächlich, sie wolle in ihren letzten Tagen noch etwas auf mich abladen, im Sterben noch eine Schuld auf mich abwälzen, mir irgendeinen Auftrag unterjubeln. Und ich empfand, daß ihr Griff nach mir die Aufforderung war, sie da raus zu holen, sie vor dem Tod zu retten. Ich dachte mir, was glaubt sie, wer ich bin, daß sie erwartet, ich könne sie vorm Tod retten! (Ihre Hände einfach so zu halten und zu streicheln war mir erst möglich, als sie selber zu schwach war um nach mir zu greifen.)
Ich wartete etwas, dann begann ich auf sie einzureden. Ich sagte ihr, sie solle sich vorm Tod nicht fürchten, sie brauche nur bereit sein, ihr Leben anzuschauen. Sicher, sie werde auch unangenehme Sachen anschauen müssen, auch das, was sie alles getan hat, aber sie solle sich nicht sorgen, Jesus habe schon alle ihre Schulden bezahlt. Das zu sagen ist mir eingefallen, weil gerade Karfreitag war. Heute hat Jesus alle deine Schulden bezahlt, deswegen brauchst du dir keine Gedanken mehr machen, sagte ich.

Ich wunderte mich selber darüber, was ich da redete, denn ich war zu dem Zeitpunkt längst wieder von Kirche und Christentum abgerückt, und die Vorstellung, daß Jesus für meine Sünden gestorben ist, war mir eine unsympathische, unangenehme Vorstellung. Ich will schon selber für meine Sachen einstehen und habe ihn nicht gebeten, für mich zu sterben, und außerdem, wer weiß, was da noch hintennach an Forderungen kommt, sozusagen aus dem Kleingedruckten.

Ich wunderte mich also, daß ich so etwas sagen konnte, aber fuhr in diesem Sinn fort: „Du mußt dich schon darauf einstellen, deinen abgetriebenen Kindern zu begegnen, aber fürchte dich nicht, deine Schuld ist schon bezahlt und deine Kinder lieben dich.“ Ich erzählte ihr, wie mir vor Jahrzehnten im Traum mein abgetriebenes Kind erschienen ist und mich mit schmerzlichen, aber liebenden Augen angeschaut hat und wie mich diese tiefe Liebe erschüttert hat. Dann sagte ich, die Herausforderung wird nicht sein, daß dich deine abgetriebenen Kinder hassen oder bestrafen werden, sondern die Herausforderung wird sein, daß sie dich lieben. Sie werden dich lieben und du wirst dich dieser Liebe so unwürdig fühlen, daß du es kaum aushältst. Aber gerade da, denke an Jesus, laß dich von ihm da durchführen, und auch wenn du dich ganz unwürdig vorkommst, nimm diese Liebe an! Nimm sie an! Weil deine Schulden schon bezahlt sind, kannst du dort hingeführt werden, wo es nichts Böses mehr gibt. Jenseits von all dem. Und dir wird auch gezeigt werden, wie du geworden bist, warum du so geworden bist und weshalb du nicht anders konntest. Dir wird auch gezeigt werden, was mit dir alles geschehen ist, was dir alles angetan wurde, und du wirst dein Leben verstehen können. Laß dich von Jesus dort hinführen, du brauchst nichts tun, du brauchst alles nur anschauen und du wirst alles verstehen.

Ich war selber erstaunt, was da für Worte aus mir kamen, ich wußte nicht, daß das in mir ist. Ich wußte auch nicht, ob und was meine Mutter noch verstand, glaubte aber trotzdem, das Richtige gesagt zu haben. Die Vorstellung gefiel mir, daß man im Tod an den Ort jenseits von gut und böse geführt werden kann, weil nichts mehr da ist, was einem angelastet werden müßte, und es nur mehr um Bewußtwerdung geht. Eine gewisse Genugtuung war es, gerade ihr gegenüber von Jesus zu reden, die das alles immer so abgelehnt hatte und meiner kindlichen Gläubigkeit damals gelinde gesagt sehr skeptisch und abwertend gegenübergestanden ist.

In diesen paar Tagen mit meiner sterbenden Mutter in selben Zimmer lebend tauchte doch so eine vage Erinnerung an ein Gefühl einer selbstverständlichen Verbundenheit auf, begleitet noch von kaum fassbaren, traumartigen Szenen aus unserer Admonter Zeit. Ich blieb jedoch eher distanziert, registrierte ihr langsames Absterben, die Veränderungen in ihrer Atmung, ich machte, was für mich neben der Pflegerin und dem Palliativteam zu tun war – ihre Lippen mit Wasser benetzen zum Beispiel – saß lange bei ihr, jetzt hielt ich auch unbefangen ihre Hände, schreckte nachts aus dem Schlaf auf, wenn ihre Atmung aussetzte. Meine Gedanken und Gefühle kreisen hauptsächlich um diese Admonter Zeit, ich war auch ein wenig aufgewühlt, aber doch sehr gefaßt und distanziert.

Am Ostermontag fuhr ich wieder zurück nach Wien, denn am nächsten Tag mußte ich wieder zur Arbeit. Ich nahm Abschied von meiner Mutter, ich wußte, jetzt endgültig, und als ich noch im Zug saß, kam der Anruf, daß sie soeben gestorben ist. Ich hatte gerade über den MP3-Player Musik von Johnny Cash gehört, dessen Lieder ich in meiner Kindheit durch meine Mutter kennengelernt hatte.

Beim Begräbnis weinte ich ein paar Tränen. Man darf aber nicht vergessen, daß man nicht nur um den Menschen weint, sondern oft darüber, daß die Beziehung zu diesem Menschen jetzt unwiederbringlich vorbei ist, auch, oder gerade, wenn ihr Potential nie voll entfaltet wurde.


Nach dem Begräbnis habe ich das von mir gemalte Bild, unter dem meine beiden Eltern gestorben sind, mitgenommen und in unserer Wohnung aufgehängt. Und nach einigen Tagen spürte ich die Anwesenheit meiner Mutter ganz deutlich an dieser Stelle, so, daß mir ein Schauder über den Rücken lief, und dann noch in einem anderen Raum. Ich war mir ganz sicher, daß das der Geist meiner Mutter war, aber ich fürchtete mich überhaupt nicht, war nur wachsam und aufmerksam und dachte mir, „soll sie ruhig noch ein paar Runden drehen, bevor sie in andere Dimensionen verschwindet.“
Ich war nicht sensitiv genug, um zu spüren, was sie mir, uns noch sagen wollte, ob es eher ein Zögern war, weiterzugehen, oder etwas anderes. So etwas wie sich verabschieden wird es wohl gewesen sein.

















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

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