397 Meine kleine Nazizeit
Ich schaue auf grüne Berge, Wiesen und Wälder hinaus,
sonnenbeschienen und wolkenbeschattet, durch die offene Tür der kleinen Hütte.
Zwei Bäche rauschen.
Das Rauschen dieser zwei Bäche vereinigt sich mit dem Surren
in meinen Ohren. Vorhin, als ich hinausgeschaut habe, war der
Himmelsausschnitt, den ich vom Inneren der Hütte aus sehen konnte, von weißen
Wolken bedeckt, jetzt, beim neuerlich durch die Tür geworfenen Blick, nachdem
ich die paar Zeilen notiert hatte, ist dieser Himmelsausschnitt zur Hälfte
blau. Aber die vorher leuchtenden Matten der Berghänge sind jetzt dunkel und
stumpf.
Nun kommen die Rufe der spielenden Kinder dazu; und die
Wolken haben bis auf ein paar blaue Reste wieder meinen gesamten Ausschnitt des
Himmels erobert.
In meiner Seele ist es schwer, daran ändern die den Berghang
heruntertanzenden Lärchen – die schlanken Stämme kahl, die Wipfel hellgrün,
licht, und aus der Ferne zart - nur wenig, wie ein feines Ballett sind sie,
nachdem sie sich in extremer Zeitlupe bewegen, kein unangebrachtes
Herumgehopse. (Oder flüchten sie vor der dicht anrückenden Masse der dunklen
Fichten nach oben? … Nein, dafür wirken sie zu leicht. Mein Mißtrauen meldet
sich ständig.)
Ich bin froh, daß ich da draußen solche Leichtigkeit sehe,
oder finde, oder vermute, oder erhoffe. Wenigstens draußen. Ja, es tut mir gut,
diese Zartheit zu sehen, ich, mit meiner kleinen Nazizeit in meiner Seele, nach
dem Krieg noch eingebrannt in die Kindheit. Schwer ist das. Sehr schwer. Wüste
Verwirrung. Horche ich in mich hinein, ist das da: Leere, Nichts, Panik, Angst,
Angst, Angst, Atemstillstand, Würgen, aufgerissene Augen, Brechreiz,
Schutzlosigkeit … . Hausnummer 88.
Ich seufze tief und blicke wieder zu den zarten Lärchen
hinaus und seufze wieder und lasse ein wenig los.
Jetzt werde ich gerufen, darf helfen; meine Hilfe kommt mir
ganz gering und ganz spröd vor. Dann rede ich mit den Menschen. Da bin ich so
aufgeregt, auf Augenhöhe zu reden steht mir nicht zu. Ich muß es trotzdem tun,
oder so tun als ob. Ich bin ganz außer mir. Außer mir, den ich gar nicht kenne.
Kein sicheres Basislager. Nach fünf Minuten dieser Anspannung – getarnt als
vernünftige Ernsthaftigkeit – bin ich erschöpft. Mein sowieso schon
ausweichender Blick verliert sich in der Ferne. Ich habe Angst und will
flüchten. Ich höre nicht gut, verstehe schlecht, verliere den Faden; alles ist
vom Alarm eingekreist. Bitte behandelt mich nicht gleichwertig, das halte ich nicht
aus. Diese Fassade aufrecht zu erhalten geht über meine Kraft. Ich kann beim
gemeinsamen Fundus/Essen/Einkaufen/Agieren … nicht mithalten, ich bin
wirtschaftlich, finanziell, sozial, was die Lebenstüchtigkeit betrifft nicht
potent genug. Ich kann eure Einladungen nicht erwidern, denn ich habe kein
Haus, kein Revier, kein Reich, kein Vermögen, kein Ich.
Ich gehe weg. Gehe in die Hütte zurück, zu meinem Notizbuch.
Das wird mich retten.
Ich lege Holz nach. Das Herdfeuer brennt auf. Drei junge
Kälber tollen auf der Wiese herum. Die Abenddämmerung kehrt allmählich ins
Hochtal ein. (Kann ich solchen Bildern trauen?) Ich trete vor die Hütte und
schaue mich um. (In der Hütte stinkt es nach angebrannter Milch, weil ich beim
Schreiben auf den Topf Milch vergessen habe, den ich auf den Herd gestellt
hatte.) Daran kann mich jetzt niemand hindern, auch meine inneren Gespenster
nicht.
Jetzt weiß ich, was der Alarm sagt: Das ist eine Situation,
wo das Ich (ein Mann, der Souverän, der freie Bürger, ein freier Mensch, jemand)
Rede und Antwort steht. Aber bei dir, da ist kein freier Mensch, da ist keiner,
da ist nichts, da ist niemand. Wie willst du dann die Situation bestehen? Sie
werden es merken, daß da nichts ist und dann ist es aus.
Ich gehe wieder hinaus vor die Hütte und schaue mich auf der
Alm um. Meine Hände habe ich auf der Balustrade aufgestützt, und diese Geste,
diese Haltung verleitet mich zu phantasieren, ich wäre jemand, ich besitze
dieses Land und lasse meinen Blick über meine Wiesen und Weiden schweifen, über
meine Kühe und Kälber, meine Wälder. Ich habe das alles von meinen Vorfahren
übernommen und habe es gepflegt und gestaltet und pflege und gestalte es
weiter. Ich habe mich und mein Anwesen behaupten können, habe es zum Blühen
gebracht, habe mein Werk gut getan. Bald werde ich es an meine Kinder
weitergeben. Meinem stolzen und zufriedenem Blick ist ein wenig Wehmut
beigemischt, ein leichter Abschiedsschmerz, aber kein bösartiger. Ich habe ja
meinen Kindern aus meiner Fülle diese Fülle des Lebens weitergegeben und mein
Erbe wird in guten Händen sein. Ich werde mich zurückziehen und mich an ihrem
Aufblühen erfreuen. Ich werde meine Augen an dieser schönen Welt weiden und
wenn ich sterbe, werde ich sie alle segnen.
In den Abend hinein bricht jetzt durch die Wolken noch ein
später Sonnenfleck durch und läßt eine kleine Stelle an diesem Berghang da oben
aufleuchten.
©Peter Alois Rumpf Juli
2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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