Donnerstag, 29. September 2022

2908 Das Leben ist erwacht

 

8:06 a.m. Das Leben in der unteren Etage ist schon erwacht, spricht aus dem Smartphone, hat anscheinend Durchfall und die Lichter explodieren. Hier heroben bei mir hat es in der einen Version eine Packung unverdorbener Nüsse völlig desorientiert und weltfremd – die Kassierin schaut schon – in den Trichter des Supermarkt-internen Müllentsorgers geworfen, nur weil es die falsche Packung herausgenommen hatte. Und in der anderen Version mußte es auch auf das Klo. Jetzt aber kehrt auch von unten her wieder Stille ein. Eine Stille, von der man schon weiß, dass es zwei Häuser weiter eine Baustelle gibt und ganz unten Straßen. Eine Stille, die von leichtem Regen wirksam unterstützt wird.

Ich bin entspannt, nur meine linke Hand muß ich – wie so oft – extra entkrampfen. Meine zwei Visionäre an der Wand sind heute richtig fröhlich und lächeln. Zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten sind sie viel ernster und in ihre Visionsarbeit vertieft und eingespannt. Keine Zeit, die Alltagswelt anzulächeln. Wenn das, was auf ihren Lippen ist, lächeln sein soll, dann richtet es sich auf die andere Welt.

Die Unmittelbarkeit ist in diesem dämmrigen, halbwegs stillen Zimmer ganz nah. Aber nur für eine kleine Weile. Dann hat sich mein Geist wieder in Phantasien über eine angeblich – so meine Phantasie – drohende Obdachlosigkeit verfangen.

 

(29.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

 

2907 Rėsumė

 

2:14 a.m. Einen letzten Blick vorm Schlafen lasse ich mein Zimmer auf mittlerer Höhe (zu Boden und an den Plafond schaue ich nicht) umkreisen. Und geschlossen ist der Kreis auch nicht: er beginnt an meinem linken Jochbein und geht gerade noch – weil da schon verdunkelt – bis zum rechten Jochbein.

Ich blättere auf eine leere Seite um, um mit der Leere etwas, irgendetwas anzulocken. Was ich bemerke, ist unsichtbarer dunkler Nebel, der Korpuskel meines Blickes verschluckt. Mein Blick kommt nur verdünnt an. Dadurch wird auch das Wahrgenommene unbestimmter und weniger robust. Keine schlechte Vorbereitung auf das Schlafen. Ich gähne schon. Ein letzter Gang ins Bad. Im Bett noch, bei abgedrehtem Licht, ein kurzes Tagesresrėsumė. Das war's dann.

 

(29.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 28. September 2022

2906 Mission Augarten

 

Im Augarten, da habe ich ein wenig für meinen klandestinen Garten am Donauufer gearbeitet, indem ich von den Gartenblumen Samen abgepflückt habe. Jetzt ruhe ich auf einer Bank in der zweiten Reihe und versuche, irgendetwas aufzuschnappen, herzunehmen, aufzugreifen. Der Himmel ist weit und bewölkt, die Luft erstaunlich lau und ein wenig feucht. Die Alleen wie lange, grüne Tunnel. Die Blumenpracht auf dem großen Platz ist üppig. Ein wenig Sonne kommt durch, genug, dass mein Pilotstift einen Schatten wirft. Ich gehe weiter; mit meinem Ruhen ist es nicht weit her.

Ich bin herumgegangen, hab ein paar Gedanken angefangen, nun sitz ich wieder, aber das alles funktioniert nicht recht. Ein paar Photos, dann gehe ich heim. Eine Krähe hat mich angesprochen, aber ich habe sie nicht verstanden.

Heimgehen: das ist ja alles kein Problem! Wenn ich zu Hause bin: Mittagessen (jetzt ist es 16:23), ein wenig tippseln, Schublade, Facebook, Zeit im Bild, Krimis, Lesen (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen II und im Plotin herumblättern), alles kein Problem! Ich habe meinen Abstellgleisstatus akzeptiert. Oder kann ich mich doch noch ein wenig eingewöhnen und im Augarten bleiben? Ein paar Photos von der Mauer nicht vergessen. Die ausgedünnte weiße Tünche und das Rot der Ziegel ist eine schöne Kombination.

Oh! Jetzt! Eine schöne, zufällige Begegnung! (Die Bonusenkelkinder und ihre Mama, sowie meine Tochter, sie kommen mit den Radeln soeben vorbei.) Das war's! Mission Augarten erfüllt. Ich glaube wieder an die Magie im Leben.

 

(28.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2905 Im Traum bin ich wo?

 

10:37 a.m. Im Traum bin ich wo? Ich könnte glauben, ich bin bei den anorganischen Lebewesen. Ich meine: nicht ihre Scouts kommen mich im Traum besuchen, sondern ich besuche sie in ihrem Hauptquartier. Was ich in den Träumen sehe, erinnert mich stark an deren architektonischen Strukturen, nur vage ins Irdische umgebildet. Aber das kann nicht sein!

Ein schöner Regentag mit seiner willkommenen Musik. (Ich entkrampfe meine linke Hand. Gerade eben ist es mir aufgefallen, dass ich sie wie so oft verkrampft halte.) Nun, Musik ist es ja eigentlich nicht, aber wie kann ich die monotonen Geräusche als halbwegs natürliches (nicht ganz natürlich: die Regentropfen fallen ja von artifiziellen Dächern) Gesamtkunstwerk benennen? Sprache! Welchen Begriff gibst du dafür her?

 

(27.(28.).9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2904 Heulen

 

1:59 a.m. In letzter Zeit heule ich gern. Immer nur kurz; kurzes, mehrmaliges „Aufstessen“, die Augen füllen sich mit Tränen oder es rinnen sogar einige die Wangen hinunter – dann ist es vorbei. Dass ich beim Anschauen eines Krimis, wo der Vater zum jugendlichen Sohn sagt „Ich liebe dich“ und der Sohn zum Vater „ich liebe dich“, weine, das kann ich leicht verstehen. Schwerer mit dem Verstehen tu ich mir schon mit meiner Flennerei bei einem ORF-III-Beitrag über den Karlsplatz, wo der Hohenlohe mit einem Stadthistoriker über den Platz, pardon: die Gegend spricht. Gell, das ist eigenartig. Gut, ich kann schon ein paar persönliche Bezüge finden.

Ich bin so entspannt nach diesem inneren Gekicher über die Karlsplatztränen, dass mir sogar meine nackten Kunstkarten wieder gefallen.

3:09 a.m. Ich gehöre zu jenen Unglücklichen (?), die im ganz Konkreten nie wissen, was was ist; nicht, was richtig und falsch und auch nicht was gut und was schlecht ist. Ja, die sogar vermuten, dass sie es nicht wissen können. Vielleicht sogar, dass es mit irdischen Mitteln nicht gewusst werden kann.

 

(27.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 26. September 2022

2903 Belästigung

 

1:00 a.m. Habe ich etwas zu sagen? Oder schreibe ich nur, weil es zu meinem Abendritual gehört? Das ist eine wichtige Frage! Denn wenn ich nichts zu sagen habe, ist es Belästigung und hätte zu unterbleiben. Es unterbleibt aber nicht.

 

(26.9.2022)

 

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2902 Am Georgenberg

 

Jetzt sitze ich da am Georgenberg, vor Wotrubas Monumentalkirche und weiß nichts zu sagen. Auch hier gilt der Baustellenlärm. Der darf semper et ubique. Immer und überall. Urbi et Orbi. In Stadt und Land, im Zentrum und an der Peripherie. Widerhallgeshattertes Gelächter klingt furchtbar, wenn es auf hähähähä hämisch geht. Ich geh noch ein wenig herum.

Windgeschützt auf warmen Beton habe ich das Wäldchen vor mir. Das Gebüsch. Im Gras war noch Tau. Ich lasse mein Bewußtsein vom genius loci einfangen. Das hier ist ein magischer Ort, vielleicht aber auch aus der Nazizeit verseucht, aber ich schau mir das an und die lokalen Geister dürfen sich zeigen. Oder sich akustisch melden. Es zeigen sich aber bloß Wanderer und „Touristen“. Wie ich es bin. Eine kleine weiße Wolke drängt sich auf. Ich huste. Ein Flugzeug (aus München?) stößt in die Wolke. Diese reißt auf und zerfällt in zwei Teile. Dreifaltigkeitskirche – glaube ich. Wo ist der Vater? Wo ist der Sohn? Wo ist der HaEl Geist? Den Bauern haben wir via Georg (Georgenberg) auch noch da, den Erdbearbeiter, den Motherfucker.

Die Brise rieselt mir nun kalt in den Kragen und den verschwitzten Rücken hinunter. Eine Warnung? Die Wolke ist verschwunden. Aufgelöst. „Und der Ort, wo sie stand, er hat sie vergessen.“

Gut, gemma wieder, bevor ich komplett unterzuckert sein werde. Wir haben einen weiten Weg nach Hause.

 

(23./26.9.2022)

 

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2901 Selbsteselskarottierung

 

7:49 a.m. „I believe in you!“ Tapfer, wenn man wie James Blood Ulmer noch in das People vertrauen kann. Und das in aller Herrgottsfrüh. Ich könnte aufstehen, duschen, frühstücken und rausgehen. Wohin ist egal; es geht ja nur um Selbstbeschäftigung und Selbsteselskarottierung. Naja, und um ein paar neue Eindrücke. Wird es regnen? Ich habe keine richtigen Wanderschuhe mehr. Welche kaufen? Kauf und Museum kombinieren? Verdammt, was ist los mit mir?

(23.9.2022)

(Nachtrag 26.9.2022: Geworden ist es eine Wanderung außen entlang an der Mauer des Lainzer Tiergartens – die Markwart-armer-Schlucker-Wotruba-Tour - in meinen Laufschuhen.)

 

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2900 Von Vorne

 

1:56 a.m. Die letzten Stunden des Sommers. Sommer! Es ist arschkalt (Wahlempfehlung für vdB?). Aber mein Mali-Lošinj-Bild stellt jetzt etwas ganz anderes dar. Wie ein Vexierbild hat es sich verwandelt und zeigt eine moderne Brücke über einem flachen Feld – glaube ich. Und auf der Stirnseite eines Regalbrettes sah ich eine Lichterkette. Ach, meine Schreiberei! Kann ich sie ernst nehmen? Darf ich sie ernst nehmen? Manchmal ja, dann irritiert mich etwas oder jemand und schnell heißt es dann: nein! Wie ich Menschen mit Selbstbewußtsein und Urteilskaft bewundere! Manchmal beneide ich sie, wenn ich vor den Trümmern meine mühsam aufgebauten Sicherheiten stehe und wieder von vorne beginnen muß. Aber nicht mehr heute. Jetzt ist Feierabend.

 

(23.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 22. September 2022

2899 Baustelle

 

8:12 a.m. An der Baustelle zwei Häuser weiter wird gebohrt. Einmal hektisch wie beim Zahnarzt, gleichzeitig tiefer (im Geräusch), getragen, majestätisch, kontinuierlich, gleichmütig, fast feierlich. Ich entkrampfe meine linke Hand und seufze auf. Der Morgen war gut und ausgeschlafen, mein Assoziationsstrudel jedoch stürzt mich nun in tiefe Trauer. Ich versuche, meine Gedanken zu beherrschen, aber die Stimmung ist gekippt. Das war jetzt nicht notwendig. Neben der kontinuierlichen Majestätsvariante setzt wieder das höhere, kreischendere, hektischere „Zahnarztbohren“ ein. Mein Ausflug gestern wurde nicht richtig abgespeichert – er bleibt ein irreales Erinnerungsstück. Meine Seele braucht gründlicheres Reisen. Es wird Zeit, die Heizung wieder einzuschalten, aber ich fürchte die Kosten. Wie wäre es mit flachlegen, gut zudecken und einfach wieder einschlafen, und somit das gedankliche, seelische Chaos sowie diesen chaotischen Text schlichtweg zurückzulassen?

11:46 a.m. Ach! Wie sich Mali Lošinj bewegt! Wie es sich in Rettenschoess abspielt! Ebenso in den anderen Bildern da oben. Ich glaube, meine Seele kehrt wieder zurück. Gleich atme ich tief ein, auf und aus. Das Licht ändert sich. Gebohrt wird immer noch. Und pressluftgehämmert. Jetzt kehrt auch der Hunger zurück. Jetzt kann ich aufstehen.

 

(22.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

 

2898 Meine liebe Seele

 

0:00 a.m. Völlig erschöpft zu Hause. Müde und aufgekratzt. An einem Tag nach Graz und wieder zurück ist meiner Seele zu viel und zu schnell. Der Besuch in der Stadt hat nicht ausklingen können. Schon vorher: noch gar nicht richtig aufgenommen, was da ist: Sound, Gerüche, Wärme, Kälte, Luft, Farben, Strukturen … Gesichter und Gestalten. Ich habe mich nun in Bett gelegt und versuche mich mit lesen abzulenken. Meine liebe Seele! Sei mir bitte nicht böse; ich habe es nicht so vorgehabt.

 

(22.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2897 Die Mur ist ein ordentlicher Fluß!

 

Langsam werde ich – während ich hier in Graz auf die Pizza warte – vom alkoholfreien Bier betrunken. Am Bahnhof. Eine richtige Alter-Mann-Reise mit dem Zug. Auch meine Erwartungen sind die eines alten Mannes. Und glücklich, dass ich mich ein bißchen rühren kann (Klimabonus).

Ein ganzer Haufen Jugendlicher – ich nehme an eine Schulklasse – spielt im Volksgarten (Graz!) „Zimmer-Küche-Kabinett“. Und in einem anderen Winkel duftet, riecht, stinkt es nach Hanf. Es ist so zirka drei Uhr nachmittags.

Es ist laut hier, aber vom Rauschen der Mur. Wild und wunderbar übertönt sie den Straßenlärm über mir und am anderen Ufer problemlos, spielend, fast völlig, nur ab und zu ist das Gasgeben eines Lastkraftwagens wie von Ferne und komplett gedämpft zu vernehmen. Die Mur ist ein ordentlicher Fluß! (auf diese Aussage hat sie sicherlich schon lange gewartet.) Nur auf der Fußgänger- und Radfahrerbrücke kracht es noch lauter, wenn sie frisch betreten oder befahren wird.

Beeindruckendes Glockenspiel am Mariahilferplatz (Graz!); fast zehn Minuten lang. Und ein vierstrahliger Springbrunnen direkt aus dem Boden heraus (Heiligste Dreifaltigkeit und Maria? Weil ein Strahl ist zwar so stark wie der Vaterstrahl, aber viel kleiner).

Die Vernissage.

Und schon im Zug nach Hause. Das ist enttäuschend. Ich dachte, ich könnte Freunde treffen. In Graz bin ich auch nichts mehr und die Hotels – so behaupten sie – sind voll. Viel Lärm um wenig. Gut. Nächtliche Zugfahrt und nicht einmal ein Fensterplatz. Die Silhouetten der Bäume, Hügel und Berglein kann ich ahnen. Nicht einmal meine Visage spiegelt sich g'scheit im gangseitigen Abteilfenster, da bemustert. „Gar nichts“ steht auf meinem T-Shirt unter meinem Hemd und meint mich. Am selben Tag hin und zurück – das geht meiner Seele eindeutig viel zu schnell. Was mach ich mit dem angebrochenen Abend? Zug fahren! Was sonst! Ich fürchte mich vor dem Ankommen. Ich bin noch nicht bereit dafür. Vielleicht zermürbt mich die lange Zugfahrt (So lang ist sie auch wieder nicht). Ich habe mich ganz umsonst aufgebrezelt; Schmuck und so. Gottseidank ist es sich mit den Zöpfen nicht ausgegangen! Aber wer weiß? Vielleicht hätten die den Umschwung gebracht?

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der schönste Coupéplafond im Land. Slowenisches Design, nicht so schlecht. Nur die gutgemeinte Gangfensterbemusterung stört mich, weil ich nicht hinausschauen kann. Der Zug jagt dahin, Richtung ewige Jagdgründe. Der Zug beschleunigt. Wo immer ich hingerast werde: ich möchte sehen. Ich hasse Blindflug. Das Vibrieren, Rütteln und Zittern der Geschwindigkeit lassen meinen Pilotstift verrutschen.

Waren die Hotels mitten in der Woche wirklich ausgebucht? Oder hatten die alle etwas gegen mich? Wirke ich schon so heruntergekommen? Ich bin ja ein Dalit. Dabei habe ich mich am Morgen eh geduscht und frisch mich bekleidet. Oder wollen die ihre Gäste vorher noch durchchecken? Dedektivische Untersuchung und polizeiliches Leumundzeugnis abgefragt und Bankkonto? Natürlich illegal. Die richten es sich. Oder hätte ich den Rezeptionisten einen Hunderter rüberschieben müssen? Ansage Bruck an der Mur. Aus Frust ins Zugrestaurant? Geld rausschmeißen? Als Konsument bist ein bisserl was. Offiziell gibt es bei uns keine Dalits (Und die Minoriten sind es nicht mehr wirklich). Austesten. Und? Genug gejammert? Genug gejammert! Genug Selbstmitleid und Selbstüberschätzung? Genug Selbstmitleid und Selbstüberschätzung! Genug der haltlosen Unterstellungen und boshaften Projektionen? Genug der haltlosen Unterstellungen und boshaften Projektionen! Auf ins Restaurant! Offiziell gibt es bei uns keine Dalits. Lassen wir es darauf ankommen.

Im Zugrestaurant sticht mich plötzlich der rechte Mittelfinger – was immer das zu bedeuten hat. Und es brummt, scheppert und vibriert. Das zweite alkoholfreie Bier des Tages wird mich niedermachen. So schlecht schaue ich in der Fensterspiegelung nicht aus, jedenfalls recht intellektuell mit der dickrandigen Brille. Ich mache ein Photo von meiner Spiegelung. Photo gemacht. Gestärkt von Frankfurter mit Senf und Semmel blicke ich selbstbewußter in die Finternis, die am Fenster vorbeirast. Finsternis mit gelegentlichen Lichtpunkten überlagert von Spiegelungen auf der Fensterscheibe. Wir sind schon in Mürzzuschlag. Als Zuschlag gibt es noch Kapučino – wir sind in einem slowenischen Speisewagen. „Zimmer, Küche, Kabinett“ und „Der Kaiser schickt Soldaten aus“ - den Unterschied zwischen den Spielen habe ich vergessen. Der Kaffee schmeckt – wie im Zug zu erwarten – nicht gut. Der Zug fängt schon leicht zu keuchen an: bergauf auf den Semmering. Ich gebe Zucker in den Kaffee, was ich seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht habe. In dubio pro reo. Übrigens: mein Kreuz hat mich den ganzen Tag schon sekkiert (bin ich froh, dass bei Gericht noch ein Kruzifix dasteht. Steht das noch dort?). Ich zahle und gehe zurück zu meinem Platz, wenn er noch da ist.

Mein übermäßiges Trinkgeld. Womit ich den Kellner in Nachhinein besteche, dass er mir nichts antut und so tut, als wäre ich kein Dalit, sondern ein normaler Gast. Auch dann gebe ich es, wenn er mich über den Tisch gezogen hätte oder sonstwie übervorteilt hätte (zB beim Kaffeepulver gespart), egal, wenn ich es überhaupt bemerkt hätte. Aber dafür sitze ich jetzt in einem leere Coupé am Fenster, werde gleich das Licht abdrehen und in die lichtdurchbrochene Finsternis starren. Amen.

Übrigens: wenn Grazer, vor allem aber Grazerinnen „Keplerstraße“ sagen, klingt das wie keppeln. Shame on you, Graz! Ich sehe schwach beleuchtete Nebel draußen. Muß kurz vor Wiener Neustadt sein. Auch die näheren Straßenlampen halten sich einen Lichthof.

Der Zug rumpelt sich in den Bahnhof und zum Halt ein. Im Gegenzug ist Licht. Auch der steht jetzt. Er fährt gen Slowenien. Nein, er kommt aus Prag und fährt nach Graz, wie ich es bei seiner Abfahrt derlesen kann. Die drüben haben das gleiche Abteildesign und fahren gar nicht nach Slowenien? Ich weiß es aber, dass das slowenische Waggons sind. Auf in die Maria-Theresianischen Föhrenwälder; wir fahren wieder. Mein Kopf wackelt schon willenlos im Fahrtenrhythmus. Dunkle Baumsilhouetten, kaum mehr Licht – außer das gespiegelte Ganglicht. Und der Zug fährt durch die Nacht, durch die (nicht ganz so) fremde, dunkle Nacht … die Nacht meiner Seele dauert schon verdammt lang. Im rüttelnden schüttelnden Zug im Dunkeln schreiben ist auch nicht so leicht! (So, jetzt wißt ihr es.) Bin neugierig, ob ich meine Handschrift morgen überhaupt lesen kann. Licht am dunklen Felsen der Ökonomie.

Bleibt er stehen? Er bremst so stark herunter, dass die Coupétür aufspringt. Entschlossen schließe ich sie wieder. Guntramsdorf. Unsympathischer Name? Jetzt bremst er wieder.

„Wer nie sage“ - das ganze Ergebnis dieser Grazreise zur Vernissage „de propaganda fide“ im Kultum bei den Minoriten (ordo fratrum minorum conventualium. Orden der konventualen Minderbrüder). Oder soll ich „Grad des!“ nehmen? (bekomme ich eine Kopie von Jandls „Aus der Fremde“ zum privaten Gebrauch? Meine diesbezügliche Anfrage bei der Österreichischen Mediathek ist seit Wochen unbeantwortet. Muß das in Wien/Dunaj/Videň dann wieder urgieren (urgieren - geschwollene Sprache, rüttle und rump(f)le mich auch wieder in den Normalzustand ein)).

„Bah! Den!“ - liegt auch auf der Strecke (klar, wenn die Angebetete so reagiert!).

Wo sind wir denn? Die riesigen Bauten, die vorbeigezogen sind, waren mir ganz fremd. Was! Schon Meidling? („Vermeidling“) (Maid Lingg - schöne Grüße an Simone) – ich pack mein Zeug z'amm und Schluß!

Ein voll beleuchteter, völlig leerer Zug – gerade wird einer vorbeigeschoben – hat auch etwas furchtbar Trauriges.

 

(21./22.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

 


Dienstag, 20. September 2022

2896 Unter der Maske

 

Ich atme unter der Maske schon sehr schwer und bekomme schlecht Luft. Wenn ich auf den Rolltreppen auch noch hinaufgehe, wird mein Kopf rot und mir wird heiß. Albertina modern. Ausstellungsumbau. Nur Photos. Keine Erleuchtung bei mir. Das mag an mir liegen. Zusammengekauert hocke ich eingekrümmt auf der Bank, das Kreuz schmerzt, die Ungeduld wächst. Ein alter Mann und das Mehr-oder-weniger. Das schwarz gekleidete Wächterpaar hat es lustig. Ich weiß ja auch nicht, wo es lang geht. Auch der Nacken beginnt zu schmerzen und jetzt auch die Oberschenkel. Leises Surren der Klimaanlage, lautes Surren in meinen Ohren (wenn ich darauf achte). Mir fehlt eindeutig der ordentliche Griff auf die Welt. Die Stufen da hinauf: als würden sie auf unüberwindlich machen. Das sind sie nicht. Nicht für mich. Und dennoch! (Etwas Geschwollenes! So als Werbungs- und Aufmerksamkeitsspot.) Ich meine: Barrieren gibt es genug für mich. Auch unüberwindliche. Zuerst war der Raum leer, jetzt hat er sich gefüllt. Ich glaube, es ist wirklich besser und passt auch besser zu mir, wenn ich meine Texte auf der Schublade verschenke; für alles andere habe ich weder Status, Lizenz, noch Daseinsberechtigung.

Ich habe den Platz gewechselt und die Nackte von Newton vor mir ist hässlich. Beziehungsweise ihre angewiesene Haltung. Die Haltung ist brutal zerbrochen. Dabei hätte sie Hände, die gut mit der Welt umgehen könnten. Warum zieht sie ihre Schultern so unecht nach oben? Spucken Sie auf den Photographen! Auch die Machtausübung unter dem Deckmantel von Kunst und Ästhetik muß niemand hinnehmen.

Ich mag ja schon den Helnwein nicht, aber die Riefenstahl hat ein Drecksgesicht. Pfui! Der Jagger ist auch 1982 noch ein Bübchen. Die Newtonsche Türschnalle deckt die Vagina ab. Was soll ich denken? Nichtssagend. I wüll wieda ham, fühll mi do so allaan, i brauch ka grouße Wold, i wüll ham noch … vielleicht rede ich deswegen die Angestellten hier und anderswo immer so launisch, rustikaltölpelhaft und komisch humorig an. Die müde Frau K. Im Vergleich zu ihr ist die Monroe ein leeres Gesicht, vielleicht hat sie traurige Augen.

 

(20.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2895 Ich liebe alles

 

10:59 a.m. Die Kinder lachen und Trümmer donnern in die Mulde der Baustelle zwei Häuser weiter. Intensive Geschäftigkeit höre ich von unten herauf. Ich lausche dem Geschehen neugierig, wohlwollend und gerührt. Die Lichtverhältnisse in meinem Zimmer voller unbewegter Dinge ändern sich ständig. Ich bin so glücklich mit meiner Kemenate (obwohl ich mich noch letztens beim seltenen Staubsaugen furchtbar geärgert und geflucht habe, dass ich andauernd mit dem Ellbogen oder dem Staubsaugerschlauch irgendwo angestoßen bin und oder etwas zu Boden geschleudert habe). Meine Augen laden sich beim Streifen über die Bilder und Wände auf. Ich liebe alle und alles. Das sagen auch meine Ohren, die ganz bei den Tageskinder unten sind.

 

(20.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 19. September 2022

2894 Grazie

 

11:00 a.m. Mein Zimmer ist abgedunkelt, majestätisch schwebt der schwarze Rabe vor dem gelben Rollo. Ich habe lange geschlafen und bin durch viele Träume gewandert und jetzt, nachdem mich der sanftere Handywecker aus dem Schlaf geholt hat, jetzt blicke ich auf Modiglianis Prostituierte am Kasten beim Fußende des Bettes und finde dieses Bildnis wunderschön. Als sähe ich es zum ersten Mal. Ich kann und will den Blick nicht abwenden. Die schöne Gestalt der armen Frau: so rein in ihrer Dunkelheit rundum, in so mildem, sanften Licht. Bei beruflicher Nacktheit so viel persönliche Grazie, die das Verquälte nicht verleugnet. Ihre Körperhaltung berührend. Ich weiß nicht, ob ich da das Bild beschreibe oder etwas aus meinem Traumverhängnis.

 

(19.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2893 Erschlagen

 

0:49 a.m. Ich bin von der Lektüre erschlagen. Meine Seele … weg ist der Gedanke. Auf meiner Stirn zieht sich das dritte Auge wie im Krampf zusammen. Wieso bin ich schon wieder so müde? Meine Augen fallen zu und meine Hände beginnen zu zucken. Ich lass' es gut sein und lege mich flach.

 

(19.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2892 So laut

 

Die Bahnhofshalle ist so laut. Der Himmel ist grau und leuchtet ein wenig, dort wo ihn der Horizont abschneidet. Viele obdachlose Männer halten sich hier wärmer und windgeschützt. Ein Essigbaum wächst hinter den Prellböcken von Gleis 7 und Gleis 8; dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Zu viele Passanten, als dass ich sie gewissenhaft wahrnehmen könnte. Soll ich hinaus in die Kälte und auf den Bahnsteig flüchten? Ich soll.

Aha, da sind die Raucher. Ich bin am Bahnsteig ganz nach vor gegangen, wo sich niemand mehr aufhält und die stehenden Züge nicht mehr hinreichen und der kalte Wind mir die Seiten verblättern will. Aber dort sehe ich aus. Dort ist es nach Westen hin offen und ganz weit. Bevor die Überdachung des Bahnsteigs aus ist bleibe ich jedoch stehen; ich trau mich nicht mehr weiter. Ich entscheide mich dafür, diesem Zögern stattzugeben. Ein gläsernes Wartehäuschen ist verschlossen. Die Tür-auf-Tür-zu-Piepsignale der stehenden Züge sind unerträglich, aber ich kämpfe um Gleichmut und dass ich mich nicht über das geschlossene gläserne Wartehäuschen ärgere. Nicht einmal der Aushang an seiner Tür wurde der Realität angepasst. Dort steht noch, dass es nur von 1 bis 4 Uhr nachts geschlossen ist.

 

(17./19.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 17. September 2022

2891 Uuuuund los!

 

7:36 a.m. Ein Gestank weht mir in die Nase, den ich nicht zuordnen kann. Ich frage mich, ob der halluziniert ist. Der Baustellenkran zwei Häuser weiter jammert leise in den Morgen. Ich werde jetzt aufstehen, einfach so. Fast erschrecke ich vor meinem Mut, meiner Entscheidungsgewalt und meinem Tatendrang. Aufgeregt versucht mein Geist die Gedanken zu ordnen und einen guten Tagesplan aus der überraschenden Chance zu kreieren: zuerst die Reise nach Favoriten, um die Tabletten für die Katze zu besorgen – was ich gestern schon erledigen wollte und zur Geschäftszeit vor verschlossener Tierarztpraxis stand – hin und zurück eineinhalb bis eindreiviertel Stunden Fahrzeit – dann Einkaufen für das geplante Reisgericht. Dann Kochen. Wann kommt meine liebe Frau von ihrem Workshop zurück? Nachmittags? Abends? Wird sie essen? Brauche ich also eine vegane Menüvariante unter Vermeidung von yoga- und ayurvedaverbanntem Gemüse? Oder wird sie nach siebzehn Uhr nichts mehr essen? Ich könnte mich für alle Varianten vorbereiten. Okay. Uuuuund los!

 

(17.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2890 Erstaunlich!

 

2:34 a.m. Beim Atmen meine ich so ein befremdliches Geräusch zu hören – das wird aber bloß durch die zusammengeknickte Haltung bedingt sein, die ich im Bett knotzend zum Lesen und Schreiben einnehme. Die Haut meiner linken Hand glitzert an manchen Stellen wie ein glattgehobeltes Holzstück stellenweise glitzert. Ich habe die Haltung des aufgerichteten Oberkörpers in den Pölstern verbessert und so ist das eigenartige Atemgeräusch kaum noch feststellbar.

Aber nicht deswegen, sondern überhaupt muß ich viel an den Tod denken. Und wie das Sterben so abläuft – ich meine im eigentlichen Geschehen hinter den Kulissen. Ehrlich gesagt wundere ich mich, dass ich noch lebe – ich habe schon lange, lange erwartet, dass mich die Götter wegräumen werden. Vielleicht habe ich mich deshalb nie so richtig um Stabilität und Zukunft in meinem Leben gekümmert. Zukunft, die jetzt Gegenwart ist. Offensichtlich: ich habe mich doch so lange durchs Leben geschummelt; fast könnte ich stolz werden. So schlecht habe ich es gar nicht erwischt.

Mein Surren hat einen neuen Nebenton: etwas Metallisches klingt mit. Nun habe ich den Ton verloren. Es ist ein Höllenlärm in meinen Ohren.

Ich bin sehr froh, so da zu liegen. Die Zeit vergeht ruhig. Ich habe meine Aufmerksamkeit von den Ohren abgezogen und lasse sie machen, was sie will. Das Surren ist jetzt ganz am Rand. 3:03 a.m. Wie ich gesagt habe: die Zeit vergeht. Meine Lebenszeit. Momentan versäume ich nichts. Die Versäumnisse – wenn schon – liegen Jahrzehnte zurück. Jetzt geht es nur mehr ums langsame Austrinken. Und ums Warten und Schauen zwischen den einzelnen Schlucken. Ich habe so lange überlebt. Erstaunlich!

 

(17.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 16. September 2022

2889 Langsames Aggiornamento

 

12:10 Vorsichtig hebe ich mein Haupt aus dem herrlichen, wunderbaren, überlangen, erquickenden, großartigen Schlaf. Gegen Ende war er schon seicht und mit vielen Träumen und Traumfragmenten ausgestattet, die ich wach oder halbwach weitergesponnen habe. Bei jedem Aufwachen hatte ich entschieden, weiter zu dösen und mich wieder einschlafen zu lassen. Oh wie schön war das!

Jetzt schaue ich mit neu und voll aufgeladenem Blick auf das trüblichtig vom Fenster her beleuchtete Bücherregal. Gütig und selig lächle ich und erfreue mich an den Breitbandlichtlinien und Schlieren auf meinem Notizbuchblatt. Ich kratze mich am Kopf und werfe einen Blick auf die neuen Kunstkarten an der Wand rechts von mir. Es surrt und saust noch gewaltig und mein Bewußtsein ist noch völlig traumverhangen, aber ich verlasse mich darauf, dass der Hunger, der sich schon leise ankündigt, meinen Realitätssinn abrufen und meine Handlungsfähigkeit reinstallieren wird. Ich drehe meinen Kopf am Polster hin und her; eine Bewegung, die mir gefällt und bedeutsam vorkommt. Dadurch, daß beim Bücherregal die meisten Regalbretter breiter als die Bücher sind und ich diese nicht ganz an die Wand geschoben habe, wird an einer Stelle ganz oben der Abstand eines einfach auf die stehenden Bücher aufgelegten Bücherstapels zur Wand sichtbar, und so entsteht der Eindruck, die gesamte Bücherwand ist von der Wand abgerückt und bewegt ich a là Der-Kaiser-schickt-Soldaten-aus heimlich auf mich zu. Was mein traumverhangenes (oder traumaverhangenes) Bewußtsein als bedrohlich wahrnehmen will. Sind es also nicht die aktuellen Träume, die da in meine Morgenidylle hereinhängen, sondern die Schatten weit weg abgespeicherter Erinnerungen?

An meinem CD-Turm bemerke ich eine Unregelmäßigkeit, da eine Schachtel aus dem offenen Kasten dahinter auf ihn gerutscht zu sein scheint und ihn möglicherweise umstürzlerisch gefährdet. Das muß ich sofort in Ordnung bringen. Ich stehe sofort auf.

Geschafft. Ich wasche mir jedoch noch nicht mein Gesicht – ich möchte noch ein wenig in diesem Zwischenstadium bleiben und nur ein langsames Aggiornamento.

 

(16.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2888 Unglaublich still

 

5:55 a.m. Dieser frühherbstliche Morgen: schon recht finster, kalt, aber man heizt noch nicht und hat die Fenster noch gekippt. Unglaublich still. Ich staune immer wieder über diese Stille mitten in der Stadt und freue mich, es so gut erwischt zu haben. Meine Ohren surren extrem laut, wie es aber zu dieser Zeit, in dieser Situation üblich ist. Meine Augen gleiten ein wenig befremdet über meine Kunstkartensammlung halbnackter und ganz nackter Frauen vor mir an der Pinnwand und verstehen das nicht recht; meine Seele scheint noch in anderen Dimensionen zu sein. Das Bücherregal, das im Halbdunkel steht, hat noch eine eigenartige, fast ins Aggressive gehende Präsenz. Mein Blick bleibt eher bei den abstrakteren Bildern hängen. Eine richtige Feierlichkeit kommt auf. Ob sie lebensecht und angemessen ist oder ein passiv-autoritärer Trick, weiß ich noch nicht. Gefallen tut sie mir schon, die Feierlichkeit. Sie könnte etwas mit dem Ahnen von Sterblichkeit und Endlichkeit zu tun haben, aber damit ist die obere Frage nicht geklärt. Weil Selbstüberhöhung und Bedeutungsaufblasen eines faden Lebens oder Lebenszustandes könnten auch ihre Quelle sein.

Wenn mir der Ernst und die Feierlichkeit zu langweilig werden, spiele ich mit meiner Optik herum: hinstarren, bis das Angestarrte verfremdet oder sich bewegt, oder so unspezifisch, unzentriert gaffen, dass zumindest die Ränder des Gesichtsfeldes ins Fließen kommen. Oder mit dem Glitzern, das da oder dort durch reflektiertes Licht entsteht, herumtun. Ich atme kurz stockend, dann beruhigt sich mein Atem. Die Augen fallen mir zu und das unwillkürliche Gähnen, das mich überfällt, verändert die Farbe der Dunkelheit, in die ich mit den geschlossenen Augen blicke.

 

(16.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2887 Immense Trauer

 

23:37 Ein unspektakulärer Tag, den ich wie auch seinen Abend ganz gewöhnlich und grosso modo auf die übliche Weise verbracht habe: Lesen, Einkaufen, Kochen, Essen, Wäschewaschen, Geschirrabwasch, sonstige Küche, Zeit im Bild, Fußball, Krimis, ein paar simple Spiele am Laptop mit Musik (Brian Eno) – aber ich habe den Abend schon jetzt so früh beendet: Eine unglaubliche Traurigkeit sucht mich heim, die Ablenkungen funktionieren nicht mehr, im Gegenteil: sie stören mich. Ich kann nicht sagen, ich trauere deswegen oder wegen jenem – die Trauer bleibt sozusagen anonym. Sie wird schon mit meinem Leben und die Folgen meiner Handlungen in meinem Umfeld zu tun haben, aber geht darüber hinaus. Es ist immer traurig, wenn Leben sich nicht richtig entfalten kann und Begabungen und Potentiale ersticken oder abgetötet werden.

Die Trauer ist so massiv, dass sie mich regelrecht niederdrückt und mir das Atmen schwer zu machen scheint. Dennoch – wie kann ich das sagen? - dennoch protestiere ich nicht gegen die Trauer, lehne mich nicht gegen sie auf und beschwere mich nicht über sie. Ich empfinde sie als angemessen. Und ich habe ein Recht auf meine Trauer.

Ich bin schon zu Bett gegangen und werde jetzt lesen. Zuerst Günther Anders – was in meinem aktuellen Zustand nicht ganz ungefährlich ist – dann ein wenig Plotin, und dann Manès Sperbers Autobiographie. So habe ich es vor.

 

(15.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 14. September 2022

2886 Wilde Zacken

 

9:40 a.m. Mali Lošinj ist heute so klar, freundlich, gut drauf und glücklich. Und Rettenschoess wirkt auch so. Veli Lošinj ebenfalls, allerdings verbleibt ein still dumpferer Touch. Ich habe in meinem Gesichtsfeld wieder diese leuchtenden Zacken, sodass ich mich frage: wo kommt meine Seele gerade her? Geträumt habe ich von einem alternativen Volksfest am Land, so eine Art Kirtag für sozial und emanzipativ Engagierte. (Die Zacken werden stärker, mein Herzklopfen auch.) Ziehen in der Herzgegend: ich lehne es ab, mich zu fürchten. Ich sollte von der Zeit her einigermaßen ausgeschlafen sein. Diese leuchtenden, zuckenden Zacken sind noch da und machen interessante, bewegte, schöne Muster in mein Gesichtsfeld. Die Augen werden mir müde und fallen zu. Bei geschlossenen Augen bewegen sich die Zacken nicht. Sie schweben wie schöne, moderne, leuchtende Schmuckstücke im Dunklen. Mit meiner Erlaubnis darf ich einschlafen. Bei geöffneten Augen (zum Schreiben) wird in meinem Gesichtsfeld wieder voll gezackt. Erst jetzt fällt mir ein, meine linke Hand, die das Notizbuch fanatisch festhält, zu entkrampfen. Meine linke Hand vor mir ist von halbkreis- und sichelförmigen wunderschönen Lichtzacken beinah verdeckt; so sehr spielt es sich jetzt ab. Ich schließe meine Augen und es wird ruhig. Zum Notieren öffne ich sie und der Lichtertanz setzt erneut voll ein. Das ist wirklich schön anzuschauen. Bei geschlossenen Augen fährt die Szenerie, aus der nun zuckende Lichtkreise geworden sind, wieder herunter, aber das Vibrieren der Lichtpunkte bleibt jetzt, ehe es von einer schwarzen, männlichen Gestalt  magnetisch eingesammelt wird. Der Mann -  offensichtlich ein Schwarzafrikaner – geht dann von der Bühne hinter meinen Lidern mit den Lichtpunkten ab. Ich spüre, wie ein leichter Druck auf meinem dritten Auge anhebt und sehe, wie das leuchtende Vibrieren jetzt auch bei geschlossenen Augen von unten, aber als kompaktes Konglomerat ins dunkle Gesichtsfeld eintritt. Bei offenen Augen sind es ganze gezackte Liniennetze und Kreise, die offen und intensiv vor meiner Wahrnehmung tanzen. Ich spiele ein wenig mit Augen öffnen und Augen schließen. Ich habe die Augen wieder offen und die Zacken, die das wahrgenommene Bild vershattern, ziehen sich, wenn ich zum Plafond aufschaue, an die Ränder zurück und mein mittiger Blick wird außergewöhnlich klar und rein. Selbst Veli Lošinj erstrahlt ohne Vorbehalte und Bedenken in ganz klarer, freudiger Schönheit. Die Zacken sind weg.

Die Geräusche einer Wasserstrahlreinigung – vermutlich von der benachbarten Baustelle – stören mich nicht. Meine linke Hand ist noch oder schon wieder verkrampft; zwischendurch habe ich das völlig ausgeblendet. Mein Blick ist jetzt so rein, dass sich die frankophone Schweizerin nicht mehr im Bild, sondern unmittelbar davor im Raum befindet. Es würde mich nicht wundern, begänne sie sich zu bewegen und zu sprechen (Mon Dieu! Mein Französisch!). Sie bleibt allerdings still und unbewegt beim Regal dort. Bevor ich zum Frühstück aufstehe, blicke ich nochmals zu meinen drei Bildern auf, an denen und ihrer freudigen Ausstrahlung ich mich nicht satt sehen kann. Aber eine mächtige, wunderbare, unendliche Müdigkeit holt mich ein und läßt mich in Schlaf versinken.

 

(14.9.2022)

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Dienstag, 13. September 2022

2885 Komplexer Morgen

 

Heute bin ich relativ früh auf. Ich bin sogar aufgeblieben, nachdem ich die Katze gefüttert hatte, habe ein paar Schluck kalten Kaffees genommen, der von gestern Nacht übrig geblieben ist, und habe mit dem Gedanken gespielt, gleich am Vormittag in eines „meiner“ Museen zu gehen. Ich habe das Laptop aufgedreht um nachzuschauen, welche Ausstellungen wo laufen, aber von denen, die ich noch nicht besucht habe, hat mich keine besonders angezogen. Meine Museumspläne gerieten ins Wanken. Außerdem fiel mir ein, dass ich extrem Geld sparen muß, da mein Konto schon zu sehr überzogen ist (die Teilrefundierung meiner Psychotherapiekosten ist immer noch nicht eingegangen) und mein dringender Wunsch, mich nach dem Rundgang in die Lucy-Bar oder ins Plafond zu setzen – was sowieso schon eine Ausnahme wäre – nicht zu erfüllen ist. Ich blieb am Computer – gegen meine Gewohnheit im Pyjama – Pyjama ist bei mir strikt für das Bett; für einen Aufenthalt außerhalb des Bettes kleide ich mich an – mag es noch so bequeme und schlampige Kleidung sein - also ich verzettle mich im Internet vulgo Facebook und lege mich schließlich resigniert wieder ins Bett. Ich decke mich warm zu und beginne zu lesen (M. Sperber). Aufstehen wollte ich nicht mehr. Ich war auch zu traurig und zu träge, zu überlegen und zu entscheiden, wann es für mich am günstigsten und für die Tageskinder am wenigsten störend wäre (Eingewöhnungsphase!), in die Küche hinunter zu gehen und mir ein Frühstück zu bereiten.

Aber nun bin ich auch der Leserei überdrüssig geworden und weiß nicht, was tun. Furchtbar müde bin ich und traurig, gelähmt, im Patt und einfallslos. Mein Magen knurrt hungrig, aber das ficht mich nicht an. Humor habe ich auch keinen: ich kann über diese veraltete Formulierung nichteinmal schmunzeln. Meine Gebissmuskulatur schmerzt vom erst jetzt bemerkten Zähne-zusammen-Beißen. Rasieren und duschen kommt mir zu anstrengend und nass vor. Vorm Duschen sollte ich auch meine beiden Zöpfe entflechten, auf dass meine Haare weder verfitzen noch verfilzen und ich sie waschen kann. Wah! Soviel Mühe! Eine gewisse Hoffnung setze ich auf meine Blase, auf dass sie es schaffe, mich aus dem Bett zu treiben.

Ich hatte tatsächlich auf die richtige Strategie gesetzt: als ich den Harndrang nicht mehr ignorieren konnte, bin ich dann doch raus aus dem warmen Bett. Nicht ohne dass mich einige Missgeschicke noch aufhalten und zermürben wollten: beim Hantieren mit der Lesebrille ist mir das eine oder andere von meinem Nachtkästchen unter das Bett gefallen, wobei mir die Unlust, im Staub unter dem Bett herumzuwühlen, mein Pflichtbewußtsein, das mich auffordert, das Hinuntergefallene sofort aufzuheben, torpediert hat und damit auch das Pflichtbewußtsein, das mich auffordert, jetzt endlich aufzustehen. Erst recht, als beim Öffnen der Lüftungsklappe in der Wand über dem Kopfende meines Bettes der Griff des Verriegelungsmechanismus sich losgelöst hat und heruntergefallen ist und mit ihm der dort aufgehängte BH-ähnliche Oberteil, ein Kleidungsstück meiner Frau, das sofort tief hinters Bett gefallen ist, wo ich nicht so einfach hingelange. Dieses Oberteil, das meine Frau weggeworfen hatte, weil „es nicht passt und der Busen ständig irgendwo hervorquillt“, hatte ich gerade deswegen aus dem Müll gefischt und als Fetisch bei mir überm Bett aufgehängt. Denn jetzt im Alter werde ich immer infantiler und immer mehr zum Busenfetischisten, den solche Teile anziehen. Ich muß gestehen, dass ich einmal bei einem Film, wo die Ursula Strauss eine Betrunkene spielend oben ohne getanzt hat, sogar geweint habe! So schaut's aus! Gut, inzwischen ist es schon so weit, dass mir die Tränen kommen, wenn ich ein Photo einer zum Almabtrieb geschmückten Kuh sehe.

Aber ich habe allen Anfechtungen widerstanden und bin doch aufgestanden und rasiert habe ich mich bereits; jetzt werde ich meine Schwielen an den Fußsohlen abschaben, dann die Zöpfe entflechten, duschen etcetera. Dann sollte alles fürs Frühstücken passen. Nein! Vorher hole ich noch die heruntergefallenen Fetische unter dem Bett hervor. Ich habe mich wieder im Griff!

 

(13.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 12. September 2022

2884 Beleidigt

 

Heute sitze ich direkt vor und über dem Abgrund. Im Abgrund zeigen sich die Geleise der U6, von Zeit zu Zeit ein Zug der U6, sowohl in die eine und in die andere Richtung, der Gürtel mit seinen dreispurigen Autobahnen, einmal Richtung Norden, einmal Richtung Süden, Radfahrer und die Radwege, die Passanten in verschiedenen Variationen und Kombinationen, die verdorrten und von Miniermotten befallenen Bäume, asphaltierte Abstellflächen, das Stationsgebäude der U6, Reklametafeln, Mistkübeln der verschiedenen Arten und und und: das alles und viel mehr ist da unten im Abgrund.

In der Ferne der Kahlen- und der Leopoldsberg mit ihren Wiesen und Weingärten. Noch ferner die Wolken, weit vor und über mir.

„Immer wieder wenn ich aus dem Leib aufwache in mich selbst, lasse das andere hinter mir und trete ein in mein Selbst ...“ … ich kann diesen Satz von Plotin nicht fertig schreiben, weil ich wegen einer Veranstaltung, die jetzt beginnen soll, aus dem hintersten Ruheraum der Städtischen Bücherei mit der Glasfront gegen Norden vertrieben werde. Gekränkt und beleidigt breche ich hier ab und fahre nach Hause. „Er war in der [Bücherei] [], aber die [Bücherei] erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum [öffentlich!], aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1.10-11)

 

(12.9.2022)

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2883 Die Kettensäge

 

9:18.a.m. Ich knirsche mit den Zähnen, fällt mir auf, und weiß nicht warum. Der Traum meiner gestohlenen Keramikbecher wirkt noch nach. Aussteller ohne Ausstellungsgut. Keine Ahnung von der Welt, weltfremd bis zum Geht-nicht-mehr. Die Kettensäge in der Nachbarschaft macht mich narrisch. Ihr mopedartiges Rauf- und Runtergeheule reizt meine Nerven bis aufs Blut, dieses ständige, unruhige „Anfahren“ und „Einbremsen“. Zitternd liege ich aufrecht im Bett. Ich beruhige meine Beine und fange bei den Fußsohlen an: „ihr ruht ganz ruhig auf dem Leintuch“. Das Motorgeplärre wird schon leiser, ist schon weiter weg. Meine Augen fangen zu flimmern an und die Lider zu zucken und die Lippen zu vibrieren. Ich löse die Verkrampfung der linken Hand. Der depperte Motor heult lange, intensiv, hochtourig und wieder näher auf. Ich bin jetzt besser geschützt. Ich fürchte jetzt nicht, dass die mir ihrer Kettensäge auf mich losgehen. Was heißt „ich“? Mein Unterbewußtsein mit seinen abgespeicherten Erinnerungen. Männerdialog aus dem Lichtschacht: kurz, prägnant, sauber portioniert, deutlich artikuliert – aber ich verstehe hier gottseidank kein Wort. Die Motorsäge arbeitete weiter – so viele Bäume kann es im Nachbarhof gar nicht geben – was legen die die ganze Zeit um? Ich bewege meine Zehen. Ein leichtes Brennen entsteht so auf meinen Fußsohlen. Unverstandener Dialog Mann – Frau aus dem Lichtschacht; gänzlich anderer Sound. Ich bleibe im Bett um zu lesen. Gestern ist Marías gestorben.

 

(12.9.2022)

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Sonntag, 11. September 2022

2882 Auf der Liegerstatt

 

22:58. Eine andere grüne Welt, mit goldenem Pilotstift geschrieben, sodass die Schrift blendet. Ich bin fein heraußen. Mein Kreuz schmerzt seit Wochen und ich werde eine Kerze (mit Weihrauch?) anzünden und Tee trinken. Das Kerzenlicht holt die Heilige Familie aus dem dunklen Winkel. Den Tee habe ich vergessen. Ich erhebe mich nochmals von meiner Liegerstatt (sic! Aus einem alpinen Krippenlied) und nehme mehrere Schlucke und stelle das Glas in besserer Reichweite. Die Musik des Brian. Bin ich es, der der Musik lauscht oder ist es ein anderer? (vgl. Gedicht „Bin ich es, der nachts ...“ von Juan Ramon Jimenez). Nein, ich bin es nicht mehr. Mir fehlt der Glaube. Ich meine nicht den meiner Kindheit. Eigentlich fehlt mir gar nicht der Glaube, sondern die Zuversicht. Glaube ist billig. Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war und ich weiß nicht, ob das so gut ist. Ich bin nicht traurig, nur leer. Die Weiber auf den Kunstkarten ziehen auch nicht. Soll ich wieder saufen anfangen? Mit wem? Allein ist das nichts. Der Weihrauch stinkt verstaubt, verrußt und verteert. Ich tackere die neue Albertina-Kunst-Karte an die Wand, die mir beim ersten Durchgang hinters Bett gefallen ist.

Ich ändere meine Position. Ich blicke jetzt nicht mehr nach Südwest, sondern nach Nordwest. Oh Westen, dort wo der Sommer und die Sonne untergehen. Ich singe „Golden Hours“ mit. Die Teelichtflamme schaut ganz fremd und technisch aus. Ich schaue in der neuen Position direkt auf meine Ikonostase und jetzt blicke ich zu meinem einsamen Jesusbild ganz oben unter dem Plafond hinauf, von mir selbst gemalt, wo er einem Mann mit einer Frisur aus dem 20. Jahrhundert mit seinem Finger ins Ohr stierlt; heilend natürlich (der Freud ist so blöd! So blöd!). Die Musik bestätigt mir das.

Wer blockiert wen?

Ich drehe mich mit meiner Vorderseite wieder Richtung Nordwesten, wo ich wieder auf die nackten Karten schaue. Es ist bequemer so. Ich habe eindeutig einen gierigen Zug, einen Hang zu exaltieren, eskalieren und explodieren: drei Kunstkarten von Basquiat habe ich heute in der Albertina gekauft! Drei! So ein Sich-gehen-lassen! Ohne Maß und Ziel sich verschleudern, nur aus einer Laune heraus, nur um der Geste der vorgespielten Großzügigkeit willen. Und das nur für mich, nicht wenigstens für andere. Gut, ich habe ja keine Freunde, keine Glaubensgemeinde, an die ich mich verschleudern könnte. In Ermangelung von Gegenüber und Resonanz spiele ich mir selbst Theater vor. „Der Großzügige und sein Eigentum“. Ohne Kopfhörer geht die Musik mehr an mir vorbei und erreicht mich weniger. Ich jammere ja gar nicht wegen des Geldes, das die drei Karten gekostet haben – das geht sich schon aus. Ich lösche Kerze und Weihrauch. Bald lösche ich sie. Jetzt.

 

(10./11.9.2022)

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Samstag, 10. September 2022

2881 Die Albertina-Basquiat-Tour

 

Ja, frisch, fromm, fröhlich, frei – hier stimmt es und gefällt mir (so frei, fröhlich, fromm, frisch vielleicht auch wieder nicht). Aber so viele Leute sind hier. Ich setzte die Ffp2-Maske auf. Gefällt mir wirklich gut, der Jean-Michel Basquiat. Zu g'schmackig? Nein. Zumindest noch nicht beim ersten Durchgang (man weiß ja nie...). Aber ich kann kaum sitzen bleiben. Es geht schon recht ein Drive aus von den Arbeiten. Ich flüchte zu den Guggingern (Sammlung Chabot). Hier ist es ruhiger und sind weniger Leute. Ich glaube, ich habe eine uneingestandene, aber starke Sehnsucht nach Lebensintensivierung und fürchte mich davor. Die Bilder von Basquiat triggern das. Direkt beruhigend, vor Wallas „Frau, Hacker, Huppe“ zu sitzen. Auch die Buntheit hier animiert mich zu verrücken. Aber ich halte an mich und rutsche nur auf der Sitzbank hin und her. Auch die Eva von Verena Bretschneider kann mich nicht abhalten, aber hilft mir doch nicht über den Zaun. Wallas „Isoth.!“ mit Mars und Mond („die erregten Schleimhäute“ W. Döbereiner) und „Solex“ (A. Walla).

Aufwühlend. Ich ahne den eigenen Wahnsinn. Bei Brandl und Moroder beruhige ich mich. Soll ich noch zu meinen Lieblingsbatlinern gehen? Wen frage ich?

Ich raste jetzt bei der geliebten Werefkin, aber anscheinend kann ich kaum ruhig sitzen. Vielleicht sollte ich eine Knoblauch/Zitronen-Kur machen, gegen die Verkalkung. Mich packt der Nachtschwärmer heute mehr: das Licht, der Wald, Schnee und Eis, und die Nacht, die Kälte: jagt mir einen gehörigen Schauer über den Rücken. (Kunst als Erlebnissteigerungsdroge. Fragwürdig.) Als blauer Fußgänger schreibe ich mir blauer Schrift und gehe weiter.

„In Dresden, da steht ja die Elbe so still, und die Stadt fließt so träge vorbei ...“ (Wolf Biermann), Im Hintergrund lichtet der Himmel sich (Heidegger-Alarm!) und die Düsternis geht vorbei. Die Häuser sind so schön gemalt, so schön, dass ich heulen könnte (könnte ich heulen). Das Bild ist so schlicht und so reich. Die Wirklichkeit kann diesem Bild nie standhalten! „Meine Zukunft ist mindestens so gefährdet wie deine Gegenwart“ denke ich, als ein alter Mann ganz langsam und mühsam seinen (!) Rollstuhl vorbeischiebt. Ach Dresden! Ich bin froh, dass ich mir keine Reise dorthin leisten kann – das kann nur eine Enttäuschung sein! Denn die Realität ist die Täuschung, das Kokoschka-Bild näher am Eigentlichen (Heidegger-Alarm!). Ich sollte gleich den Plotin lesen. Der mit seinen Emanationen sollte mir liegen. Und warum gaffe ich dann den Weibern auf den Arsch? Gibt es Emanationen, die mich mehr ansprechen? Der alte Mann mit dem Rollstuhl schiebt jetzt wieder mühsam vorbei; auch ihm schaue ich auf den Hintern, aber um an seinem schmalpickten meinen zukünftigen Verfall zu sehen. Dabei lächelt der alte Mann! Das muß ich noch besser lernen. Und jetzt tanzt eine Frau vorm Bild herum. By the way: auf den Hintern gaffen ist einfacher als von vorne in Gesicht et cetera. Und der Hintern soll laut Lowen ein wichtiges Energiereservoir sein – da kann man schon etwas ablesen. Dresden habe ich jetzt ganz vergessen. Zurück zum Bild, das das Wirkliche besser abbildet als die Realität. Seitenblicke auf Thönys New York. Es wird ruhig hier. Reisen – eh nur in Mitteleuropa wäre wirklich nicht schlecht! Auskosten der mitteleuropäischen Melancholie und sich damit aufblustern. Beim Kokoschka sitzt jeder Pinselstrich. Jeder.

Ein alter Mann mit Künstlerkapperl, Krücken und Hörgerät schleppt sich den Kokoschkas entlang. Wann läuft meine Zeit ab? Ich sehe Hinweise auf bald – oder bilde sie mir in Eitelkeit ein. Auf zu den Klees. Beim Selfisieren bei den Spiegeln beim depperten Kardinal hebe ich immer im übertriebenen Überlebensgetue (Wasser bis zum Hals) in übertriebener Weise mein Kinn. Der Bauch wölbt sich verräterisch im Spiegel und straft meine Melancholie Lügen: bei Männern sind nur Leptosome als sensibel echt. Wer viel frißt, braucht nicht mit der Verzweiflung spielen. Also: weiter am glaubwürdigeren Klee vorbei in den nächsten Saal.

Den freundlichen, geliebten Arbeiter hatte ich total vergessen, umso mehr freue ich mich, ihn auf meinem Weg zu treffen (Motesiczky). Das Kastl neben ihm zu Füßen fällt mir heute auf. Zum ersten Male trotz so vieler Besuche! Was bin ich schaasaugert! Das Handtuch wirft sich auch so schön in Falten. Wie auch sein Gewand. Die Wand leuchtet aus sich heraus. Der Mann lächelt.

 

(10.8.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2880 Jausenzeit

 

7:47 a.m. Meine kurze Pyjamahose war beim Zubereiten des Katzenfrühstücks schon herbstlich zu kalt, aber jetzt unter der Bettdecke ist alles wieder gut. Nur ständiges Schlagen – es klingt, als würde jemand seit zwanzig Minuten Handstand üben und dabei ständig gegen eine Wand oder Türe oder auf den Boden kleschen – aus einer Nachbarwohnung oder dem Nebenhaus – ich kann das Geräusch nicht lokalisieren – irritiert mich. Es könnte auch Arbeit in einem Dachboden sein. Es rumpelt ordentlich gegen meine Ruhe und gegen mein Gehör. Zerhackt jemand etwas? Etwas Hartes? Ach, die Jessica im Bücherregal gerät in meinen Blick. Für Hacken klingt das Geräusch zu dumpf. Das Geräusch wird immer unangenehmer und lästiger – ich spüre es schon physisch auf der Schädeldecke. Der Sommer ist vorbei und die Dunkelheit kommt und bleibt. Plötzlich ein völlig unerwarteter Windstoß und eine Tür schlägt zu. Ich verschlucke mich fast an meiner Spucke. Reißen die rundherum schon die Stadt nieder? Trotzdem mag ich das Fenster nicht schließen. Meine Augen sind mir jetzt zugefallen und mit geschlossenen Augen sehe ich eine junge Frau – genau genommen nur ihren mittleren Teil zwischen Knie und Hals – oben und unten versenkt in einer ausfransenden Düsternis – im Minirock, die sich dreht und dabei der Fliehkraft des kleinen Kleidungsstück wegen mir ihren schönen, schönen Hintern zum Anblick freigibt (anscheinend werden solche Visionen immer unvermeidlicher). Plötzlich ist aller Baustellenlärm aus. Jausenzeit oder Schweigeminute für die Queen? 8:30 a.m. tät für Jausenzeit passen.

 

(10.9.2022)

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Freitag, 9. September 2022

2879 Viel besser!

 

Ich blicke auf den urbanen loritz'schen Himmel weit in den Süden und dann auf die Stadt. Die Wolkendecke verspricht Abwechslung. Die Musik im Café oben passt mir auch. Die Straßenbahnen von hier wie flotte Raupen; schade, dass sie nicht diese Autokäfer fressen – die sind eine echte Plage (ich darf das sagen, denn ich habe einmal direkt am Gürtel gewohnt). Ich studiere die große Dachkonstruktion der Haltestellen da unten von da oben, besonders das Regenwasserleitsystem, aber auch die Verspannungen und die drachenartige Gestalt des Daches. Der Handymasten am Hausdach drüben am Rand des Platzes hat die gewalttätige Präsenz eines triumphal-religiösen Zeichens. Hinter der Spinnerin am Kreuz geht es nach Süden. Da muß die Freiheit wohl grenzenlos sein, oder? Männliches Lauthalsgelächter, wie man es in jedem beliebigen Landgasthaus tagsüber an der Alkoholikerschank hören kann, irritiert mich hier sehr. Ich habe dieses Café einer anderen Reichshälfte zugeordnet. Aber nachdem ich das Himmelreich nicht mehr erreichen kann, ist es mir egal, wenn ich ungerecht bin. „Häusermeer“ - das trifft's schon, auch wenn es sich nicht bewegt, sondern nur in ihm. Die Autokarawanen, die auf meinen Blick zurollen – fast rühren sie mich in ihrer existenziellen Vergeblichkeit; alle diese strebsamen Willen erreichen nichts. Gar nichts. Wobei ihr Streben nicht aus eigener Kraft kommt, sondern die fragwürdige, fremde Energie wird um einen hohen Seelen- und Wirtschaftspreis von fragwürdigen Anbietern gekauft. Oh die Wolken! Das ist aber gar nicht der Himmel, aber ich tu jetzt so. Rettungsgasse will auch nicht funktionieren. Ach! Ich glaub das waren nur irgendwelche E-Werke, die da blaulichtig gelb geblinkt haben.

Allmählich kommt bei mir so eine Stimmung auf, so urban-euphorisch: wo ich mir ganz toll vorkomme, dass ich da mitten in der Großstadt bin, ohne erkannt zu werden, ohne etwas geleistet zu haben, unentdeckt und nicht zur Rede gestellt von der Karmapolice, noch nicht erschlagen: als wäre das Überleben hier ein Verdienst. Das kann jederzeit umschlagen: zum Beispiel wenn das Wirtschafts- und Verwaltungssystem zusammenbricht und die sozialen Spannungen als was auch immer explodieren: dann wäre das Überleben hier Schwerarbeit – es sind schon andere Städte untergegangen. Und bei der Spinnerin am Kreuz und am Laurenziberg grasen Kühe, Ziegen und Schafe, oder überhaupt Rotwild. Wenn dann die Stadt leer ist und verfällt, würde ich auch gerne hier sitzen und unten herumgehen und den Pflanzen beim Wachsen und Erobern zuschauen und den Tieren beim Wiedereinzug. Wieder das brutale männliche Gelächter, diesmal mit einer Frau. Die Autokolonnen, die in Richtung meines Blickes nach Süden fahren, beeindrucken mich nicht so. Meinetwegen! Adieu! Fahrt mit Gott! Auch ihr landet im Nichts! (Heideggeralarm! - von dem bin ich mehr verseucht als ich gelesen und nicht verstanden habe.)

Die Wolkendecke reißt auf und zeigt ihr himmelblaues Loch. Das ist wirklich nett! Ich beginne von diesem meinen ersten Kaffee heute (zirka 13:45) zu schwitzen. Wieder kommt eine dreispurige Autokolonne auf mich zu: hier heroben auf den höchsten Stufen fühle ich mich nicht bedroht, aber sie tun mir so leid! Da habe ich es schon viel besser. Viel besser!

 

(9.9.2022)

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Donnerstag, 8. September 2022

2878 Schmetterling

 

Im neunten Hof. Das Sonnenlicht zeigt sich mir vor allem über die gelb-grünen Blätter der Bäume, die leuchten. Noch immer einer von den stilleren Orten, obwohl Eltern auf Spanisch mit ihren Kindern spielen, StudentInnen sich zu Essen und Besprechungen versammeln, immer wieder Passanten in verschiedensten Stadien, Aggregatzuständen, Verfassungen und Konstellationen vorbeigehen. Und auch quiekende Hunde herumtollen: es muß die Nähe des Wissens sein, die Liebe dazu und zum Lernen, das Staunen sein, dass hier der Stille Raum, Konstanz und Substanz gibt. Die Vögel zwitschern. Keine Autos! Das ist wichtig. Wie angenehm die Brise geht. Diese sonnengelben Blätter bringen mich fast zum Weinen: der Sommer ist aus, ich muß von den Hochebenen der Hoffnungen herabsteigen. Was bis jetzt nicht erreicht wurde, wird nie mehr erreicht. Die lebensstarken Jahre sind vorbei, auch wenn sie nicht stark waren. Ein Schmetterling. Das Klirren eines Glascontainers, der ausgeleert wird. Das Surren eines vorbeiflitzenden Fahrrades. Ein Schmetterling. Baustellen inklusive Preßlufthämmer irgendwo in der Nachbarschaft. Schritte auf dem Asphalt. Füße, die gedankenverloren und spielerisch gegen die großen Sitzliegen klopfen. Ein Radio. Summen der Insekten. Ein Schmetterling. Autogeräusch von der Straße draußen. Ein Schmetterling.

 

(8.9.2022)

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Mittwoch, 7. September 2022

2877 Hysterisch 1-4

 

Nun sitz ich am Ufer und warte, bis meine Frau auftaucht. Im wörtlichen Sinn, denn sie will im Donaukanal, der in Wahrheit ein alter Seitenarm ist, strömen. Nachmittag ist es, schon auf den Abend zu, die Luft ist warm, mit leichtem Touch ins Schwüle, und der Schatten der Bäume mild, das Wasser riecht und fließt recht flott. Laut ist es hier: die U-Bahn gegenüber und hinter meiner und vorder meiner viel lästiger Autoverkehr. Gewitter ankündigende, aber noch helle und dünne Wolken beginnen die Sonnenscheibe zu verdecken. Die unvermeidlichen Leute mit ihren unvermeidlichen Hunden sind hier und gehen herum. Die vollbeschissene Wiese stinkt und ich passe angestrengt und hysterisch (1x) auf, dass ich nicht in Hundescheiße trete und erst recht, dass ich mich nicht in Hundescheiße setze. So kann der Genuß noch nicht kommen, obwohl eine sanfte, warme, weiche Brise meine nackten Fesseln, meine nackten Knöcheln und meine nackten Wadeln umspült. Das Wasser ganz grün; dieses milchige Grün. Links von mir wachsen mindestens drei von mir heimlich ausgestreute Pflanzen, wahrscheinlich mehr. Manche, aber einzelne Zweige am unbekannten Baum rechts rüttelt die Brise (nehme ich an. Wer sonst? Der Baum kann seine Zweige von sich aus schütteln?) geradezu fanatisch und sie, aber nur sie schaukeln ständig hysterisch (2x) hin und her.

Die grüne Wasseroberfläche treibt schnell dahin und ist nur leicht gekräuselt. Aber jetzt! Jetzt taucht meine Frau auf, ihr Kopf kommt am Wasser still daher, sie bleibt noch kurz im Strom, schaut mich verliebt an und klettert gekonnt und geschickt über die Ufersteine herauf ans grasige Ufer. Eine Frau daneben, mit ihrem Freund – wie ich vermute – dahingelagert, lacht hysterisch (3x). Mein Weib kommt her, beugt sich über mich und sagt: „Herr!“ Nein, das ist geschwindelt: sie sagt „herrlich!“ und meint das Strömen im Wasser. Sie trocknet sich ab, entledigt sich ihrer Badedress unter dem umgewickelten Hamamtuch und legt sich auf die Decke, auf der auch ich sitze. Und wischt sich fast überall trocken und zieht mit yogischer Gewandtheit ihr Alltagsgewand unter dem Tuch an. Dann holt sie eine Zeitung vom Sonntag – heute ist Mittwoch – aus ihrer Tasche und beginnt gekonnt und aufmerksam zu lesen.

Einige Krähen schreien hysterisch (4x). Am anderen Ufer breitet ein Gestellt seine Arme aus, aber - so weit ich sehe - wird nichts erlöst. Die bedeckte Sonnenscheibe spiegelt sich im Wasser und glitzert, aber ich frage mich: wohin flieht der Fluß? Warum hat er es so eilig? Mir tut am harten, vertrockneten Wiesenboden trotz Decke der Hintern weh. Außerdem nervt mich die Frau links da drüben, die so gelacht hat, mit ihrem Tonfall und ihrer Art und Weise, wie sie redet. Weibliche Schnösel.

Die Oberfläche des Wassers kräuselt und kräuselt sich unendlich in endlichen Schlieren. Doch jetzt kommt ein Boot den Fluß abwärts und schlägt hintennach hohe Wellen (für hiesige Verhältnisse). So ein abgrundhässliches Hundertwasserboot – die Verlogenheit zum Prinzip gemacht. Der Donau ist das wurscht und sie hat inzwischen die hohen Wellen zu vielen kleinen Wellen teilberuhigt. Und noch und nöcher. Vielgestaltige Wasserperformance. Mir tut mein Arsch weh. Zu wenig Sitzfleisch. Geschrei, Lärm, Unruhe. Das Wasser wellt immer noch. Allmählich kommt es zum ursprünglichen Gekräusel zurück.

Die Pappelblätter blinken, dann ist die Sonne hinter einer dickeren Wolke. Jetzt ist das Gewässer wieder wie vor dem Boot.

 

(7.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2876 Die Ziffern der Zeit

 

5:53 a.m. Mit dem leisen, leicht mehrstimmigen und ein wenig nasalen „dään“ in dieser ganzen morgendlichen Stille leuchtet auf Knopfdruck mein Handy auf und zeigt mir die Ziffern der Zeit. In der intensiveren und ein wenig geschockten Stille darnach betrachte ich aus einer Art Verlegenheit den Kabelsalat bei und unterm Gewandsessel mitsamt seinem Schatten am Schreibtischkastel und seinem Staub davor. Es sind das Surren in meinen Ohren und ein tiefes, fast unhörbares Grundgeräusch, die den Raum in der Zeit halten und ihn als Hilfs- und Ersatzsubstanzen gedehnt, damit er nicht implodiert. Jetzt kommt über Lichtschacht und offenem Vorzimmerfenster ein unterstützendes friedlich rauschsymphonisches Geräusch dazu. Mein Geist A beginnt sich zu langweilen und schlägt „weiterschlafen!“ vor, mein Geist B will noch etwas Pikantes schreiben. Mein Körperhockt nur so da und altert leise vor sich hin. Mein Haupt neigt sich gütig und rollt mal nach rechts und dann nach links. Hätte ich statt „Pikantes“ „Prägnantes“ schreiben sollen? Oder gar „Bekanntes“? Ah nein! „Pikantes“ ist frecher und prägnanter. Meine Leselampe – gar nicht auf mein Notizbuch ausgerichtet – leuchtet unter anderem die hässlichen Schachteln mit diversen Bildern und Zeichnungen von mir – unter Schreibtisch und Regal zum Vergessen geräumt – an. Mein auf den Kleiderstapel auf dem Sessel schlampig hingeworfenes gelbes Ich-bin-am-Sprung-T-Shirt leuchtet satt und deutlich in den bläulichen Morgen heraus. Ich werde es heute wohl zur Wäsche geben. Heute ist ja mein Waschtag 1. aber spärter. Viel später!

 

(7.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2875 Der albertinische Hund

 

Diesmal sind die richtigen Bilder auf der einen Seite und ich kann alle meine Lieblinge des Saales von der Bank aus ohne kreuzbeschmerzenden Verdrehungen betrachten. Danke, Albertina. Blauer Fußgänger (blau von Romantik und blue) wäre auch ein Pseudonym für mich (reiten kann ich nicht). Der Boden vor dem Café in der Sturmnacht beleuchtet und apergetreten (nicht von Schnee, sondern von Gras). Klaro! Ich bin bei Werefkin. Das betörende Licht der Winternacht, der Schnee, die unglaublichen Bäume, das einsame Tier – vorsichtig und geduckt geht es über das Eis. Viele schöne Frauen gibt es hier, aber ich bleibe mit meiner Aufmerksamkeit zu 95% bei den Bildern. Der Leuchtende Berg von Oberstdorf (Jawlensky), auch so ein Durchblick ins „Eigentliche“ („eigentlich“, „Eigentliche“ kann man nicht mehr schreiben). Boeckls schöne Frau ist auch da, wenn auch woanders.

Auf zu meinen geliebten Städten! Oh! London ist weg! Dresden ist noch da. Das himmlisch leuchtende London! Ich habe den Eindruck, nicht nur ich, sondern auch Dresden ist erschrocken über die Kokoschkareduzierung. Dresden ist noch schwermütiger und trauriger, als es wegen seiner Zukunft ohnehin schon war. Aber was für ein schönes, dichtes, reiches, schlichtes Bild!

Jetzt raste ich beim depperten Kardinal. Ich kann diese Gestalt nur als Karikatur sehen: Büblein, vom Amt und Gwand aufrecht gehalten und überfordert.

Ich stelle hier in der Albertina eine Reduzierung der Bilder und eine Vermehrung von Schrift an den Wänden fest. Zunehmende Pädagogisierung. Schade! Sehr schade! Auch der Weiler an Eingang der Bartliner ist verschwunden – das tut mir weh. Auch der Klee wurde zugunsten von Text reduziert – dabei kann sich heute jeder die Informationen aus dem Internet holen.

Mein lieber Arbeiter (Motesiczky) ist noch da. So ein feiner Mensch! denke ich. Der magische Kröpfelsteig mit seiner fast mediterranen Sommer- und Mittagsdichte fehlt schon länger. (90%). Der Beckmann'sche Mann mit Hut himself stellt schon etwas dar - im Gegensatz zu dem Mann mit Hut aus der Bluebox – myself ist Männele mit Hütele - aber doch ihm gegenüber.

Dieses immer wieder wunderschöne atemberaubende Blau bei Chagalls Papierdrachen: so eine wunderbare Farbe in so einer wunderbaren weiten Landschaft! (80%).

Endlich kann ich vor Giacometti sitzen, aber es ist nur mehr ein Bild da und das ist auf die Seite gerückt für Bilder an der Hauptwand, die es garantiert nicht verdienen. Die tapfere, traurige, einsame Annette in Ehren - mir fehlt seine wahrhaftige Landschaft. Und wo sind Giacomettis Skulpturen und ihre Schatten? Oh! Jetzt habe ich die vier Frauen auf Sockel mit ihren Schatten gefunden.

Und? Nun bei den Sphinxen? Die Passanten? Mein Bauch wölbt sich im Spiegel wohlgenährt. Es gehen viel mehr Männer als Frauen vorbei. Wie geht das physikalisch und statistisch? In den Sälen sind viel mehr Frauen als Männer. Gut, ich sollte weder meiner Wahrnehmung noch meinem statistischen Gedächtnis trauen. Diese Sphinxe haben so leere, biedere Gesichter, wie dumme und wohlgenährte höhere Töchter.  Ach, jetzt beginne ich auf der steinernen (wirklich?) Bank davonzugleiten, als würde mein energetisches Raumschiff abheben. Jetzt! Doch! doch: jetzt gehen ein Haufen Frauen vorbei (15%) und ich bin wieder da. Die Passanten haben mich wieder hierher zurückgezogen. Gekrümmt dasitzend schaue ich wie ein armer Sünder und Bettler aus. Mir fehlt eindeutig die Aufrichtigkeit. Zusammengezogen wie ein geprügelter Hund. Mit meinem Alter kann ich mich ein wenig darüber hinwegschwindeln. So hinterfotzig! Aber ich bin nicht der einzige Angeber hier, wie mir mein Sitzplatz an der albertinainternen Hauptstraße zeigt.

 

(6./7.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2874 Ich schließe das Fenster

 

7:41 a.m. Ich bin noch viel zu müde zum Aufstehen, weil ich noch viel zu wenig geschlafen habe. Aber schlafen kann ich jetzt auch nicht. Ungeduld und Wut, weil die drei Pölster im Rücken nicht passen wollen. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Mein Blick sucht Halt irgendwo da vorne. Was ist eigentlich los? Ich schließe das Fenster.

 

(6.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2873 Brüste sind so schön

 

2:00 a.m. Melancholie, geliebte, Folgerin und Bezeugerin meiner Wirkungslosigkeit in der Welt … halt! Stop! Wie kann ich das sagen, da ich doch Kinder gezeugt habe? Das zu sagen ist doch schrecklich!

Melancholie, Zeugin dafür, wie ich mich verantwortungsscheu in die Wirkungs- und Bedeutungslosigkeit flüchten möchte – wie auch immer – sei am Ende des Tages gegrüßt und als Gast willkommen. Setze dich zu mir aufs Bett und hilf meinem Lächeln. Die frankophone Schweizerin drüben im Regal wirkt so feist, fett und rund, was sie überhaupt nicht ist, sondern sehnig und zäh vom arbeitsreichen bäuerlichen Leben. Was schiebt sich da vor meine Wahrnehmung und ins Bild? Aus welcher Produktion stammt das? Und was will es bewirken oder verhindern?

Brüste sind so schön, aber sie zeigt sie nicht.

 

(6.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 5. September 2022

2872 Aber ja!

 

Nach einer schlecht beschlafenen, unruhigen Nacht – ich weiß nicht, was die Katze und meine Nerven hatten – bin ich um 9h a.m. vom sanfteren Handywecker geweckt aufgestanden, um meinem trögen Tagewerk nachzugehen („tröge“ mußte ich erst nachschauen. Gibt es nicht! Ach! „dröge“ fad - das wird es sein! Passt auch nicht so ganz, aber egal. Und mit hartem „t“ gefällt es mir besser). So um 4 p.m. und  beim Lesen von zuerst Günther Anders und dann Javier Marías wurde ich dann so müde, dass ich die Bücher weg- und mich hingelegt habe; eingerollt nach links, das Licht gelöscht, in meiner kurzen (sc)häuslichen Rumrutschhose, etwas zu kühl schon, mit einem Polster im Kreuz um wenigstens meine Schwachstelle wärmetechnisch zu schützen und bin so am existenzialischen Rande (hihihi) gelegen – vor mir die Tür ins Vorzimmer und in andere Welten – hei! Unbedeggt nun doch eingeschlafen, aber mit dem Körper oder dem Leib noch auf dem Bett verbleibend. Das habe ich im Schlaf nicht vergessen!

Aufgewacht wurde ich durch heftiges – wie ich vermute: kücheninduziertes - Schlagen und Dreschen auf Holz (Nudelbrett vielleicht?) und stelle alsdann neuen Elan fest. Aber was jetzt? Die Ohren surren mir noch gewaltig; mein Geist ist noch verschlafen, aber will schon frech sein (apropos: welcher Familie gehöre ich an? Der Facebook-Family? Echt? Kann ich mich drauf verlassen?). Im liegenden Aufhocken bei angedrehtem Leselicht (ich habe es mir selber angedreht) sinniere ich Schlaf, Traum und der unmittelbaren Zukunft vulgo Gegenwart nach: was kommt gerade? - freilich immer hinter her - wo fließt es hin? Ein Schluck Kaffee wäre nicht schlecht. Geht das schon als Text? Aber ja! Kaffee.

 

(5.9.2022)

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2871 La Grande Dame

 

La Grande Dame. Und der Wind, der die Blätter treibt und die Zweige schaukelt. Und rauscht. So stark, dass er das fröhliche Geschrei vom Spielplatz kräftig unterlegt und trägt. Im Campingstuhl unter der alten, riesigen Platane, die La Grande Dame heißen soll. Plötzlich ist der Wind aus und still. Das Geschrei wird markanter. Das Rauschen übernimmt – aber gottseidank viel zu weit weg – der Straßenverkehr. Eine ganz leichte Brise umspielt meine nackten Fesseln („ein Gegenstand, mit dem jemand gefesselt wird, oder: der Übergang von der Wade zur Knöchelregion beim Menschen“ Wikipedia. Ich finde: sehr gut formuliert!) und schiebt verstohlen ein paar Blätter zurück Richtung Osten. Die Platane und ihre Krone, ihr weitverzweigtes und von Bändern gestütztes Geäst, sind breathtaking (mir ist lieber, sie nehmen meinen Atem wie ein Geschenk und rauben ihn mir nicht). Da oben am Wipfel, da muß die Freiheit grenzenlos sein. Ich wollte aber nie hoch hinaus. Das Blätterrauschen kommt wieder auf. Und die windbetriebenen Versuche, mir in meinem Notizbuch umzublättern. „Eine wehende Reinheit wiegt die Bäume“ schreibt Juan Ramon Jimenez, mein geliebtester Dichter, in Hora Immensa. Aber hier: der Wind ist nicht ganz unverdorben. Ich kann es selbst nicht glauben, dass es so ist. Vielleicht ist es nicht der Wind, sondern die Luft, die nicht rein ist, und der Wind versucht sie wegzublasen. Vielleicht bin ich einfach zu tief herunten: physisch, psychisch oder metaphorisch. Oder es sind die vielen kranken Bäume hier. Oder es ist der alte Sommer, der schon müde ist (auf seine Art auch schön). Ich müßte pinkeln. Mein rechtes, überschlagenes Bein (warum eigentlich „schlagen“?) ist eingeschlafen. Geh ich jetzt? Aber ich bin ein Meister im Rauszögern.

 

(3./5.9.2022)

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Donnerstag, 1. September 2022

2870 Zur Therapie

 

Die schöne frühherbstliche Sonne. Der lebhafte Wind schickt die Schatten der Baumkronen über die aufgeschlagene Seite meines Notizbuches und adelt es; am Asphalt unten jagt er braunes, gelbes und manch grünes Laub. Dann wieder eine Generalpause. Gesprächsgeplätscher von links. Dann hebt der leibhaftige Wind wieder mit leisem Blätterrascheln in den Bäumen und sanften Liebkosungen auf meinen nackten Armen an. Nachdenkliche Menschen können vorbeigehen – so genau weiß ich es nicht. Tapfere alte Frauen am Stock (weil sie trotzdem lächelt), ein Mann in den besten Jahren, aber Rad schiebend. Eine Rechnung der Tierarztordination Enders fällt mir aus meiner Jackentasche und der Wind treibt sie weg. Die Wiese vor mir ist grün; sie wurde während der Trockenheit nicht sich selbst überlassen. Ich gehe jetzt zur Therapie.

 

(1.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2869 Ach jetzt

 

7:49 a.m. Die Kälte des Morgens spüre ich bis in meine Kaumuskulatur. Das Surren ist so schrill und in der Stille laut. Das graue Licht, das schafft es nicht, mein' Augen-Blick ein wenig in die Höh' zu locken. Endlich schaue ich aus meiner geduckten Bettposition herunten kurz in die Plafondkante rauf. Sofort fallen mir die Äuglein zu und wollen es auch. In Gedanken bearbeite ich meinen Text, dann fällt mir ein, ich sollte zum Lesen die Augen öffnen, und wirklich: der Gedankentext war schon die entstellte, unleserliche Variante des geschriebenen. Ich nenne sie Tapferkeit und Beharrlichkeit, die mich weiter kritzeln lassen, schließlich will ich mich doch auch ein wenig herausputzen. Ach jetzt! Jetzt ist es genug – ich lege mich wieder flach.

 

(1.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com