Samstag, 9. Juli 2016

399 Bald wird die Sonne aufgehen

Bald wird die Sonne aufgehen. Das Leuchten der Berge rückt immer näher zu den Almwiesen herunter. Mit der zuversichtlichen Botschaft aus den Weiten des Universums vergangene Nacht verspricht das ein guter Tag zu werden. Aufstehen noch in der kalten Morgendämmerung, den Herd einheizen, Tee und Haferbrei kochen – das Obst waschen und in Stücke schneiden, zum Brei geben, umrühren, noch weiterköcheln lassen. Fröhliche Stille, in der alle Tätigkeit, alle Abläufe selbstverständlich von der Hand gehen.

Die Gedanken treiben sich nun herum und malen sich Geschichten vom Gelingen aus. Irgendetwas in mir will mißtrauisch werden. Ich registriere das, aber lasse mir den Frieden nicht stören. Wenn es wieder schief geht, dann ist es dafür immer noch früh genug.

Die Hütte ist inzwischen schon warm, das brennende Holz knackt im Herd. Der Wald und die Wiese dort drüben am steilen, westlichen Berghang leuchten bereits, bald wird das Sonnenlicht hier sein, höchstens zehn Minuten. (Verschätzt, es hat zwanzig Minuten gedauert.) Die zum Trocknen über dem Herd aufgehängten Geschirrtücher schaukeln in der aufsteigenden Wärme; es ist Zeit, Holz nachzulegen. Ich zählte um sechs Uhr früh sechs Kondenzstreifen am Himmel.

Die Gedanken … ich interessiere mich nicht für E-Bikes, nicht für das Neueste am IT-Markt, auch kaum für die neuesten Serien, mein Politgerede dient mehr der Tarnung. Ich bin immer noch bei den Grundlagen. Mit Grundlagenforschung bin ich beschäftigt – wie kann man/darf man/muß man existieren? Wie ist die Existenz begründbar? Wie kann sie gerechtfertigt werden? Wer oder was stellt sie in Frage? Wie fühlt sich das an? Was ist der Mensch wirklich? Wieso … das scheint meine Arbeit zu sein. Sonst habe ich nichts zu tun.

Es ist Nachmittag. Die Gedanken … warum soll ich mein kleines, befristetes Hüttenreich aufgeben? Meinen bescheidenen, vorübergehenden Hausstand auflösen? Ich bin doch froh, daß ich dieses kleine Wirkungsfeld knapp eine Woche genießen kann. Ich ordne mir die Welt, sortiere das Geschirr ungefähr nach Verschmutzung, bevor ich es abwasche, richte alles dafür her, bereite alles vor, mache Platz zum Abtropfen frei, das Wasser am Herd ist heiß, ich wasche ab, lege das Geschirr auf, trockne ab, zum Schluß hänge ich die nassen Geschirrtücher über den Herd. Dann sitze ich in der Hütte und gehe nicht hinaus.

Es ist späterer Nachmittag. Die Tische sind umgestellt. Küchentisch zur Essecke. So! So ist es richtig. Das weiß ich. Ich schaue an diesem Küchentisch sitzend zur Hüttentür hinaus. Plötzlich ist der Wald so plastisch, die Bäume sind einzelne Figuren, die mich anstarren, klar unterscheidbar, aber dennoch eine dicht stehende Masse. „Der Kaiser schickt Soldaten aus ...“ Immer, wenn ich hinschaue, bewegen sie sich nicht, aber sie scheinen bloß – wie es dem Spiel entspricht – kurz in ihren Bewegungen innegehalten zu haben, kurz erstarrt, und warten darauf, daß ich wieder wegschaue, um ein paar Zentimeter, oder nur Millimeter näher zu rücken. Noch fürchte ich mich nicht vor euch. Vielleicht fürchte ich mich überhaupt nicht vor euch. Gar nicht. Wir werden es sehen.

Am Berghang ganz hinten im Osten kommen unzählige Bäume herunter, sie rücken nach, in losen Gruppen, vereinzelt, in dichten Blocks und Konglomeraten, manchmal aber fast in Reih und Glied. Eine riesige Zeitlupenwelle.
Ich habe Zeit. Die Tür steht offen. Da! Der Baum dort, in der zweiten Reihe, schreitet wirklich aus! Der Zaun wird sie nicht aufhalten.













©Peter Alois Rumpf    Juli 2016                 peteraloisrumpf@gmail.com

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