Donnerstag, 22. September 2022

2897 Die Mur ist ein ordentlicher Fluß!

 

Langsam werde ich – während ich hier in Graz auf die Pizza warte – vom alkoholfreien Bier betrunken. Am Bahnhof. Eine richtige Alter-Mann-Reise mit dem Zug. Auch meine Erwartungen sind die eines alten Mannes. Und glücklich, dass ich mich ein bißchen rühren kann (Klimabonus).

Ein ganzer Haufen Jugendlicher – ich nehme an eine Schulklasse – spielt im Volksgarten (Graz!) „Zimmer-Küche-Kabinett“. Und in einem anderen Winkel duftet, riecht, stinkt es nach Hanf. Es ist so zirka drei Uhr nachmittags.

Es ist laut hier, aber vom Rauschen der Mur. Wild und wunderbar übertönt sie den Straßenlärm über mir und am anderen Ufer problemlos, spielend, fast völlig, nur ab und zu ist das Gasgeben eines Lastkraftwagens wie von Ferne und komplett gedämpft zu vernehmen. Die Mur ist ein ordentlicher Fluß! (auf diese Aussage hat sie sicherlich schon lange gewartet.) Nur auf der Fußgänger- und Radfahrerbrücke kracht es noch lauter, wenn sie frisch betreten oder befahren wird.

Beeindruckendes Glockenspiel am Mariahilferplatz (Graz!); fast zehn Minuten lang. Und ein vierstrahliger Springbrunnen direkt aus dem Boden heraus (Heiligste Dreifaltigkeit und Maria? Weil ein Strahl ist zwar so stark wie der Vaterstrahl, aber viel kleiner).

Die Vernissage.

Und schon im Zug nach Hause. Das ist enttäuschend. Ich dachte, ich könnte Freunde treffen. In Graz bin ich auch nichts mehr und die Hotels – so behaupten sie – sind voll. Viel Lärm um wenig. Gut. Nächtliche Zugfahrt und nicht einmal ein Fensterplatz. Die Silhouetten der Bäume, Hügel und Berglein kann ich ahnen. Nicht einmal meine Visage spiegelt sich g'scheit im gangseitigen Abteilfenster, da bemustert. „Gar nichts“ steht auf meinem T-Shirt unter meinem Hemd und meint mich. Am selben Tag hin und zurück – das geht meiner Seele eindeutig viel zu schnell. Was mach ich mit dem angebrochenen Abend? Zug fahren! Was sonst! Ich fürchte mich vor dem Ankommen. Ich bin noch nicht bereit dafür. Vielleicht zermürbt mich die lange Zugfahrt (So lang ist sie auch wieder nicht). Ich habe mich ganz umsonst aufgebrezelt; Schmuck und so. Gottseidank ist es sich mit den Zöpfen nicht ausgegangen! Aber wer weiß? Vielleicht hätten die den Umschwung gebracht?

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der schönste Coupéplafond im Land. Slowenisches Design, nicht so schlecht. Nur die gutgemeinte Gangfensterbemusterung stört mich, weil ich nicht hinausschauen kann. Der Zug jagt dahin, Richtung ewige Jagdgründe. Der Zug beschleunigt. Wo immer ich hingerast werde: ich möchte sehen. Ich hasse Blindflug. Das Vibrieren, Rütteln und Zittern der Geschwindigkeit lassen meinen Pilotstift verrutschen.

Waren die Hotels mitten in der Woche wirklich ausgebucht? Oder hatten die alle etwas gegen mich? Wirke ich schon so heruntergekommen? Ich bin ja ein Dalit. Dabei habe ich mich am Morgen eh geduscht und frisch mich bekleidet. Oder wollen die ihre Gäste vorher noch durchchecken? Dedektivische Untersuchung und polizeiliches Leumundzeugnis abgefragt und Bankkonto? Natürlich illegal. Die richten es sich. Oder hätte ich den Rezeptionisten einen Hunderter rüberschieben müssen? Ansage Bruck an der Mur. Aus Frust ins Zugrestaurant? Geld rausschmeißen? Als Konsument bist ein bisserl was. Offiziell gibt es bei uns keine Dalits (Und die Minoriten sind es nicht mehr wirklich). Austesten. Und? Genug gejammert? Genug gejammert! Genug Selbstmitleid und Selbstüberschätzung? Genug Selbstmitleid und Selbstüberschätzung! Genug der haltlosen Unterstellungen und boshaften Projektionen? Genug der haltlosen Unterstellungen und boshaften Projektionen! Auf ins Restaurant! Offiziell gibt es bei uns keine Dalits. Lassen wir es darauf ankommen.

Im Zugrestaurant sticht mich plötzlich der rechte Mittelfinger – was immer das zu bedeuten hat. Und es brummt, scheppert und vibriert. Das zweite alkoholfreie Bier des Tages wird mich niedermachen. So schlecht schaue ich in der Fensterspiegelung nicht aus, jedenfalls recht intellektuell mit der dickrandigen Brille. Ich mache ein Photo von meiner Spiegelung. Photo gemacht. Gestärkt von Frankfurter mit Senf und Semmel blicke ich selbstbewußter in die Finternis, die am Fenster vorbeirast. Finsternis mit gelegentlichen Lichtpunkten überlagert von Spiegelungen auf der Fensterscheibe. Wir sind schon in Mürzzuschlag. Als Zuschlag gibt es noch Kapučino – wir sind in einem slowenischen Speisewagen. „Zimmer, Küche, Kabinett“ und „Der Kaiser schickt Soldaten aus“ - den Unterschied zwischen den Spielen habe ich vergessen. Der Kaffee schmeckt – wie im Zug zu erwarten – nicht gut. Der Zug fängt schon leicht zu keuchen an: bergauf auf den Semmering. Ich gebe Zucker in den Kaffee, was ich seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht habe. In dubio pro reo. Übrigens: mein Kreuz hat mich den ganzen Tag schon sekkiert (bin ich froh, dass bei Gericht noch ein Kruzifix dasteht. Steht das noch dort?). Ich zahle und gehe zurück zu meinem Platz, wenn er noch da ist.

Mein übermäßiges Trinkgeld. Womit ich den Kellner in Nachhinein besteche, dass er mir nichts antut und so tut, als wäre ich kein Dalit, sondern ein normaler Gast. Auch dann gebe ich es, wenn er mich über den Tisch gezogen hätte oder sonstwie übervorteilt hätte (zB beim Kaffeepulver gespart), egal, wenn ich es überhaupt bemerkt hätte. Aber dafür sitze ich jetzt in einem leere Coupé am Fenster, werde gleich das Licht abdrehen und in die lichtdurchbrochene Finsternis starren. Amen.

Übrigens: wenn Grazer, vor allem aber Grazerinnen „Keplerstraße“ sagen, klingt das wie keppeln. Shame on you, Graz! Ich sehe schwach beleuchtete Nebel draußen. Muß kurz vor Wiener Neustadt sein. Auch die näheren Straßenlampen halten sich einen Lichthof.

Der Zug rumpelt sich in den Bahnhof und zum Halt ein. Im Gegenzug ist Licht. Auch der steht jetzt. Er fährt gen Slowenien. Nein, er kommt aus Prag und fährt nach Graz, wie ich es bei seiner Abfahrt derlesen kann. Die drüben haben das gleiche Abteildesign und fahren gar nicht nach Slowenien? Ich weiß es aber, dass das slowenische Waggons sind. Auf in die Maria-Theresianischen Föhrenwälder; wir fahren wieder. Mein Kopf wackelt schon willenlos im Fahrtenrhythmus. Dunkle Baumsilhouetten, kaum mehr Licht – außer das gespiegelte Ganglicht. Und der Zug fährt durch die Nacht, durch die (nicht ganz so) fremde, dunkle Nacht … die Nacht meiner Seele dauert schon verdammt lang. Im rüttelnden schüttelnden Zug im Dunkeln schreiben ist auch nicht so leicht! (So, jetzt wißt ihr es.) Bin neugierig, ob ich meine Handschrift morgen überhaupt lesen kann. Licht am dunklen Felsen der Ökonomie.

Bleibt er stehen? Er bremst so stark herunter, dass die Coupétür aufspringt. Entschlossen schließe ich sie wieder. Guntramsdorf. Unsympathischer Name? Jetzt bremst er wieder.

„Wer nie sage“ - das ganze Ergebnis dieser Grazreise zur Vernissage „de propaganda fide“ im Kultum bei den Minoriten (ordo fratrum minorum conventualium. Orden der konventualen Minderbrüder). Oder soll ich „Grad des!“ nehmen? (bekomme ich eine Kopie von Jandls „Aus der Fremde“ zum privaten Gebrauch? Meine diesbezügliche Anfrage bei der Österreichischen Mediathek ist seit Wochen unbeantwortet. Muß das in Wien/Dunaj/Videň dann wieder urgieren (urgieren - geschwollene Sprache, rüttle und rump(f)le mich auch wieder in den Normalzustand ein)).

„Bah! Den!“ - liegt auch auf der Strecke (klar, wenn die Angebetete so reagiert!).

Wo sind wir denn? Die riesigen Bauten, die vorbeigezogen sind, waren mir ganz fremd. Was! Schon Meidling? („Vermeidling“) (Maid Lingg - schöne Grüße an Simone) – ich pack mein Zeug z'amm und Schluß!

Ein voll beleuchteter, völlig leerer Zug – gerade wird einer vorbeigeschoben – hat auch etwas furchtbar Trauriges.

 

(21./22.9.2022)

©Peter Alois Rumpf  September 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

 


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