Samstag, 16. Juli 2016

407 Abschied 1 (Vater)

Vor gut dreieinhalb Jahren ist mein Vater gestorben. Wie ich sein Sterben erlebte, davon will ich erzählen. Wer sich wundert, daß dieser Text eine so spröde Überschrift trägt – es ist mir ein ganz großes Bedürfnis, Distanz zu wahren.

Als Vorbemerkung möchte ich meine Überzeugung bekunden, daß im schlimmsten Fall die Kinder ihre Eltern so aus dem Leben hinausbegleiten, wie sie, die Eltern, ihre Kinder ins Leben hineinbegleitet haben. Also wenn die Kinder nichts „dazugelernt“ haben, nichts erlöst haben, sich nicht aus den ererbten Verstrickungen befreien konnten, dann bekommen die Eltern das, was sie gegeben haben. Also um irgendwelche Schuldgefühle von mir geht es hier nicht.

Mein Verhältnis zu meinem Vater war von Kindheit an angespannt; ich habe ihn gefürchtet, und wenn ich ehrlich bin, gefürchtet bis zum Schluß. Ich habe ihn nie vom Thron gestürzt, und wenn er doch im Fallen war, habe ich ihn wieder hinaufgehoben; als Kind brauchte ich ihn als Schutz vor der Mutter. Ich erlebte ihn oft als unduldsam, jähzornig und manchmal gewalttätig. Die Wut und den Hass dann in seinen Augen werde ich nie vergessen. Er konnte jedoch auch jovial, nachgiebig und in gewisser Weise kinderfreundlich sein. So hat er – in seiner Generation in unseren Breiten komplett unüblich – gerne den Kinderwagen geschoben und sich dafür nie geniert. Er hat uns Kindern oft Märchen erzählt, dabei saßen wir bei ihm, auf seinem Schoß, und lehnten uns an ihn. Er war wärmer, zugänglicher, körperlich präsenter als die kalte, unberührbare Mutter. Trotzdem konnte ich schon als Kind an ihm rücksichtslose, in seiner Kinder“liebe“ grenzüberschreitende, manchmal fast sadistische Züge wahrnehmen.

Im Krieg war er bei der Waffen-SS und ich war für ihn bald ein Versager, dem er seine Verachtung auch offen angesagt und gezeigt hat. Er verlor als Neunzehnjähriger bei einer Schlacht in Finnland seinen linken Arm und glaubte vor allem mir ständig beweisen zu müssen, daß er mit einem Arm besser ist, als ich mit meinen zwei linken Händen.
Wie gesagt, ich hatte dauernd Angst vor ihm und seinen Wutausbrüchen, und die seltenen Momente, wo ich mit ihm anscheinend „normal“ reden konnte und mich ein wenig öffnen, trieben mir noch als Erwachsenen die Tränen in die Augen, so in dem Sinn: er bringt mich doch nicht um, er duldet mich. Das waren aber keine echten, gleichwürdigen Gespräche, denn ich habe mich dabei total zurückgenommen - um nicht zu sagen – unterworfen.

Im hohen Alter hatte mein Vater Krebs und meine Mutter wurde zunehmend verwirrt und dement. Lange hat der Tumor, der sehr langsam wuchs, meinen Vater nicht gestört und er hat sich aufopfernd und unbedankt um seine Frau gekümmert, die jedoch ihm gegenüber immer feindseliger wurde, vermutlich auch durch die schweren Medikamente, die sie einnehmen mußte, verstärkt. Sie hat ihrem Mann ständig unterstellt, es ständig mit anderen Frauen zu treiben. Sie konnte da zum Beispiel eine Szene schildern, wie eine jüngere Frau meinem Vater in einem Lokal unterm Tisch „einen runtergeholt“ hatte und bezeugen, daß sie das alles selber gesehen hätte, und ohne Zweifel, sie glaubte ihren Wahnvorstellungen wirklich und merkte nicht, daß das in erster Linie ihre Projektionen waren. Daß mein Vater solche Abenteuer gerne erlebt hätte, kann ich mir schon gut vorstellen (meine eigene Projektion?), aber was sich da meine Mutter ausdachte, fand in dieser Realität nicht statt. Man könnte lediglich sagen – wenn meine Vermutung über meinen Vater stimmt - daß sie in ihren Wahnvorstellungen etwas von den zurückgestauten Sehnsüchten ihres Mannes, die sie spürte, ausdrückte, aber es bleibt, daß das ihre Phantasie war.
Mein Vater litt sehr unter den Vorwürfen und Unterstellungen meiner Mutter, die nicht immer nur verbal blieben, sondern auch zu körperlichen Attacken auf ihn ausarten konnten. (Mein Vater hat meine Mutter meines Wissens nie geschlagen.) Er war deswegen oft verzweifelt, manchmal bis zum Weinen, weil sie rationaler Argumentation und auch hieb- und stichfesten Beweisen für die Unmöglichkeit und Irrealität ihrer Wahnvorstellungen nicht mehr zugänglich war. In seiner Hilflosigkeit (oder muß ich auch sagen, in seinem Unverständnis?) wollte er sich einmal die Falschheit der an gerichteten Vorwürfe von einem Notar bestätigen lassen, damit er es ihr und den anderen schwarz auf weiß beweisen kann. Er hat sich dann schon bemüht, diese Vorwürfe nicht persönlich zu nehmen, sondern als Ausdruck ihrer Krankheit zu verstehen, aber leicht war das sicher nicht, noch dazu, wo die Mutter ihre Wahngeschichten als wahre Geschichten im Ort herumerzählt hat.

Trotzdem hat mein Vater für seine Frau den Haushalt gemacht, alles besorgt (was er selber noch erledigen konnte, sonst sprangen meine Schwestern ein), eingekauft, hinter ihr die Herdplatte wieder abgedreht, aufgehoben, was ihr zu Boden gefallen war und so weiter, wiederum etwas, was meine Mutter total verleugnet hat und wofür er von ihr kein Wort des Dankes erhielt.

Lange waren beide Eltern nicht einsichtig, daß sie Unterstützung benötigen und es nicht mehr alleine schaffen und daß auch die ständigen und häufigen Hilfen ihrer Töchter nicht mehr ausreichen. Das anzuerkennen viel ihnen ganz schwer. Als jedoch mein Vater zur Behandlung ins Spital mußte und klar war, daß es jetzt mit dem Krebs ernst wird, war unübersehbar, daß es so nicht mehr weitergehen konnte. Es waren meine Schwestern – vor allem eine von den beiden – die die Eltern endlich dazu brachten, eine Vierundzwanzigstunden-Betreuung zu akzeptieren. Die beiden Pflegerinnen aus Rumänien – vor allem eine von ihnen, die die meiste Zeit unsere Eltern betreut hat – machten ihre schwere Arbeit gewissenhaft und sehr gut; unsere Eltern hatte es sehr gut getroffen.

Schon ein paar Monate vorher waren meine Eltern nicht mehr in der Lage, den Garten ihres Hauses zu pflegen, aber da gab es in der Umgebung eine organisierte Nachbarschaftshilfe, von der regelmäßig ein junger Mann kam, um ihren Rasen zu mähen. Dieser junge Mann hat meinem Vater vorgeschlagen, beim Rasenmähen doch einige ungemähte Inseln stehen zu lassen, damit die Blumen ausblühen können. Aber – und das ist ganz typisch für meinen Vater – das konnte er nicht zulassen. Da ist er noch – solange er konnte – hinter dem Helfer hergegangen um zu kontrollieren, ob der eh alles abmäht. (Ich kann mich auch erinnern, daß er einmal in einem Wald gesagt hat: wie schaut denn der aus, der gehört aufgeräumt!). Erst als mein Vater das Haus und dann das Bett nicht mehr verlassen konnte, verfuhr der junge Mann – nach Rücksprache mit meinen Schwestern - beim Rasenmähen so, wie er es vorgeschlagen hatte und ich kann bestätigen, daß diese Wiese mit den kleinen, blühenden Inseln ein wunderschöner, herzerfrischender Anblick war.
Dabei hat mein Vater durchaus ein wenig das Image eines Naturburschen gepflegt, aber eher auf diese erobernde, blinde, vereinnahmende Nazi-Art – ich sage es einmal so; denn von da kommt das ja her, das war ja seine Sozialisation in seiner Jugend, das war der Hintergrund, nach dem er orientiert war – fragwürdiger Hüttenzauber, anlassige Spielchen, schnell ins Mobbing kippende Scherze und auch ein Anklang an aufdringlichen Höhenluftgrößenwahn. (Ich weiß, ich bin jetzt verbittert und ungerecht; natürlich war er nicht nur so, aber das war schon das Hintergrundrauschen seines Lebens, das da immer mehr oder weniger in sein Denken, Urteilen, Handeln und Leben abgestrahlt  hat.)

Mein Vater war ein durchaus kommunikativer Mensch, ist den Leuten zugegangen und sie ihm. Im Ort war er bekannt und beliebt. Als offensichtlich wurde, daß er nur mehr einige Wochen zu leben haben würde, kamen viele auf Besuch. Vor allem natürlich seine Verwandten. Sein Krankenbett, richtiger gesagt sein Sterbebett stand nicht im beengten Schlafzimmer, sondern im Wohnzimmer, unter einem von mir gemalten Bild, das ich meinen Eltern vor Jahren geschenkt hatte. Dieses Wohnzimmer war an manchen Tagen voll von Besuchern. Auch ich war öfters dort. Das hatte etwas Schönes, wie seine Geschwister mit ihren Familien, manche von weit angereist, um ihn noch lebend zu sehen, seine Kinder, seine Enkelkinder, alle mit ihren Partnern respektive Partnerinnen, mit den Urenkeln, um sein Bett versammelt waren und sich von ihm verabschiedeten. Es war offensichtlich, daß er sich sehr freute.

Gegen Ende lag er fast nur mehr in seinem Bett, konnte kaum noch aufstehen, und dieses Bett hatte auch Gitter, die man runterschieben oder hochziehen konnte, damit er nicht aus dem Bett fallen kann. Es gab auch eine Klingel, mit der er die Pflegerin herbeirufen konnte, wenn sie in ihrem Zimmer war und er Hilfe brauchte. Einmal, als er noch glaubte, das Gitter nicht hochschieben zu müssen, war er in der Nacht aus dem Bett gefallen, konnte nicht mehr aufstehen, vom Boden aus auch nicht mehr die Pflegerin rufen und lag bis zum Morgen am Fußboden. Er hatte die Pflegerin vorher vom Bett aus noch gerufen, sie war aber nicht gekommen. Wir waren davon irritiert, als wir davon hörten, weil wir diese Pflegerin als sehr gewissenhaft und verlässlich erlebt haben; sie erzählte aber, er hätte sie in dieser Nacht schon mehrmals herbeigerufen, um nach der Uhrzeit zu fragen, deshalb habe sie nicht mehr reagiert. Erst nach seinem Tod kam heraus, daß mein Vater in dieser Nacht öfters nach der Pflegerin geläutet hatte um sie dann anzubetteln, daß sie ihm erlaube, sie „anzuschauen, nur anzuschauen“. Alles klar? Seit diesem Zwischenfall waren nachts die Gitter oben und einmal bat er mich, nachdem er sich hingelegt hatte, die Gitter hinaufzuziehen. Ich tat so, aber war mir nicht im Klaren, ob sie in der oberen Position schon eingerastet waren und schaute genauer hin, um den Mechanismus zu verstehen, als er sagte: „das hast du falsch gemacht!“

Da ist in mir eindeutig etwas abgerissen und ich habe mich endgültig von ihm zurückgezogen. Ich trug ja in mir immer noch den Wunsch nach einer letzten Aussprache, wo wir uns voreinander wenigstens ein wenig öffnen können, wo so etwas wie, wie, … wie nenne ich das? … wie Versöhnung stattfinden kann, ansatzweise eine echte Begegnung. Wenn ich es ganz offen ausspreche – es war der Wusch nach so etwas wie, wie ... einen väterlichen Segen; daß er einmal in seinem Leben etwas sagt wie „es ist gut, daß du da bist“, oder „es war nicht leicht zwischen uns, ich wünsche dir aber alles Gute auf deinem Lebensweg“, irgendetwas in der Art. Jetzt, angesichts des Todes wenigstens. Nein, nichts. Ich hatte übrigens zu seinem siebzigsten Geburtstag von meiner Seite her sehr wohl genau das versucht, indem ich eine Rede gehalten hatte, wo ich meine „voreiligen“, in Wirklichkeit ohnehin sehr schaumgebremsten, von Verständnis triefenden Verurteilungen (Nazizeit) „kritisch“ in Frage gestellt habe, wo ich ihm meine Hand entgegen gestreckt habe. Die Rede ist bei ihm und den Zuhörern gut angekommen; die Hand hat er sozusagen ergriffen, aber nur, um sich hochzuziehen; von ihm ist nie irgendetwas Ähnliches gekommen, zum Beispiel, „ich habe dich in meinem Zorn oft ungerecht geschlagen (ich weiß, es gibt keine gerechten Schläge, aber das, wofür er mich offiziell geschlagen hat, habe ich gar nicht getan), das tut mir leid, ich wußte mir nicht anders zu helfen“, oder „ich habe es damals nicht besser gewußt“. Oder etwas Ähnliches. Nein, nichts. Gar nichts. Einfach gar nichts. Nichts. Nichts. Nichts. Oder irgendeine Anerkennung für irgendwas. Fehlanzeige, nichts. Nein. Ich hatte gehofft, daß die Nähe des Todes in ihm etwas öffnen könnte, ein Bedürfnis, sein Leben, seine Beziehungen in Ordnung zu bringen. Nein, nichts.
Daraufhin habe ich mit ihm abgeschlossen und bin nicht mehr an sein Sterbebett gekommen. Welches Schimpfwort mir damals eingefallen ist, weiß ich nichts mehr so genau, aber ungefähr „du kannst mich mal, du grober, unsensibler Klotz! Ist das alles, was du angesichts deines Todes zusammenbringst?“

Bei seinem Begräbnis waren sehr viele Leute, der Kameradschaftsbund hat geböllert, ein Stahlhelm am Sarg, aber das war mir schon völlig egal. Dort gehörte er ja dazu. Ich bin da nur so eine bestenfalls geduldete Randfigur.


Ich habe selber zwei Kinder und wenn sie einmal ihre Geschichten aufschreiben oder erzählen, ich vermute, diese werden nicht wesentlich anders ausschauen, als meine eigene, denn ich ahne, daß ich viel von dem an meine Kinder weitergegeben habe, was ich durch meine Eltern erlitten habe, wenn auch meistens in anderer Verkleidung. Ich wünsche ihnen sehr, daß sie ein Stück weiter kommen als ich, ein gutes Stück weiter, und daß sie hier auf Erden glücklich sein können.

Und wie es mir bei meinem eigenen Tod gehen wird, kann ich auch nicht wissen. Wir werden ja sehen.


















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

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