407 Abschied 1 (Vater)
Vor gut dreieinhalb Jahren ist mein Vater gestorben. Wie ich
sein Sterben erlebte, davon will ich erzählen. Wer sich wundert, daß dieser
Text eine so spröde Überschrift trägt – es ist mir ein ganz großes Bedürfnis,
Distanz zu wahren.
Als Vorbemerkung möchte ich meine Überzeugung bekunden, daß
im schlimmsten Fall die Kinder ihre Eltern so aus dem Leben hinausbegleiten,
wie sie, die Eltern, ihre Kinder ins Leben hineinbegleitet haben. Also wenn die
Kinder nichts „dazugelernt“ haben, nichts erlöst haben, sich nicht aus den
ererbten Verstrickungen befreien konnten, dann bekommen die Eltern das, was sie
gegeben haben. Also um irgendwelche Schuldgefühle von mir geht es hier nicht.
Mein Verhältnis zu meinem Vater war von Kindheit an
angespannt; ich habe ihn gefürchtet, und wenn ich ehrlich bin, gefürchtet bis
zum Schluß. Ich habe ihn nie vom Thron gestürzt, und wenn er doch im Fallen
war, habe ich ihn wieder hinaufgehoben; als Kind brauchte ich ihn als Schutz
vor der Mutter. Ich erlebte ihn oft als unduldsam, jähzornig und manchmal
gewalttätig. Die Wut und den Hass dann in seinen Augen werde ich nie vergessen.
Er konnte jedoch auch jovial, nachgiebig und in gewisser Weise kinderfreundlich
sein. So hat er – in seiner Generation in unseren Breiten komplett unüblich –
gerne den Kinderwagen geschoben und sich dafür nie geniert. Er hat uns Kindern
oft Märchen erzählt, dabei saßen wir bei ihm, auf seinem Schoß, und lehnten uns
an ihn. Er war wärmer, zugänglicher, körperlich präsenter als die kalte,
unberührbare Mutter. Trotzdem konnte ich schon als Kind an ihm rücksichtslose,
in seiner Kinder“liebe“ grenzüberschreitende, manchmal fast sadistische Züge
wahrnehmen.
Im Krieg war er bei der Waffen-SS und ich war für ihn bald
ein Versager, dem er seine Verachtung auch offen angesagt und gezeigt hat. Er
verlor als Neunzehnjähriger bei einer Schlacht in Finnland seinen linken Arm
und glaubte vor allem mir ständig beweisen zu müssen, daß er mit einem Arm
besser ist, als ich mit meinen zwei linken Händen.
Wie gesagt, ich hatte dauernd Angst vor ihm und seinen
Wutausbrüchen, und die seltenen Momente, wo ich mit ihm anscheinend „normal“
reden konnte und mich ein wenig öffnen, trieben mir noch als Erwachsenen die
Tränen in die Augen, so in dem Sinn: er bringt mich doch nicht um, er duldet
mich. Das waren aber keine echten, gleichwürdigen Gespräche, denn ich habe mich
dabei total zurückgenommen - um nicht zu sagen – unterworfen.
Im hohen Alter hatte mein Vater Krebs und meine Mutter wurde
zunehmend verwirrt und dement. Lange hat der Tumor, der sehr langsam wuchs,
meinen Vater nicht gestört und er hat sich aufopfernd und unbedankt um seine
Frau gekümmert, die jedoch ihm gegenüber immer feindseliger wurde, vermutlich
auch durch die schweren Medikamente, die sie einnehmen mußte, verstärkt. Sie
hat ihrem Mann ständig unterstellt, es ständig mit anderen Frauen zu treiben.
Sie konnte da zum Beispiel eine Szene schildern, wie eine jüngere Frau meinem
Vater in einem Lokal unterm Tisch „einen runtergeholt“ hatte und bezeugen, daß
sie das alles selber gesehen hätte, und ohne Zweifel, sie glaubte ihren
Wahnvorstellungen wirklich und merkte nicht, daß das in erster Linie ihre
Projektionen waren. Daß mein Vater solche Abenteuer gerne erlebt hätte,
kann ich mir schon gut vorstellen (meine eigene Projektion?), aber was sich da
meine Mutter ausdachte, fand in dieser Realität nicht statt. Man könnte
lediglich sagen – wenn meine Vermutung über meinen Vater stimmt
- daß sie in ihren Wahnvorstellungen etwas von den zurückgestauten Sehnsüchten
ihres Mannes, die sie spürte, ausdrückte, aber es bleibt, daß das ihre
Phantasie war.
Mein Vater litt sehr unter den Vorwürfen und Unterstellungen
meiner Mutter, die nicht immer nur verbal blieben, sondern auch zu körperlichen
Attacken auf ihn ausarten konnten. (Mein Vater hat meine Mutter meines Wissens
nie geschlagen.) Er war deswegen oft verzweifelt, manchmal bis zum Weinen, weil
sie rationaler Argumentation und auch hieb- und stichfesten Beweisen für die
Unmöglichkeit und Irrealität ihrer Wahnvorstellungen nicht mehr zugänglich war.
In seiner Hilflosigkeit (oder muß ich auch sagen, in seinem Unverständnis?)
wollte er sich einmal die Falschheit der an gerichteten Vorwürfe von einem
Notar bestätigen lassen, damit er es ihr und den anderen schwarz auf weiß
beweisen kann. Er hat sich dann schon bemüht, diese Vorwürfe nicht persönlich
zu nehmen, sondern als Ausdruck ihrer Krankheit zu verstehen, aber leicht war das
sicher nicht, noch dazu, wo die Mutter ihre Wahngeschichten als wahre
Geschichten im Ort herumerzählt hat.
Trotzdem hat mein Vater für seine Frau den Haushalt gemacht,
alles besorgt (was er selber noch erledigen konnte, sonst sprangen meine
Schwestern ein), eingekauft, hinter ihr die Herdplatte wieder abgedreht,
aufgehoben, was ihr zu Boden gefallen war und so weiter, wiederum etwas, was
meine Mutter total verleugnet hat und wofür er von ihr kein Wort des Dankes
erhielt.
Lange waren beide Eltern nicht einsichtig, daß sie
Unterstützung benötigen und es nicht mehr alleine schaffen und daß auch die
ständigen und häufigen Hilfen ihrer Töchter nicht mehr ausreichen. Das
anzuerkennen viel ihnen ganz schwer. Als jedoch mein Vater zur Behandlung ins
Spital mußte und klar war, daß es jetzt mit dem Krebs ernst wird, war
unübersehbar, daß es so nicht mehr weitergehen konnte. Es waren meine
Schwestern – vor allem eine von den beiden – die die Eltern endlich dazu brachten,
eine Vierundzwanzigstunden-Betreuung zu akzeptieren. Die beiden Pflegerinnen
aus Rumänien – vor allem eine von ihnen, die die meiste Zeit unsere Eltern
betreut hat – machten ihre schwere Arbeit gewissenhaft und sehr gut; unsere
Eltern hatte es sehr gut getroffen.
Schon ein paar Monate vorher waren meine Eltern nicht mehr
in der Lage, den Garten ihres Hauses zu pflegen, aber da gab es in der Umgebung
eine organisierte Nachbarschaftshilfe, von der regelmäßig ein junger Mann kam,
um ihren Rasen zu mähen. Dieser junge Mann hat meinem Vater vorgeschlagen, beim
Rasenmähen doch einige ungemähte Inseln stehen zu lassen, damit die Blumen
ausblühen können. Aber – und das ist ganz typisch für meinen Vater – das konnte
er nicht zulassen. Da ist er noch – solange er konnte – hinter dem Helfer
hergegangen um zu kontrollieren, ob der eh alles abmäht. (Ich kann mich auch
erinnern, daß er einmal in einem Wald gesagt hat: wie schaut denn der aus, der
gehört aufgeräumt!). Erst als mein Vater das Haus und dann das Bett nicht mehr
verlassen konnte, verfuhr der junge Mann – nach Rücksprache mit meinen
Schwestern - beim Rasenmähen so, wie er es vorgeschlagen hatte und ich kann
bestätigen, daß diese Wiese mit den kleinen, blühenden Inseln ein
wunderschöner, herzerfrischender Anblick war.
Dabei hat mein Vater durchaus ein wenig das Image eines
Naturburschen gepflegt, aber eher auf diese erobernde, blinde, vereinnahmende
Nazi-Art – ich sage es einmal so; denn von da kommt das ja her, das war ja
seine Sozialisation in seiner Jugend, das war der Hintergrund, nach dem er
orientiert war – fragwürdiger Hüttenzauber, anlassige Spielchen, schnell ins
Mobbing kippende Scherze und auch ein Anklang an aufdringlichen
Höhenluftgrößenwahn. (Ich weiß, ich bin jetzt verbittert und ungerecht;
natürlich war er nicht nur so, aber das war schon das Hintergrundrauschen
seines Lebens, das da immer mehr oder weniger in sein Denken, Urteilen,
Handeln und Leben abgestrahlt hat.)
Mein Vater war ein durchaus kommunikativer Mensch, ist den
Leuten zugegangen und sie ihm. Im Ort war er bekannt und beliebt. Als offensichtlich
wurde, daß er nur mehr einige Wochen zu leben haben würde, kamen viele auf
Besuch. Vor allem natürlich seine Verwandten. Sein Krankenbett, richtiger
gesagt sein Sterbebett stand nicht im beengten Schlafzimmer, sondern im
Wohnzimmer, unter einem von mir gemalten Bild, das ich meinen Eltern vor Jahren
geschenkt hatte. Dieses Wohnzimmer war an manchen Tagen voll von Besuchern.
Auch ich war öfters dort. Das hatte etwas Schönes, wie seine Geschwister mit
ihren Familien, manche von weit angereist, um ihn noch lebend zu sehen, seine
Kinder, seine Enkelkinder, alle mit ihren Partnern respektive Partnerinnen, mit
den Urenkeln, um sein Bett versammelt waren und sich von ihm verabschiedeten.
Es war offensichtlich, daß er sich sehr freute.
Gegen Ende lag er fast nur mehr in seinem Bett, konnte kaum
noch aufstehen, und dieses Bett hatte auch Gitter, die man runterschieben oder
hochziehen konnte, damit er nicht aus dem Bett fallen kann. Es gab auch eine
Klingel, mit der er die Pflegerin herbeirufen konnte, wenn sie in ihrem Zimmer
war und er Hilfe brauchte. Einmal, als er noch glaubte, das Gitter nicht
hochschieben zu müssen, war er in der Nacht aus dem Bett gefallen, konnte nicht
mehr aufstehen, vom Boden aus auch nicht mehr die Pflegerin rufen und lag bis zum
Morgen am Fußboden. Er hatte die Pflegerin vorher vom Bett aus noch gerufen,
sie war aber nicht gekommen. Wir waren davon irritiert, als wir davon hörten,
weil wir diese Pflegerin als sehr gewissenhaft und verlässlich erlebt haben;
sie erzählte aber, er hätte sie in dieser Nacht schon mehrmals herbeigerufen,
um nach der Uhrzeit zu fragen, deshalb habe sie nicht mehr reagiert. Erst nach
seinem Tod kam heraus, daß mein Vater in dieser Nacht öfters nach der Pflegerin
geläutet hatte um sie dann anzubetteln, daß sie ihm erlaube, sie „anzuschauen,
nur anzuschauen“. Alles klar? Seit diesem Zwischenfall waren nachts die Gitter
oben und einmal bat er mich, nachdem er sich hingelegt hatte, die Gitter
hinaufzuziehen. Ich tat so, aber war mir nicht im Klaren, ob sie in der oberen
Position schon eingerastet waren und schaute genauer hin, um den Mechanismus zu
verstehen, als er sagte: „das hast du falsch gemacht!“
Da ist in mir eindeutig etwas abgerissen und ich habe mich
endgültig von ihm zurückgezogen. Ich trug ja in mir immer noch den Wunsch nach
einer letzten Aussprache, wo wir uns voreinander wenigstens ein wenig öffnen
können, wo so etwas wie, wie, … wie nenne ich das? … wie Versöhnung stattfinden
kann, ansatzweise eine echte Begegnung. Wenn ich es ganz offen ausspreche – es
war der Wusch nach so etwas wie, wie ... einen väterlichen Segen; daß er einmal in
seinem Leben etwas sagt wie „es ist gut, daß du da bist“, oder „es war nicht
leicht zwischen uns, ich wünsche dir aber alles Gute auf deinem Lebensweg“,
irgendetwas in der Art. Jetzt, angesichts des Todes wenigstens. Nein, nichts.
Ich hatte übrigens zu seinem siebzigsten Geburtstag von meiner Seite her sehr
wohl genau das versucht, indem ich eine Rede gehalten hatte, wo ich meine
„voreiligen“, in Wirklichkeit ohnehin sehr schaumgebremsten, von Verständnis
triefenden Verurteilungen (Nazizeit) „kritisch“ in Frage gestellt habe, wo ich
ihm meine Hand entgegen gestreckt habe. Die Rede ist bei ihm und den Zuhörern
gut angekommen; die Hand hat er sozusagen ergriffen, aber nur, um sich
hochzuziehen; von ihm ist nie irgendetwas Ähnliches gekommen, zum Beispiel,
„ich habe dich in meinem Zorn oft ungerecht geschlagen (ich weiß, es gibt keine
gerechten Schläge, aber das, wofür er mich offiziell geschlagen hat, habe ich
gar nicht getan), das tut mir leid, ich wußte mir nicht anders zu helfen“, oder
„ich habe es damals nicht besser gewußt“. Oder etwas Ähnliches. Nein, nichts.
Gar nichts. Einfach gar nichts. Nichts. Nichts. Nichts. Oder irgendeine
Anerkennung für irgendwas. Fehlanzeige, nichts. Nein. Ich hatte gehofft, daß
die Nähe des Todes in ihm etwas öffnen könnte, ein Bedürfnis, sein Leben, seine
Beziehungen in Ordnung zu bringen. Nein, nichts.
Daraufhin habe ich mit ihm abgeschlossen und bin nicht mehr
an sein Sterbebett gekommen. Welches Schimpfwort mir damals eingefallen ist,
weiß ich nichts mehr so genau, aber ungefähr „du kannst mich mal, du grober,
unsensibler Klotz! Ist das alles, was du angesichts deines Todes
zusammenbringst?“
Bei seinem Begräbnis waren sehr viele Leute, der
Kameradschaftsbund hat geböllert, ein Stahlhelm am Sarg, aber das war mir schon
völlig egal. Dort gehörte er ja dazu. Ich bin da nur so eine bestenfalls
geduldete Randfigur.
Ich habe selber zwei Kinder und wenn sie einmal ihre
Geschichten aufschreiben oder erzählen, ich vermute, diese werden nicht
wesentlich anders ausschauen, als meine eigene, denn ich ahne, daß ich viel von
dem an meine Kinder weitergegeben habe, was ich durch meine Eltern erlitten
habe, wenn auch meistens in anderer Verkleidung. Ich wünsche ihnen sehr, daß
sie ein Stück weiter kommen als ich, ein gutes Stück weiter, und daß sie hier
auf Erden glücklich sein können.
Und wie es mir bei meinem eigenen Tod gehen wird, kann ich
auch nicht wissen. Wir werden ja sehen.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite