Sonntag, 11. September 2022

2882 Auf der Liegerstatt

 

22:58. Eine andere grüne Welt, mit goldenem Pilotstift geschrieben, sodass die Schrift blendet. Ich bin fein heraußen. Mein Kreuz schmerzt seit Wochen und ich werde eine Kerze (mit Weihrauch?) anzünden und Tee trinken. Das Kerzenlicht holt die Heilige Familie aus dem dunklen Winkel. Den Tee habe ich vergessen. Ich erhebe mich nochmals von meiner Liegerstatt (sic! Aus einem alpinen Krippenlied) und nehme mehrere Schlucke und stelle das Glas in besserer Reichweite. Die Musik des Brian. Bin ich es, der der Musik lauscht oder ist es ein anderer? (vgl. Gedicht „Bin ich es, der nachts ...“ von Juan Ramon Jimenez). Nein, ich bin es nicht mehr. Mir fehlt der Glaube. Ich meine nicht den meiner Kindheit. Eigentlich fehlt mir gar nicht der Glaube, sondern die Zuversicht. Glaube ist billig. Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war und ich weiß nicht, ob das so gut ist. Ich bin nicht traurig, nur leer. Die Weiber auf den Kunstkarten ziehen auch nicht. Soll ich wieder saufen anfangen? Mit wem? Allein ist das nichts. Der Weihrauch stinkt verstaubt, verrußt und verteert. Ich tackere die neue Albertina-Kunst-Karte an die Wand, die mir beim ersten Durchgang hinters Bett gefallen ist.

Ich ändere meine Position. Ich blicke jetzt nicht mehr nach Südwest, sondern nach Nordwest. Oh Westen, dort wo der Sommer und die Sonne untergehen. Ich singe „Golden Hours“ mit. Die Teelichtflamme schaut ganz fremd und technisch aus. Ich schaue in der neuen Position direkt auf meine Ikonostase und jetzt blicke ich zu meinem einsamen Jesusbild ganz oben unter dem Plafond hinauf, von mir selbst gemalt, wo er einem Mann mit einer Frisur aus dem 20. Jahrhundert mit seinem Finger ins Ohr stierlt; heilend natürlich (der Freud ist so blöd! So blöd!). Die Musik bestätigt mir das.

Wer blockiert wen?

Ich drehe mich mit meiner Vorderseite wieder Richtung Nordwesten, wo ich wieder auf die nackten Karten schaue. Es ist bequemer so. Ich habe eindeutig einen gierigen Zug, einen Hang zu exaltieren, eskalieren und explodieren: drei Kunstkarten von Basquiat habe ich heute in der Albertina gekauft! Drei! So ein Sich-gehen-lassen! Ohne Maß und Ziel sich verschleudern, nur aus einer Laune heraus, nur um der Geste der vorgespielten Großzügigkeit willen. Und das nur für mich, nicht wenigstens für andere. Gut, ich habe ja keine Freunde, keine Glaubensgemeinde, an die ich mich verschleudern könnte. In Ermangelung von Gegenüber und Resonanz spiele ich mir selbst Theater vor. „Der Großzügige und sein Eigentum“. Ohne Kopfhörer geht die Musik mehr an mir vorbei und erreicht mich weniger. Ich jammere ja gar nicht wegen des Geldes, das die drei Karten gekostet haben – das geht sich schon aus. Ich lösche Kerze und Weihrauch. Bald lösche ich sie. Jetzt.

 

(10./11.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

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