Samstag, 9. Juli 2016

397 Meine kleine Nazizeit

Ich schaue auf grüne Berge, Wiesen und Wälder hinaus, sonnenbeschienen und wolkenbeschattet, durch die offene Tür der kleinen Hütte.
Zwei Bäche rauschen.
Das Rauschen dieser zwei Bäche vereinigt sich mit dem Surren in meinen Ohren. Vorhin, als ich hinausgeschaut habe, war der Himmelsausschnitt, den ich vom Inneren der Hütte aus sehen konnte, von weißen Wolken bedeckt, jetzt, beim neuerlich durch die Tür geworfenen Blick, nachdem ich die paar Zeilen notiert hatte, ist dieser Himmelsausschnitt zur Hälfte blau. Aber die vorher leuchtenden Matten der Berghänge sind jetzt dunkel und stumpf.
Nun kommen die Rufe der spielenden Kinder dazu; und die Wolken haben bis auf ein paar blaue Reste wieder meinen gesamten Ausschnitt des Himmels erobert.

In meiner Seele ist es schwer, daran ändern die den Berghang heruntertanzenden Lärchen – die schlanken Stämme kahl, die Wipfel hellgrün, licht, und aus der Ferne zart - nur wenig, wie ein feines Ballett sind sie, nachdem sie sich in extremer Zeitlupe bewegen, kein unangebrachtes Herumgehopse. (Oder flüchten sie vor der dicht anrückenden Masse der dunklen Fichten nach oben? … Nein, dafür wirken sie zu leicht. Mein Mißtrauen meldet sich ständig.)

Ich bin froh, daß ich da draußen solche Leichtigkeit sehe, oder finde, oder vermute, oder erhoffe. Wenigstens draußen. Ja, es tut mir gut, diese Zartheit zu sehen, ich, mit meiner kleinen Nazizeit in meiner Seele, nach dem Krieg noch eingebrannt in die Kindheit. Schwer ist das. Sehr schwer. Wüste Verwirrung. Horche ich in mich hinein, ist das da: Leere, Nichts, Panik, Angst, Angst, Angst, Atemstillstand, Würgen, aufgerissene Augen, Brechreiz, Schutzlosigkeit … . Hausnummer 88.
Ich seufze tief und blicke wieder zu den zarten Lärchen hinaus und seufze wieder und lasse ein wenig los.

Jetzt werde ich gerufen, darf helfen; meine Hilfe kommt mir ganz gering und ganz spröd vor. Dann rede ich mit den Menschen. Da bin ich so aufgeregt, auf Augenhöhe zu reden steht mir nicht zu. Ich muß es trotzdem tun, oder so tun als ob. Ich bin ganz außer mir. Außer mir, den ich gar nicht kenne. Kein sicheres Basislager. Nach fünf Minuten dieser Anspannung – getarnt als vernünftige Ernsthaftigkeit – bin ich erschöpft. Mein sowieso schon ausweichender Blick verliert sich in der Ferne. Ich habe Angst und will flüchten. Ich höre nicht gut, verstehe schlecht, verliere den Faden; alles ist vom Alarm eingekreist. Bitte behandelt mich nicht gleichwertig, das halte ich nicht aus. Diese Fassade aufrecht zu erhalten geht über meine Kraft. Ich kann beim gemeinsamen Fundus/Essen/Einkaufen/Agieren … nicht mithalten, ich bin wirtschaftlich, finanziell, sozial, was die Lebenstüchtigkeit betrifft nicht potent genug. Ich kann eure Einladungen nicht erwidern, denn ich habe kein Haus, kein Revier, kein Reich, kein Vermögen, kein Ich.

Ich gehe weg. Gehe in die Hütte zurück, zu meinem Notizbuch. Das wird mich retten.

Ich lege Holz nach. Das Herdfeuer brennt auf. Drei junge Kälber tollen auf der Wiese herum. Die Abenddämmerung kehrt allmählich ins Hochtal ein. (Kann ich solchen Bildern trauen?) Ich trete vor die Hütte und schaue mich um. (In der Hütte stinkt es nach angebrannter Milch, weil ich beim Schreiben auf den Topf Milch vergessen habe, den ich auf den Herd gestellt hatte.) Daran kann mich jetzt niemand hindern, auch meine inneren Gespenster nicht.

Jetzt weiß ich, was der Alarm sagt: Das ist eine Situation, wo das Ich (ein Mann, der Souverän, der freie Bürger, ein freier Mensch, jemand) Rede und Antwort steht. Aber bei dir, da ist kein freier Mensch, da ist keiner, da ist nichts, da ist niemand. Wie willst du dann die Situation bestehen? Sie werden es merken, daß da nichts ist und dann ist es aus.


Ich gehe wieder hinaus vor die Hütte und schaue mich auf der Alm um. Meine Hände habe ich auf der Balustrade aufgestützt, und diese Geste, diese Haltung verleitet mich zu phantasieren, ich wäre jemand, ich besitze dieses Land und lasse meinen Blick über meine Wiesen und Weiden schweifen, über meine Kühe und Kälber, meine Wälder. Ich habe das alles von meinen Vorfahren übernommen und habe es gepflegt und gestaltet und pflege und gestalte es weiter. Ich habe mich und mein Anwesen behaupten können, habe es zum Blühen gebracht, habe mein Werk gut getan. Bald werde ich es an meine Kinder weitergeben. Meinem stolzen und zufriedenem Blick ist ein wenig Wehmut beigemischt, ein leichter Abschiedsschmerz, aber kein bösartiger. Ich habe ja meinen Kindern aus meiner Fülle diese Fülle des Lebens weitergegeben und mein Erbe wird in guten Händen sein. Ich werde mich zurückziehen und mich an ihrem Aufblühen erfreuen. Ich werde meine Augen an dieser schönen Welt weiden und wenn ich sterbe, werde ich sie alle segnen.

In den Abend hinein bricht jetzt durch die Wolken noch ein später Sonnenfleck durch und läßt eine kleine Stelle an diesem Berghang da oben aufleuchten.
















©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

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