399 Bald wird die Sonne aufgehen
Bald wird die Sonne aufgehen. Das Leuchten der Berge rückt
immer näher zu den Almwiesen herunter. Mit der zuversichtlichen Botschaft aus
den Weiten des Universums vergangene Nacht verspricht das ein guter Tag zu
werden. Aufstehen noch in der kalten Morgendämmerung, den Herd einheizen, Tee
und Haferbrei kochen – das Obst waschen und in Stücke schneiden, zum Brei
geben, umrühren, noch weiterköcheln lassen. Fröhliche Stille, in der alle
Tätigkeit, alle Abläufe selbstverständlich von der Hand gehen.
Die Gedanken treiben sich nun herum und malen sich
Geschichten vom Gelingen aus. Irgendetwas in mir will mißtrauisch werden. Ich
registriere das, aber lasse mir den Frieden nicht stören. Wenn es wieder schief
geht, dann ist es dafür immer noch früh genug.
Die Hütte ist inzwischen schon warm, das brennende Holz
knackt im Herd. Der Wald und die Wiese dort drüben am steilen, westlichen
Berghang leuchten bereits, bald wird das Sonnenlicht hier sein, höchstens zehn
Minuten. (Verschätzt, es hat zwanzig Minuten gedauert.) Die zum Trocknen über
dem Herd aufgehängten Geschirrtücher schaukeln in der aufsteigenden Wärme; es
ist Zeit, Holz nachzulegen. Ich zählte um sechs Uhr früh sechs Kondenzstreifen
am Himmel.
Die Gedanken … ich interessiere mich nicht für E-Bikes,
nicht für das Neueste am IT-Markt, auch kaum für die neuesten Serien, mein
Politgerede dient mehr der Tarnung. Ich bin immer noch bei den Grundlagen. Mit
Grundlagenforschung bin ich beschäftigt – wie kann man/darf man/muß man
existieren? Wie ist die Existenz begründbar? Wie kann sie gerechtfertigt
werden? Wer oder was stellt sie in Frage? Wie fühlt sich das an? Was ist der
Mensch wirklich? Wieso … das scheint meine Arbeit zu sein. Sonst habe ich
nichts zu tun.
Es ist Nachmittag. Die Gedanken … warum soll ich mein
kleines, befristetes Hüttenreich aufgeben? Meinen bescheidenen, vorübergehenden
Hausstand auflösen? Ich bin doch froh, daß ich dieses kleine Wirkungsfeld knapp
eine Woche genießen kann. Ich ordne mir die Welt, sortiere das Geschirr
ungefähr nach Verschmutzung, bevor ich es abwasche, richte alles dafür her,
bereite alles vor, mache Platz zum Abtropfen frei, das Wasser am Herd ist heiß,
ich wasche ab, lege das Geschirr auf, trockne ab, zum Schluß hänge ich die
nassen Geschirrtücher über den Herd. Dann sitze ich in der Hütte und gehe nicht
hinaus.
Es ist späterer Nachmittag. Die Tische sind umgestellt.
Küchentisch zur Essecke. So! So ist es richtig. Das weiß ich. Ich schaue an
diesem Küchentisch sitzend zur Hüttentür hinaus. Plötzlich ist der Wald so
plastisch, die Bäume sind einzelne Figuren, die mich anstarren, klar unterscheidbar,
aber dennoch eine dicht stehende Masse. „Der Kaiser schickt Soldaten aus ...“ Immer,
wenn ich hinschaue, bewegen sie sich nicht, aber sie scheinen bloß – wie es dem
Spiel entspricht – kurz in ihren Bewegungen innegehalten zu haben, kurz
erstarrt, und warten darauf, daß ich wieder wegschaue, um ein paar Zentimeter,
oder nur Millimeter näher zu rücken. Noch fürchte ich mich nicht vor euch.
Vielleicht fürchte ich mich überhaupt nicht vor euch. Gar nicht. Wir werden es
sehen.
Am Berghang ganz hinten im Osten kommen unzählige Bäume
herunter, sie rücken nach, in losen Gruppen, vereinzelt, in dichten Blocks und
Konglomeraten, manchmal aber fast in Reih und Glied. Eine riesige
Zeitlupenwelle.
Ich habe Zeit. Die Tür steht offen. Da! Der Baum dort, in
der zweiten Reihe, schreitet wirklich aus! Der Zaun wird sie nicht aufhalten.
©Peter Alois Rumpf Juli
2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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