Mittwoch, 31. Oktober 2007

28 Magersucht

Wenn man magersüchtige Frauen und Mädchen so anschaut, dann hat man den Eindruck, sie wollen nicht erwachsen und geschlechtsreif werden, beziehungsweise wieder in die Mädchenhaftigkeit zurück. Also Angst vor der Sexualität? Möglicherweise.

Wir leben in einer Zeit permanenter pansexueller Propaganda. Jeder muss immer und immer schon Sex gehabt haben. Die Zauberer bei Castaneda aber sagen, dass das eher ein mentales Programm ist, denn in Wirklichkeit sind wir gar nicht so geil, wie wir vorgeben, weil wir gar nicht soviel Energie haben.

Die Lust der Eltern bei der Zeugung der Kinder entscheidet über die ins Leben gebrachte Energiemenge, weil das Ausmaß der sexuellen Erregung über die ins Vibrieren gebrachte Energiemenge im Inneren der Zeugenden entscheidet, nämlich die Energiemenge, die dem Kind auf seinem Lebensweg mitgegeben wird. Die überwiegende Mehrheit der Menschen stammt aber aus langweiligem Sex: aus lustloser ehelicher Pflichterfüllung, aus Sex bloß als mentalem Programm – weil es halt dazugehört, weil es grad „reingeht“, weil ich jetzt schon alt genug bin und alle das in meinem Alter machen, aus Sex in verängstigendem oder verkrampften Kontext und vieles andere der Art mehr. Diese Menschen nennen die Zauberer „langweilige Nummern“ (nach N. Claßen), im englischen Original bei Castaneda „bored fucks“. Diese „langweiligen Nummern“ haben für Sex eigentlich gar nicht so viel Energie.

Vielleicht spüren manche Menschen, dass mit dieser Sexpropaganda etwas nicht stimmt, weil sie es in ihrem Inneren anders empfinden und die Verweigerung erwachsen zu werden ist die unbewusste Verweigerung, sich sexuell und energetisch zu verausgaben.

Vielleicht müsste man den Magersüchtigen nur sagen, dass sie erwachsen und geschlechtsreif sein und enthaltsam oder sexuell „sparsam“ leben können, und zwar gesund und im Gleichgewicht.

Bei Mädchen und Frauen kommt ja noch dazu, dass für sie die sexuelle Vereinigung mit dem Mann noch viel stärkere Konsequenzen hat, da der Mann – so sagen die Zauberer - beim Geschlechtakt in der Gebärmutter der Partnerin „Energiewürmer“ hinterlässt, die auch nach dem Geschlechtsakt ständig Energie von der Frau zum Mann umleiten.

© Peter Rumpf 2007 peter_rumpf_at@yahoo.de

27 Macher und Träumer

Wir leben in einer Welt, in der Träumer nicht viel Platz haben. Zwar taucht in der Werbung und in den Dokumenten von Selbstbeweihräucherung und Starkult dauernd das Wort „Traum-“ auf, um etwas als etwas besonders Tolles zu bezeichnen, aber das damit Bezeichnete ist dann immer etwas ganz im Irdischem Verfangenes und erreicht das Traumhafte gerade nicht. Immerhin heißt das, dass uns das Träumen fehlt. Aber die Menschen, die Träumer sind, die also strukturell schon mehr auf das Hintergründige, Unausgesprochene, Verborgene, Jenseitige, Transzendente, Innerliche ausgerichtet sind, haben spätestens in der Schule wenig Chance, ihren eben nicht am Vordergründigen und seinen Spielregeln und Zwecken gebundenen, aber dafür traumwandlerischen Weg zu finden. Oder die Eltern ertragen es nicht, dass ihr Kind nicht um die gesellschaftlich ersten Plätze mitspielt. Es wird alles getan, um sie umzupolen. Sie sollen so für die duale Welt der Durchsetzung, der Siege und Niederlagen, der Vor- und der Nachteile etc. dressiert werden, damit sie sich darin zurechtfinden sollen, werden so aber nur ihres traumwandlerischen Instinktes beraubt und letztlich zerstört. So wie es keine mäandernde Flüsse mehr geben darf, sondern nur mehr für die Nutzung durch die Industriegesellschaft zurechtkanalisierte (Ab-)Wasserkanäle, genau so darf es nur mehr durchrationalisierte, funktionelle, gestylte, organisierte, „nützliche“ Lebensläufe geben. Der Himmel will aber Träumer auf Erden, um durch sie in der Welt repräsentiert zu sein (von „dem Himmel bin ich auserkoren“ bis zum „Leben eines Taugenichts“). Das ist keine Frage von Moral und Ähnlichem, sondern der Grundausstattung der Menschen. Alle Menschen haben Anteil sowohl am Dualen (Irdischen) als auch am Nichtdualen, aber mit jeweils anderem Schwerpunkt: die Macher sind da zu machen und sich dabei in Demut vom „Anderen“ direkt oder indirekt inspirieren zu lassen („Heiliger Geist“) und die Träumer sind dazu da, den Himmel durch sich oder ihr Tun durchscheinen zu lassen, aber in Demut, ohne das normale Leben mit religiösen (z.B.) oder sonstigen Zwängen zu sekkieren oder zu terrorisieren. Wenn die Träumer ausgeschaltet sind, verliert das Ganze sein Gleichgewicht (man könnte auch sagen, es „entartet“) und steuert Richtung (Selbst-)Zerstörung. Eine Welt, in der der Himmel und seine Repräsentanten keinen Platz mehr haben, hat ihre Existenzgrundlage aufgehoben (vgl. auch die Bibel: „wenn nur ein Gerechter in der Stadt lebt, werde ich die Stadt verschonen“).

Wir müssen schon sehen, wie subtil die Ausschaltung der Träumer vor sich gehen kann: durch Bloßstellung etwa. Wenn z.B. eine Lehrerin in der Schule zu einem Kind sagt: „was stehst du herum! Du mit deiner blauen Jacke!“, weil sich das Kind an einem Gedränge (Dualität!) nicht beteiligt, sondern abwartet, bis der Wettkampf um die besten Plätze vorbei ist, so steht hinter dieser harmlos daherkommenden Bemerkung – und die Träumer haben einen ausgesprochen feinen Sinn für das Unausgesprochene, das sich bewusst oder unbewusst hinter solchen Aussagen verbirgt – nämlich eine unterschwellige, letztlich inquisitorische Aggressivität. Das Kind lernt: so wie ich bin darf ich nicht sein. Der Träumer hat schon den (vordergründigen) Nachteil, dass er die besten Plätze nicht ergattert, man muss ihn, wenn man eine Autorität ist (d.h. ein Repräsentant des Ganzen: also des Dualen wie des Nichtdualen und des ausgewogenen Verhältnisses beider zueinander), nicht auch noch bloßstellen. Dem Träumer macht der schlechtere Platz nichts aus, wenn man ihn dort in Ruhe lässt und ihm nicht einredet, dass er bei der Dualität mitkämpfen muss. Dreht man einen Träumer um, wird er entweder zerstört (z.B. Aufenthaltsort: Wien, Karlsplatz - Opernpassage) oder ein zerstörerischer (Pseudo-) Macher: seine innere Ausgerichtetheit auf das Unendliche ins Irdische gezerrt ist dann unendlich zerstörerischer Gigantismus, maßloses und anmaßendes Tun und grenzenloses Übergreifen auf alles und jeden (z.B. unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem). Ein „normaler“ Macher in seinen Grenzen würde nie so weit gehen.

Was hier als Verdrängung des Träumens beschrieben wurde gilt zumindest für die offizielle Welt; mag sein, dass sich unter deren Oberfläche schon etwas ganz anderes zusammenbraut; mag sein, dass die Welt schon mit einer ganz anderen Kulturgestalt schwanger geht.

Wenn die Träumer sich aber darauf einlassen, sich als zu kurz gekommen zu sehen – was wegen der Nichtdualität in einer dualen Welt sehr nahe liegend ist - dann fangen sie an, sich nur mehr mit sich selbst zu beschäftigen und arbeiten so an ihrer eigenen Verhinderung kräftig mit.

© Peter Rumpf Allerheiligen 2007 peter_rumpf_at@yahoo.de

Sonntag, 14. Oktober 2007

26 Nachträgliche Vorbemerkungen

Diese Texte (gemeint sind die Nummern 1-25)oder Versuche oder Essays (frz. essayer erproben) habe ich ab Frühjahr 2007 geschrieben, sie gehen aber zum Teil auf Überlegungen zurück, die ich schon gut zehn Jahre lang angestellt, in mir herumgetragen, aber nie in lesbarer Form niedergeschrieben habe. Es ist nicht soviel; dennoch glaube ich, dass einige der Texte doch eine gewisse Brisanz enthalten, wenn man sie ernst nimmt. Die Numerierung 1-25 entspricht auch der Reihenfolge der Fertigstellung. Für Reaktionen bin ich grundsätzlich dankbar.

Wien, 14.Oktober 2007 Peter Rumpf

Montag, 8. Oktober 2007

25 Entartet

Zu einigen heftigen Protestbekundungen gegen Kardinal Joachim Meisner wegen der Verwendung des Wortes „entartet“ in diesem Satz einer Predigt (15.09.07):

„Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kultus im Ritualismus und die Kultur entartet.“

Es ist interessant zu sehen, wie die Medienmeute auf bestimmte Stichworte wie ein Rudel Pawlowscher Hunde reagiert. Das Wort „entartet“ wurde wie viele Worte und Begriffe von den Nazis missbraucht, dennoch kann dieser Begriff auch sinnvoll verwendet werden: wenn etwas seine Bestimmung verfehlt und vorgibt etwas zu leisten, was es nicht leisten kann.

Die Kunst einer Zeit ist immer der Versuch, das Verhältnis dieser Kultur zum Unendlichen auszudrücken, darzustellen und damit das Unendliche in Gestalten in die Gegenwart zu bringen respektive in die Gegenwart zu lassen (so ungefähr die Definition von Wolfgang Döbereiner). Gelingt dies nicht, ist die Kunst „entartet“, weil sie das, was ihre Art ausmacht, nicht leistet.

So war natürlich die Kunst der Nazis entartet, denn die verlorene Verbindung zur Unendlichkeit wurde mit pseudopathetischen, gewalt(tät)igen und sentimentalen Zeichen vergeblich herbeizuzwingen versucht, was ihre Verlogenheit ausmacht. Während andrerseits vieles, was von den Nazis als „entartet“ gebrandmarkt wurde, zumindest dem Schmerz, der Verzweiflung über den Verlust des Ursprungs Ausdruck verleiht. Dagegen hilft nur eine Wiederbelebung der Verbindung zum Unendlichen und kein Titanismus, keine Orientierung an Destruktivität und Selbstdestruktivität einer entarteten „Kultur“ wie die der Nazis. Grundsätzlich ist die Aussage Kardinal Meisners in seiner Predigt also richtig, zumindest mehr richtig als falsch, vor allem weil er ja einen Tatbestand beschreibt, der nicht nur die Kunst ärmer macht, sondern auch die Liturgie. Natürlich hilft gegen den Verlust der Transzendenz auch keine pseudoreligiöse Zeichensetzerei (weder kirchliche, esoterische noch sonstige), sondern die Verbindung zur Unendlichkeit ist (mehr oder weniger) lebendig oder eben nicht. Nur glaube ich nicht, dass der Großteil der Kunst- und Kulturschickeria so anmaßend gegen die katholische Kirche auftreten muss. Es soll jeder vor seiner eigenen Türe kehren und selber schauen, ob er in seiner Arbeit dem Transzendenten Raum verschafft, oder ob er aus den Versatzstücken seines Scheiterns mittels des Nimbus der „heiligen Kunst“ seine Fragwürdigkeit und innere Leere zu stilisieren, zu erhöhen und zu verschleiern versucht. Mit Scheitern meine ich, dass das Kunstwerk leer ist, weil es nichts Transzendentes transportiert. Und mit Nimbus der heiligen Kunst meine ich, dass Künstler auch dann, wenn sie diesen Anspruch ans Kunstwerk, Transzendentes zu vermitteln, ablehnen, bewusst oder unbewusst eine „Heiligkeit“ ihres Metiers beanspruchen, indem sie einen besonderen Schutz für ihre Arbeit erwarten, oder dass die Freiheit der Kunst höher bewertet wird als andere Rechtstitel, oder den Künstlern überhaupt eine gewisse Sonderrolle in der Gesellschaft zugestanden werden soll („das ist Kunst, das darf man nicht kritisieren!“). Diese Sonderstellung leitet sich historisch aber genauso aus dem Anspruch ab, Transzendentes zu vermitteln, wie beim Anspruch der Religionsgemeinschaften, ihre Lehren und Symbole rechtlich besonders zu schützen.

Freilich wird heutigen Künstlern nicht viel anderes übrig bleiben, als von der schmerzvollen Situation einer Kultur, die den Ursprung verloren hat, auszugehen und er wird vermutlich auch ganz bei sich und dem, was ihm und rund um ihn noch geblieben ist, anfangen müssen; aber es ist eine Frage, ob er dies in Wahrhaftigkeit tut oder in Anmaßung.

© Peter Rumpf 2007

24 Theorie

Wir haben im Deutschen zwei Wörter für den Vorgang des visuellen Wahrnehmens: sehen und schauen. Wir folgen dem Gebrauch der deutschen Übersetzung von Carlos Castaneda „schauen“ für das alltägliche Wahrnehmen, „sehen“ für das Wahrnehmen ohne Beschreibung, wie es bei Castaneda und anderen geschildert wird, zu verwenden. Es heißt ja auch „Seher“, „Seherin“. Es gibt aber auch den umgekehrten Gebrauch; so ist die Rede von der „(mystischen) Schau“. „Schau“ ist auch die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes θεωρία.

Wenn wir heute das Wort „Theorie“ verwenden, meinen wir eher Erkenntnisse nicht aus empirischer Erfahrung, sondern aus Spekulation, Nachdenken, sprachlicher Untersuchung, Logik und Ähnliches oder auch aus Nachdenken über die realitätsstiftende Funktion von Sprache, darüber also, wie die Sprache als Hauptträger und Medium des „menschlichen Inventars“ das Wahrgenommene und die Wahrnehmung selbst beeinflusst und konstituiert.

Tendenziell wird Empirie und damit die empirische Forschung als realer, und daher wertvoller betrachtet.

Das griechische Wort „theoria“ bedeutet laut Mackensen, Ursprung der Wörter, „Beschauen, Untersuchung“ vom Zeitwort theorein „besehen“ von thea „Schau(spiel); (vgl. auch: „Theater“)

Nun stand das Schauspiel ursprünglich in einem religiösen Kontext. Es ist der Versuch, das Wirkende in Gestalten sichtbar, hörbar und verstehbarer zu machen (so ungefähr W. Döbereiner). Das Drama spielt demnach noch jenseits unserer Alltagswelt, noch vor dem Leben, jenseits unserer irdischen Welt und ihrer Bedürfnisse und Zwänge (und deshalb müssen die Gestalten auf der Bühne – im Gegensatz zu den Stücken von Wolfgang Bauer – auch nicht scheißen gehen). Wie W. Döbereiner sagt: das Drama findet im 3. Quadranten, näher: im 7. Haus, dem Begegnenden statt und nicht im 1. und 2. Quadranten. Es sind, so sagt W. Döbereiner, die Dramen Denkprozesse in Dialogform, der 3. Quadrant, der in sprechenden und agierenden Gestalten das Wirkende, den 4. Quadranten, zur Sprache bringen will. Der Zuschauer schaut auf das Drama, um über die Gestalten, die aus dem Wirkenden kommen, einen Blick auf dieses Wirkende, den Himmel erhaschen zu können. Ist der Himmel ausgeschlossen, haben die Gestalten des Dramas ihren „transzendentalen“ (oder wie immer genannt) Hintergrund verloren, werden stumpf, ohne Glanz und der Zuschauer schaut nur mehr in einen Spiegel, in dem sich das unerlöste, langweilige, vergebliche Verhalten des unerlösten, beschränkten Alltagsmenschen spiegelt. So wie beim Wolfgang Bauer - Stück „magic afternoon“, das nur eine Tonbandaufnahme einer W. Bauer – Party (ich kenne eine solche aus eigener Teilnahme und Erfahrung) wiedergibt. Die Fadheit und Unerleuchtetheit wird mit Alkohol und anderem zu überspielen versucht, der Mensch bestätigt und bestärkt sich in seiner Haltung, dass eh alles Scheiße und vergeblich ist, was ja stimmt, wenn die Verbindung zur Transzendenz abgerissen ist, bzw. verleugnet wird. So ein „afternoon“ ist wirklich nicht magisch, im Gegenteil! Denn so ein Drama dient nicht zur Erhellung, nicht zur Freude, höchstens der Genugtuung, dass die eigene Überzeugung von den vermeintlichen, in Wirklichkeit aber falschen „Tatsachen“ über die Welt und dass sie so sein muss, wie sie ist, bestätigt wird. Man amüsiert sich höchstens (oder ist sentimental gerührt), dass die Gestalten, die da oben auf der Bühne herumtaumeln und die ja im Drama einmal „heilige“ Gestalten waren, genauso verloren, orientierungslos und gescheitert sind wie man selbst. Man beruhigt sich kurz daran, dass es keine Weiterentwicklung, keine Befreiung geben kann, und dass damit das eigene Versagen gerechtfertigt ist. Aber nur kurz: bis sich der „innere Seher“ (C. Castaneda), die nie ganz angerissene Verbindung zur Unendlichkeit, wieder meldet und einem sagt, dass dem nicht so ist.

Wir fassen zusammen: das Wort Theorie kommt vom Schauen aufs Theater, über das man in die Transzendenz schauen will. Und entscheidend ist, ob der Blick aufs Drama durchlässig auf den Himmel sein kann oder nicht, ob das Drama den Blick weiterleitet oder ein stumpfer Spiegel ist, in dem sich die Gefangenschaft des Alltagsmenschen in seiner beschränkten Wahrnehmung widerspiegelt. Aber in diesem Kontext ist es klar, warum ursprünglich die Theorie höher eingestuft wurde als die eingeschränkte und verkürzte Empirie unserer Raubtieralltagswelt („was gibt es zu fressen?“, „was gibt`s zu trinken?“, „wie schaut´s futmäßig aus?“).

Von Castaneda her gesehen wäre noch zu sagen, dass das „Sehen“, die „Schau“ jenseits jeden Inventars und jeder Beschreibung und somit auch jeder Gestalt eine entfaltete und ganzheitliche Erfahrung und somit sozusagen „Empirie“ ist.

Es stellt sich die Frage, ob mit der „Schau“, die das Wort „Theorie“ bezeichnet, ursprünglich dieses „Sehen“, wie es bei Castaneda beschrieben ist, gemeint ist, oder immer schon das Schauen auf das Drama. Dieses wiederum kann dann auch näher am Sehen sein oder weiter weg.

© Peter Rumpf 2007

23 Vier und eins

Bei Carlos Castaneda wird beschrieben, dass ein Seher vier Typen der männlichen Aktivität und Persönlichkeit unterscheiden kann:

„Der erste Typ ist der kenntnisreiche Mann, der Gelehrte; ein edler, zuverlässiger, heiterer Mann, ganz dem Vollbringen seiner Aufgabe hingegeben, was immer sie sein mag.

Der zweite Typ ist der Mann der Tat, höchst unbeständig, ein großartiger, temperamentvoller, wankelmütiger Gefährte.

Der dritte Typ ist der Organisator hinter den Kulissen; der geheimnisvolle unbekannte Mann. Über ihn kann nichts gesagt werden, weil er über sich selbst nichts bekannt werden lässt.

Der Kurier ist der vierte Typ. Er ist der Gehilfe, ein verschwiegener schwermütiger Mann, der sich gut bewährt, wenn er richtig geführt wird, der sich aber nicht allein behaupten kann.“

(Carlos Castaneda, Die Kunst des Pirschens; S 180)

(im Reich der Frauen existiert die gleiche Struktur; sie wird anders beschrieben und ist auch am oben angegebenen Ort nachzulesen.)

Sieht der Seher einen Menschen, so sieht er ihn als „leuchtendes Ei“ mit zwei Abteilungen, und die Merkmale der vier Typen am leuchtenden Körper unterscheidet er so:

„Der Gelehrte hat so etwas wie eine flache Delle, eine leuchtende Vertiefung in der Gegend seines Solarplexus. Bei manchen Männern erscheint sie als eine Ansammlung intensiver Leuchtkraft, manchmal sogar glatt und glänzend wie ein Spiegel ohne Spiegelbild.

Der Mann der Tat hat einige Fasern, die von der Region des Willens ausgehen. Die Zahl der Fasern schwankt zwischen einer und fünf; ihre Größe zwischen einem dünnen Faden und einem dicken, peitschenförmigen Tentakel, fünf bis acht Fuß lang. Bei manchen Männern sind bis zu drei dieser Fasern zu Tentakel entwickelt.

Der Mann hinter den Kulissen ist nicht an einem besonderen Merkmal zu erkennen, sondern an seiner Fähigkeit, ganz unwillkürlich einen Ausbruch der Kraft zu erzeugen, der die Aufmerksamkeit des Sehenden wirksam blockiert. In der Gegenwart dieses Männertyps wird der Seher von belanglosen Details angezogen, statt zu sehen.

Der Gehilfe hat keine erkennbare Struktur. Den Sehenden erscheint er als klarer Glanz in einer Hülle fleckenloser Leuchtkraft.“ (S 181)

Dann gibt es noch einen besonderen fünften Typus, den die Seher „Doppelwesen“ oder „Nagual-Mann“, „Nagual-Frau“ nennen, weil er dem Sehenden als leuchtendes Ei mit vier statt zwei Abteilungen erscheint.

„Was den Charakter betrifft, so ist der Nagual-Mann hilfsbereit, stetig, unwandelbar. Die Nagual-Frau ist ein streitbares Wesen, und doch entspannt, immer wachsam, aber ohne Anstrengung. Beide reflektieren die jeweiligen vier Typen von Männern und Frauen als vier Arten des Verhaltens.“ (S 181f)

Das heißt aber auch, dass die Doppelwesen angeborenerweise doppelt so viel Energie haben. Diese doppelte Energie drängt den Nagual-Mann (das gilt auch für die Nagual-Frau, ich bleibe jetzt aber wieder im Reich der Männer) dazu, den „verborgenen Durchlass“ zum Unendlichen zu suchen und sie sind „fähig, einen Schutz- oder Tarnschirm um sich zu schaffen“ (C. Castaneda, Die Kraft der Stille; S 35). Diese Typen sind also die „natürlichen Führer der Menschheit“, die kraft ihres Doppelseins die Fähigkeit angelegt haben, auch für andere die Verbindung zum Unendlichen herzustellen, weil dieser Typus „das Abstrakte, den Geist besser reflektieren kann als andere. Das ist aber auch alles. Unsere Verbindung besteht mit dem Geist selbst, und nur nebenbei mit der Person, die uns dessen Botschaft bringt“ (C. Castaneda, Die Kunst des Träumens; S22). In unserer Tradition könnte man dabei an die Erzählungen von Moses denken – er führt sein Volk aus der Gefangenschaft und kann auch eine direkte Verbindung zum Unendlichen herstellen und seine Erkenntnisse daraus in für seine Leute verbindliche Form bringen (als Religionsstifter z.B.).

Man kann in unserer Kultur dabei vielleicht auch an die Idee des „König von Gottes Gnaden“ denken (Idee! Es sind vermutlich nur wenige in diesem Sinn echte Könige auf den Thronen gesessen), weil ja die doppelte energetische Ausstattung kein Verdienst, sondern ein Geschenk ist.

Festzuhalten ist auch, dass dieses Doppeltsein eine Anlage ist, die zum Guten oder Bösen verwendet werden kann, denn ein Doppelwesen kann andere allein durch seine Anwesenheit (die Anwesenheit seiner doppelten Energie) stark beeinflussen und zur Übereinstimmung „zwingen“, vergleichbar mit einem starken Magneten, dessen Magnetfeld entweder zur Anziehung oder zur Abstoßung zwingt. Die Gefahr besteht, das ein „Doppelwesen“, das sich der Gnade seines Doppeltseins nicht bewusst ist, viel anrichtet, wenn er andere nach seinem Maßstab misst. Denn wie das energetische Doppeltsein als solches kein Verdienst ist, ist auch das energetische Einfachsein als solches kein Versagen.

Aufgrund all dessen stellt sich die Frage, ob unsere Ideen über die soziale Ordnung tatsächlich die Natur des Menschen berücksichtigen oder nicht. Was soll man denn mit den Doppelwesen oder den Gehilfen, die geführt werden müssen, anfangen, wenn die Vorstellung vorherrscht, dass ein jeder ein Souverän, ein Einzelunternehmer, eine Ich-AG ist? Aber das sind Spekulationen, denen ich jetzt nicht zuviel nachgeben will.

© Peter Rumpf 2007

21 Jungfräulichkeit

Vielleicht hatte der Begriff „Jungfräulichkeit“ einmal etwas anderes bedeutet, jedenfalls gibt es dabei Einiges zu ergänzen.

Die Zauberer aus dem Umkreis von Carlos Castaneda – vor allem nachzulesen bei den Anthropologinnen und Zauberinnen Florinda Donner-Grau und Taisha Abelar – sagen, dass beim Geschlechtsakt der Mann in der Gebärmutter der Frau „Energiewürmer“ hinterlässt, die dann kontinuierlich ungeheure Mengen Energie von der Frau zum Mann umleiten. Die Gebärmutter der Frau hat ein zweifaches Potential: das der Reproduktion und ein zweites magisches, nämlich eine direkte Verbindung zur Kraft, die das Universum trägt, herzustellen und aufrecht zu erhalten. Und zwar ohne „Denken“, ohne sprachliche und sonstige Vermittlung, ohne Religionssystem etc., also direkt. Dieses Potential hat der Mann nicht. Verbraucht die Frau all ihre Energie für Reproduktion und Männer, verliert sie ihr magisches Potential und ihre natürliche Überlegenheit über den Mann. Dies ist übrigens – so sagen die Zauberer – der einzig wirkliche Grund für die Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft: dass sie ihre ganze Energie für Sex ausgibt und dabei die an sich unterlegenen Männer energetisch hochpäppelt, und dann keine Energie mehr für ihre magischen Fähigkeiten bleibt.

Eine „jungfräuliche Frau“ könnte demnach eine Frau meinen, die keine Männer energetisch ernährt.

Diese Sichtweise der energetischen Vorgänge haben die Zauberer nicht aus Nachdenken und Spekulation gewonnen, sondern aus „Sehen“: „sieht“ ein Zauberer ein Paar beim Geschlechtsakt – er muss dabei nicht körperlich anwesend sein und er sieht das Paar dabei als Energiekörper – sieht er, wie die Energiewürmer übertragen werden und dann sofort beginnen, Energie von der Frau abzuziehen.

Nun ist es so, dass eine Frau alle ihre Energiewürmer loswerden kann, wenn sie sieben Jahre enthaltsam lebt, weil dann die Energiewürmer absterben. Aber bevor sie absterben fangen noch alle Energiewürmer – die vom ersten bis die vom letzten Mann - an, wie wild zu vibrieren und machen die Frau – sagen wir einmal – unruhig und es fällt ihr schwer, enthaltsam zu bleiben.

Diese Energiewürmergeschichte könnte erklären, warum in vielen Kulturen so viel Wert darauf gelegt wird, dass die Frau jungfräulich in die Ehe geht; wohl weniger aus Sorge um den Energiehaushalt der Frauen, sondern weil die Männer sicher sein wollen, dass sie eine Frau heiraten, die ausschließlich sie selber energetisch ernährt und nicht noch andere Männer mitfüttert.

Dies könnte auch erklären – erklären, nicht rechtfertigen! – wieso in Kriegen und bei Eroberungen Vergewaltigungen so häufig sind: man will die Energien der besiegten Völker rauben.

Und sie könnte erklären, warum die Männer immer nur das „Eine“ wollen: sie wollen die Energien der Frauen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass das katholische Eherecht bei „korrekter“ Eheschließung keine Scheidung kennt, außer wenn die Ehe noch nicht vollzogen wurde, also wenn kein Geschlechtakt stattfand und also noch keine energetische Verbindung zwischen Mann und Frau hergestellt wurde.

Interessant auch, dass im katholischen Kirchenrecht bei allen Eheungültigkeits- und Trennungsverfahren etc. ein „defensor vinculi“, also ein „Bandverteidiger“ vorgesehen ist; es verhandeln also nicht nur die Ehepartner, sondern als Dritter dieser „Bandverteidiger“ mit, der sozusagen die „Interessen“ des Ehebandes artikulieren soll.

Es geht mir nicht darum, ob diese Ehegesetze richtig oder falsch, klug oder unklug sind, sondern allein darum, ob in der Idee des unabhängig von den Wünschen, Vorstellungen und Launen der Partner real existierenden Ehebandes nicht eine Ahnung von den tatsächlichen energetischen Abläufen – Energiewürmer stellen eine Energieverbindung her, die durch einen Willensakt allein nicht mehr zu lösen ist – durchkommt. Noch dazu, wo im orthodoxen Kirchenrecht eine Wiederverheiratung Geschiedener sehr wohl möglich ist, aber erst nach Ablauf von sieben Jahren von der Scheidung an, die - da im christlichen Denken Sexualität nur in der Ehe vorgesehen ist - eigentlich enthaltsam verbracht werden müssten. Es ist, genauso wie bei uns, nicht anzunehmen, dass im Bereich der Orthodoxie die Mehrheit der Gläubigen sich an die Vorgaben des kirchlichen Eherechts halten, aber würde ein Paar nach sieben Jahren Enthaltsamkeit heiraten, würde die Frau keinen anderen Mann mehr energetisch ernähren.

Noch einmal: es geht mir nicht um eine Bewertung dieser Gesetze und Vorschriften, sondern ob da unbewusst eine Ahnung energetischer Tatsachen durchschimmert, egal, ob die daraus gezogenen Schlüsse richtig oder falsch sind.

Auch die Rede von der „Jungfrau Maria“, die ja Jesus von Nazareth geboren hat, klingt weniger absurd, wenn man die Jungfräulichkeit unter dem Gesichtspunkt der Energiewürmergeschichte sieht, da sie ja nach der Geburt Jesu enthaltsam gelebt und keinen Mann energetisch ernährt haben könnte. Ich weiß nicht, wie es war, und auch nicht, ob meine Spekulationen darüber richtig sind, aber jedenfalls muss Maria das Meiste ihrer Energie für die direkte Verbindung zur „Absicht“ (auch so nennen die Zauberer die Kraft, die das Universum trägt) eingesetzt haben, sonst könnte sie nicht leiblich „in den Himmel aufgefahren“ sein.

© Peter Rumpf 2007

22 Weitergabe von Leben und Bewusstsein

Aus „energetischer“ Sicht dient Sex ausschließlich der Weitergabe von Leben und Bewusstsein – die energetischen Vorgänge laufen genau in diesem Sinn ab.

Insoferne war in der alten katholischen Morallehre die Definition des Zwecks der Sexualität (im Verständnis dieser Morallehre ist die Ehe der einzige legitime Ort dafür) als Zeugung von Nachkommen richtig. Falsch war wahrscheinlich die Beschreibung dieser energetischen Tatsache nicht in der Form einer „transzendentalen“, sondern einer juridischen oder moralischen Aussage. Das ist eine wesentliche Akzentverschiebung vom Transzendenten zum Sozialen, das heißt, auf die Herde und ihre Ordnung bezogen. Das führte im Laufe der Zeit zu allen möglichen Verbiegungen und Verklemmungen. Diese energetische Tatsache bedeutet ja nicht, dass Sex nicht Lust bereiten darf; im Gegenteil: je erregter die Eltern bei der Zeugung ihrer Kinder sind und je mehr von ihrer Energie dadurch in ihrem Inneren vibriert, desto mehr Energie bekommen ihre Kinder mit auf den Lebensweg. Diese Energie stammt also aus dem elterlichen Energievorrat.

Als beim II. Vatikanischen Konzil die alte Definition vom Zweck oder Sinn des Geschlechtsaktes und der Ehe verändert wurde zu der Definition, dass der Ehebund „auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist“ (codex iuris canonici; can. 1055), wurde vermutlich der transzendentale Aspekt der Definition durch die Primärsetzung des Wohls der Ehegatten weiter abgeschwächt und sie noch mehr zu einer sozialen Aussage gemacht; sozial, weil an innerweltlichen, innermenschlichen Vorstellungen und Bedürfnissen gebunden.

Bei allem Verständnis für das Bedürfnis, in diesem Zusammenhang die juristische und moralische Verengung loszuwerden, hat dabei die Kirche ein Stück ihrer Aufgabe als Orientierungsinstitution, Wissenswertes über das der alltäglichen und menschlichen und sozialen Welt vorgelagerte und sie begründende und tragende Wirkende zu artikulieren, aufgegeben. Es bleibt natürlich die Problematik solcher Orientierungsinstutionen überhaupt, übernommenes Wissen ohne eigenen Erfahrung zu tradieren, aber man kann spekulieren darüber, ob die gesellschaftliche Entwicklung anders verlaufen wäre, hätte die Kirche diesen Schritt nicht getan. Im heutigen common sense wird ja Sex als soziales Allheil- und Trostmittel für alles und jeden, unabhängig von der Weitergabe von Leben und Bewusstsein, zum (falsch verstandenen) „Wohle der Partner“ aufgefasst.

Es ist aber eine Illusion zu glauben, man mache halt mit jemandem nur so Sex und dann ist alles wieder vorbei. Die energetischen Vorgänge bewirken auch bei Verhütung, dass die Frau ständig Energie an den (auch ehemaligen) Sexualpartner liefert und dass der Mann dadurch in eine gewisse (soziale?) Abhängigkeit von der Frau, die den Mann über seine „Energiewürmer“ in ihr beeinflusst und energetisch an sie bindet, gerät. Von der Natur vermutlich zur besseren Versorgung der Nachkommen so eingerichtet – womit wir wieder bei der alten Definition vom Zweck von Sexualität und Ehe wären.

(Viel lustiger ist darüber im Buch von Carlos Castaneda, „Das Feuer von Innen“, S 66ff, nachzulesen).

© Peter Rumpf 2007

20 Christentum und Germanen

Bei der Übernahme des Christentums gibt es erhebliche Unterschiede zwischen der der Römer und Griechen einerseits und der der Goten und Germanen andererseits. Bei aller Verdrängung der antiken heidnischen Kultur durch das Christentum ist diese doch in der antiken christlichen Kultur „aufgehoben“: Kult- und Organisationsformen werden übernommen und assimiliert, Heilige übernehmen Zuständigkeiten von heidnischen Göttern und ersetzen so bis zu einem gewissen Grad den komplexen antiken Götterhimmel, der gerade der Volksfrömmigkeit in ihrem Bedürfnis, alle wichtigen Lebensabschnitte und Lebensbereiche abzusegnen, entgegenkommt. Und vieles andere mehr. Das heißt also, die christlich römische Kultur gehört trotz aller Brüche zur Spätantike und setzt sich auch in der katholischen Kirche weiter fort. (Zumindest bis zum zweiten Vatikanischen Konzil).
Ganz anders bei den Germanen: Sie übernehmen (freiwillig oder unfreiwillig) mit dem römischen Christentum eine andere, schriftsprachliche Kultur – ohne diese Schriftkultur aus der eigenen Kultur und Tradition heraus entwickelt zu haben. So bleibt das Lateinische die Schriftsprache und die Schriftkultur der Kirche als Fortsetzerin der lateinischen Antike vorbehalten. (Man vergleiche das englische Wort „clerk“ – Schreiber, Sekretär mit „Kleriker“).
Bei dieser Übernahme muss die eigene germanische Tradition abgestoßen und für ungültig erklärt werden und die eigenen Vorfahren verteufelt - die sind nach damaliger kirchlicher Auffassung in der Hölle - im Gegensatz zur Christianisierung der römischen und griechischen Heiden, wo es die Möglichkeit einer nachträglichen Taufe der bereits gestorbenen heidnischen Vorfahren gab – also eine Hereinholung der heidnischen Ahnen ins Christentum.
Ein solches Aufheben der eigenen Geschichte ist nur dann ohne Zerstörung möglich, wenn sie nicht eine Überschreitung in eine andere Kultur oder Identität, sondern tatsächlich in die Transzendenz der Unendlichkeit erfolgt und gleichzeitig mit einer nüchternen, gründlichen und echten, energetischen Aufarbeitung dieser Geschichte einhergeht. (Castaneda, Abelar und Donner-Grau beschreiben dies beim Individuum als „Rekapitulation“).
Die wie oben beschriebene missglückte „Rekapitulation“ der Germanen hat weitgehende Folgen für die Identität einer Kultur und ihrer Mitglieder: Der fränkische König muss seinen Stammbaum von König David ableiten, um sich als christlicher König legitimieren zu können, während er seinen wirkliche Stammbaum verdrängen muss. Er muss sich als „Sohn Davids“ stilisieren. Man kann ahnen, was passiert, wenn ihm oder seinen Stammesbrüdern ein wirklicher „Sohn Davids“, ein Nachkomme und Erbe der Hebräer, gegenübertritt und allein durch seine Anwesenheit diese Konstruktion ins Wanken bringt.
Man kann es auch bei Luther beobachten: während Italien in der Renaissance auf die eigene antike Tradition zurückblickt, dreht sich Luther um und sieht - nichts; zumindest nichts, was er akzeptieren kann. Höchstens schimmert noch die verteufelte, alte schamanistische Tradition durch. Er muss also die Bibel (wichtig auch das alte Testament als innerbiblische Vorgeschichte) hernehmen und das mit der Rabiatheit und dem Fanatismus desjenigen, der spürt, dass da etwas nicht stimmt, es aber nicht wahrhaben will. Die unangenehm durchschimmernde schamanistische Tradition wird – nicht nur bei Luther, aber doch vor allem in den germanischen Ländern – im Hexenwahn bekämpft und zu verdrängen versucht.
Überhaupt kann man bei Luthers Schriftfixiertheit spüren, dass in seiner Kultur der jahrhundertelang eingeübte Umgang mit Schriften und Büchern und die daraus resultierenden Umgangsformen fehlen: er starrt mit verbissenem Tunnelblick auf die Schrift als würde er gerade erst lesen lernen. Es fehlt jede Leichtigkeit.
Es ist auch klar: „sola scriptura“, nur die Schrift! Sicher, denn die eigene Tradition ist verdrängt. Nicht so im römisch-katholischen Bereich.: dort heißt es „Schrift und Tradition“. 
(Ergänzung 12.11.2013: Folgerichtig wird auch das alte Testament als Geschichts- und Traditionsersatz für die eigene verdrängte tatsächliche Geschichte hergenommen.)
Man denke aber auch als Beispiel an den Fanatismus eines Bonifazius, der die von den Germanen als heilig verehrten Bäume fällte (eine Tat, die in der Aufbruchsstimmung des zweiten Vatikanischen Konzils von vielen Theologen als fortschrittliche Entmystifizierung der Natur und Verfügbarmachung derselben für Wirtschaft, Industrie und technologischen Fortschritt im Dienste der Menschheit gefeiert wurde). Oder an Bonifazius’ Hysterie, als er feststellte, dass ein Priester – offensichtlich konnte der nicht gut Latein – einen Fehler in der Taufformel hatte und deshalb dessen Taufen für ungültig erklären wollte. Der Stamm des Bonifazuis war gerade erst bekehrt worden und deshalb auch hier dieser fanatische Tunnelblick.
Diese Gedankengänge sind in der Kürze etwas grob gezeichnet und man müsste auch einiges genauer überprüfen.
Es gab ja nicht nur Bekehrungen aus politischer Berechnung oder durch Gewalt, sondern auch solche aus echtem Interesse am „ewigen Leben“. Fragt sich nur, ob die Kirche das Versprechen, darüber etwas Verbindliches sagen zu können, einlösen und die darauf gerichteten Hoffungen erfüllen konnte.
Außerdem möchte ich noch ein mögliches Missverständnis vermeiden: alle Versuche, sozusagen eine vorchristliche germanische Kultur in irgendeiner Gegenwart zu kreieren, können nicht gelingen. Es gehört dieser oben beschriebene Bruch und die daraus erfolgte christliche Geschichte inzwischen zu unserer Geschichte, die wir als solche annehmen müssen.
© Peter Rumpf 2007

19 Vergleiche

Durch die Beschäftigung mit Carlos Castaneda einerseits und dem Christentum (und der Münchner Rhythmenlehre) andrerseits bin ich schon auf die Idee gekommen, manches zu vergleichen – auch wenn das fragwürdig ist. Schließlich geht es ja darum, sein Leben in Balance zu bringen und so zu ändern, dass der „energetische Zwilling“ (oder wie man seinen sehenden, transzendenten Teil nennen will) mit seinen Botschaften durchkommt und schließlich zur „Ganzheit des Selbst“ (C. Castaneda) integriert wird; aber nicht darum, verschiedene Denkmodelle zu vergleichen und gegeneinander auszuspielen und für die dualen Spielchen des Ego zu verwenden. Oder wie es bei Castaneda und seinen Leuten heißt: „Philosophen sind meist gescheiterte Zauberer“, sie denken und reden, aber sie sehen nicht – ähnlich, wie auch Theologen gescheiterte Christen sein können.

In der schamanistischen Tradition des Carlos Castaneda wird der Name „Tonal“ verwendet für alles, was es gibt, unter dem Aspekt, dass es uns bekannt ist. Der Name „Nagual“ für alles unter dem Aspekt, dass es uns unbekannt ist. Fürs „Tonal“ haben wir Begriffe, Ideen, Bilder, etc., fürs „Nagual“ nichts dergleichen. Tonal und Nagual sind nur Namen, um den eigentlichen und ursprünglichen Gegensatz zu bezeichnen, wobei das Bild, dass das Tonal wie eine Insel im Meer des Nagual schwimme, verwendet wird, um uns eine vage Ahnung vom Verhältnis zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten zu geben.

Mit dem Tonal haben wir es zu tun, wenn wir auf die Welt „schauen“, mit dem Nagual, wenn wir „sehen“. Beim „Schauen“ reduzieren wir die Welt auf die uns bekannten Raum- Zeitkoordinaten, Dinge usw., beim „Sehen“ nehmen wir die Welt so wahr, wie sie eigentlich ist. Das Tonal ist das Ergebnis unserer kollektiven Übereinkunft über die Art und Weise unserer Wahrnehmung, vom ersten Augenblick der Geburt eingeübt, und hat daher mit uns als sozialer Person zu tun: diese Konstruktion konstruiert (und reduziert) nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch uns als soziale Person. Nur über diese soziale Person ist eine Psychologie möglich. Jenseits des Tonal, im Nagual, gibt es keine Begriffe etc., daher auch keine soziale Person, daher entzieht sich dieser Bereich einer Psychologie. Das gilt auch für einen Menschen, der seinen „Zwilling“ integriert hat; auch über ihn und sein Wirken ist kaum eine Psychologie möglich und kaum eine Bewertung. Deshalb schreibt auch Romano Guardini im Vorwort zu seinem Buch „Der Herr“ ganz richtig, dass es keine Psychologie Jesu geben kann, respektive nur in sehr engen Grenzen.

Es könnte ja sein, dass in der christlichen Lehre von der menschlichen und der göttlichen Natur Christi und ihrer Einheit (unvermischt, untrennbar, ungeteilt) das Verhältnis von Tonal und Nagual in uns als menschliche Lebewesen zu artikulieren versucht wird; (Nachtrag dazu 21.4.2009: C.Castaneda, Der Ring der Kraft, Seite 275: "...das Tonal und das Nagual sind zwei zusammengehörige Teile unseres Selbst. ... Sie können nicht ineinander übergeführt werden.") nämlich die Tatsache, dass wir nicht nur Anteil am „Tonal“, sondern über die fast unterbrochene, aber eben nicht trennbare Verbindung zu unserem energetischen Zwilling, der beim Alltagsmenschen ein weggedrängter Teil von uns ist, einen Anteil am „Nagual“ haben, und den wir zu einer Einheit mit dem anderen Teil führen können - zur „Ganzheit des Selbst“, in der sich die „soziale Person“, das Ich, zum eigentlichen Selbst weiterentwickelt und ganz dem Wirken der Unendlichkeit fügt. (Nachtrag 21.4.2009: wie es auch einem christlichen Dogma heißt, dass Christus entsprechend seinen zwei Naturen zwei Willen hatte und dass sich sein menschlicher Wille dem göttlichen fügte)

Es könnte ja sein, dass sich in der Lehre von der natürlichen und der übernatürlichen Gotteserkenntnis und ihres Verhältnisses zueinander die Ahnung von den beiden Möglichkeiten der Wahrnehmung - als „Schauen“ und als „Sehen“ - irgendwie widerspiegelt. Denn unser „stilles Wissen“ (Castaneda) versucht auch bei uns Alltagsmenschen ständig ins Bewusstsein durchzukommen.

Die Frage bleibt aber, ob in der Lehre von Jesus als Sohn Gottes diese oben beschriebene Möglichkeit der Einheit der „zwei Naturen“ (Tonal und Nagual) nicht doch von uns normalen Menschen weggeschoben wird, während sie in Wirklichkeit allen Menschen zustünde.

Oder, wie es bei Castaneda heisst: „I know that human beings are creatures of awareness, involved in an evolutionary journey of awareness, beings unknown to themselves, filled to the brim with incredible resources that are never used,“ (Magical Passes) und: „Die Welt ist unergründlich. Wir sind es auch, genau wie alle Wesen, die es auf dieser Welt gibt.“ (Das Rad der Zeit; Seite 125).

© Peter Rumpf 2007

18 Brot und Wein

In der Münchner Rhythmenlehre des Astrologen Wolfgang Döbereiner werden die vier Quadranten des Horoskops – von mir jetzt ganz verkürzt und vereinfacht – in etwa so beschrieben:

Der vierte Quadrant stellt das Wirkende dar – das umfasst den „Bereich“ der Ewigkeit, wo alle Gegensätze und Augenblicke zusammenfallen, und aus dem im Ursprung – in der Trennung von Endlich und Unendlich – die Welt und alles Endliche geschöpft wird und seine Bestimmung erhält, nämlich - je nach dem – das Tannenhafte, das Löwenhafte, das Menschenhafte usw., das die Definition von Tanne, Löwe, Mensch etc. enthält, aber noch vor aller Zeit und vor aller Sprache und Individualität.

Erst im dritten Quadranten tritt das Wirkende in die Zeit und erhält eine Gestalt und wird so zum Wirk-lichen gefügt. Diese Gestalt gehört dann schon der Zeit an, damit einer bestimmten Sprache und Kultur, einer „Philosophie“ und Vorstellungswelt.

Der vierte Quadrant repräsentiert das „Heilige“, der dritte das „Religöse“ im Sinne einer (hoffentlich) an das Heilige rückgebundenen Denk- und Vorstellungswelt (Religion).

Beide Quadranten sind noch jenseits des Individuums und im persönlichen Horoskop „gehören“ sie einem nicht, sondern repräsentieren das, was einem vom Himmel zukommt, entweder als dann im Empfinden (zweiter Quadrant) direkt aus dem vierten Hochsteigendes, oder als einem jenseits des Subjekts im dritten Quadranten Begegnendes (als fremde Person, als Idee etc.).

Die irdische Wirklichkeit wird also durch die zwei unteren Quadranten dargestellt: der erste Quadrant stellt die Wirklich-keit hinsichtlich ihrer physischen, dinghaften, messbaren, statischen Seite dar. Beim Menschen gehört da auch sein Status in der Herde dazu; das Ego und seine Ansprüche (ich bin Erster, du bist Zweiter oder umgekehrt…).

Der zweite Quadrant repräsentiert die subjektive, seelische, lebendige, vitale Seite der Wirklichkeit; beim Menschen das Subjekt mit seinen Empfindungen, Impulsen etc. Das als Einleitung.

In der lateinischen Kirche und ihrem Bereich hat sich über Jahrhunderte der Streit um den „Laienkelch“ gezogen; der Streit darüber, ob auch Laien (oder wie üblich nur Priester) die Kommunion nicht nur in der Gestalt des Brotes, des Leibes Christi, sondern auch in der Gestalt des Weines, also des Blutes Christi, empfangen dürfen. Dies wurde von den meist adeligen Religionsbehörden abgelehnt, war aber eine ständige Forderung der Reformkräfte, in den Bauerkriegen usw.

Wenn wir auf die Lehre der Quadranten nach Döbereiner zurückgreifen, können wir die Wichtigkeit dieser Frage leicht begreifen: wir können die Arbeit der Religion beschreiben als den Versuch, das Wirkende des vierten Quadranten in Form eines Denk- und Vorstellungsgebäudes im dritten Gestalt und Lehre werden zu lassen und so aussagbar zu machen, aber auch das Wirkende in bildhaften Handlungen und Gesten in der Wirklichkeit der beiden unteren Quadranten anwesend und sichtbar und wirksam zu machen bzw. richtiger: wirksam, sichtbar, anwesend werden zu lassen.

Im Christentum ist dies vor allem die Verwandlung der irdischen Dinge Brot und Wein in die himmlischen „Dinge“ Leib und Blut Christi, in denen der Himmel hier auf Erden anwesend wird, aber auch der Möglichkeit, durch das Essen der in Leib und Blut Christi – also in seine ganze Wirklichkeit verwandelten Gestalten Brot und Wein am Wirkenden Anteil zu erhalten.

Wobei das Brot dem physischen, statischen Aspekt der Wirklichkeit zuzuordnen ist (es wird ja auch im Herd, dem zentralen Ort der Herde, erster Quadrant, gebacken), der Wein dem seelischen, vitalen, subjektiven Aspekt der irdischen Wirklichkeit.

Wenn jetzt aber die Laien vom Kelch ausgeschlossen sind, dann heißt das, dass sie nicht „Subjekte“ ihres Glaubens sein dürfen, sondern nur „Statisten“, denen von Funktionären der Religionsbehörden ihr Platz in der Kirche, ihre Gebete, das, was sie im Gottesdienst zu sagen und zu tun haben etc., vorgeschrieben wird. Sie dürfen nicht aus ihrem Empfinden und Erleben heraus formulieren, dürfen nicht ihre Erfahrungen artikulieren, sondern sind bloße Objekte einer religionsbehördlichen Bearbeitung, aber keine „Subjekte“. Sie sind nicht am Blutkreislauf des Christentums angeschlossen. Das dürfte der ständige Stachel für diesen Streit gewesen sein.

Man gewinnt ja den Eindruck, dass sich die lateinische antike christliche Welt nach der Völkerwanderung und dem Untergang des (politischen) römischen Reiches „beleidigt“ in ihre Landhäuser zurückgezogen hat (Augustinuns, der Begründer der abendländischen klösterlichen Tradition z.B.) und daher eine große Reserviertheit gegenüber den „Völkern“ („Laie“, verwandt mit dem griechischen Wort „laos“, Volk) – ob schon christlich oder erst nachher christlich geworden – geblieben ist und weitertradiert wurde.

Dazu passt auch, wie der Papst – ähnlich wie der antike römische Kaiser – versucht, mit seinen Edikten den Weltkreis zu regieren.

Wie nun die im römischen Verband lebenden „Völker“ mit dieser Situation „umgehen“ und wie sie (als „Statisten“) darauf angemessen und für die Zukunft fruchtbar reagieren und (als „Subjekte“) handeln können, beziehungsweise in der Vergangenheit reagieren und handeln hätten können, ist eine ganz andere Frage und steht auf einem anderen Blatt.

© Peter Rumpf 2007

17 Von unseren Talenten

Bei Matthäus (25; 14 – 30) wird das Gleichnis von den Talenten erzählt: ein Herr vertraut seinen Dienern, da er auf Reisen geht, sein Vermögen an. Einer bekommt fünf Talente Silbergeld, der Zweite zwei, der Dritte eines. Der Erste gewinnt fünf dazu, der Zweite zwei, der Dritte hat sein Talent vergraben, um das Risiko des Verlustes zu vermeiden und gibt es so, wie er es bekommen hat, seinem Herrn zurück, als dieser zugekehrt ist. Die ersten Beiden werden gelobt und befördert, der Dritte beschimpft und hinausgeworfen „in die Finsternis“.

Was in diesem Gleichnis fehlt ist derjenige, der seine Talente investiert und sie verliert oder sie überhaupt verplempert, also mit nichts dasteht. Was passiert mit dem?

Beim Kirchenhistoriker Eusebius von Caesarea (ungefähr 263 – 339) gibt es die Notiz, dass bei den aramäisch sprechenden, judenchristlichen Gemeinden das Gleichnis anders erzählt wird: dort gibt es einen, der Gewinn macht, einen der alles verliert und einen, der das Talent eingräbt.

Nun kann man vermuten, dass diese, die selbe Sprache wie Jesus sprechenden Gemeinden - bei der Weitergabe der Erzählungen Jesu nicht auf Übersetzungen angewiesen – der ursprünglichen Predigt Jesu näher waren und das Gleichnis in seiner ersten Gestalt besser bewahrt haben. Außerdem ist das Gleichnis in dieser Form mit den drei statt zwei Alternativen auch logischer.

Eusebius schreibt:

Da aber das auf uns gekommene, in hebräischen Buchstaben (geschriebene) Evangelium die Drohung nicht gegen den erhebt, der (das Talent) verborgen hatte, sondern gegen den, der ausschweifend gelebt hatte – denn er (der Herr) hatte drei Knechte: einen, der das Vermögen der Herrn mit Huren und Flötenspielerinnen durchbrachte, einen, der den Gewinn vervielfältigte, und einen, der das Talent verbarg; daraufhin sei der eine (mit Freuden) angenommen, der andere nur getadelt, der andere nur ins Gefängnis geworfen worden -, so erwäge ich, ob nicht bei Matthäus die Drohung, die nach dem Wort gegen den Nichtstuer ausgesprochen ist, nicht diesem gilt, sondern infolge eines Rückgriffs dem ersten, der mit den Trunkenen geschmaust und getrunken hat“ (Eusebius, de theophania IV 22; zitiert nach: W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apogryphen, I; Tübingen 1987)

Es scheint also eine Unsicherheit gegeben zu haben, wer hinausgeworfen wird. Eusebius ist sich sicher, dass der Verschleuderer hinausgeworfen wird. Was aber, wenn Matthäus richtig wiedergibt, dass der Eingräber hinausgeworfen wird und der Verschleuderer bei Matthäus ausgelassen wird, weil es unerträglich wäre, wenn - wie ich vermute - im Hebräerevangelium oder zumindest bei Jesus der Verschleuderer bloß getadelt und nur der Eingräber hinausgeworfen wird? Dass also das Gleichnis anders erzählt wurde und Eusebius es im Glauben, einen Überlieferungsfehler zu korrigieren, zum Falschen verändert hat?

Nocheinmal: meine Vermutung ist, dass das Gleichnis in seiner ursprünglichen Gestalt diese Pointe hatte:

Der Investor, der gewinnt wird gelobt und befördert. Der Verschleuderer, der alles verliert, wird getadelt und ermahnt, aber in seinem Amt bestätigt. Derjenige jedoch, der aus Angst sein Talent vergräbt, wird entlassen und in die Finsternis geworfen.

Es muss auch inhaltlich so sein!

Peter Rumpf 2007

16 Was heißt „die Begegnung annehmen“?

Es gibt eine Mönchsgeschichte, von der ich nicht mehr weiß, woher sie kommt, und deren Held als Inbegriff des demütigen Menschen gehandelt wird:

Ein Mönch begegnet auf seiner Wanderung einem wilden Raubtier. Nehmen wir an, es ist ein Tiger. Der Tiger bedroht den Mönch und dieser, weil er die ihm vom Himmel zugeschickte Begegnung demütig zulassen will, lässt sich vom Tiger fressen.

Da gehört einiges dazu, aber ich glaube, diese Demut ist falsch.

Die Annahme der mir vom Himmel zugedachten Begegnung heißt nicht, dass ich mich vom Tiger fressen lassen muss, sondern dass ich ohne Klagen akzeptiere, dass „jetzt Tiger angesagt ist“.

Wenn ich rechtzeitig fliehen kann, habe ich dennoch meine Gefährdetheit und damit meine Endlichkeit in dieser Welt erlebt, auch die Angst; vielleicht kann ich mir auch irgendwelche irrealen, großartigen Ideen von mir selber abschminken, denn unter Umständen macht man bei so einer Flucht keine so tolle Figur.

Wenn ich mich stellen muss, weil es keine Fluchtmöglichkeit mehr gibt, so heißt die demütige Annahme, dass ich um mein Leben kämpfe. Der Tiger hat nicht unrecht, wenn er mich jagt; ich habe nicht unrecht, wenn ich ums Überleben kämpfe. Das heißt auch akzeptieren, dass wir in der Dualität (W. Döbereiner) leben, oder, wie es bei Castaneda heißt, in einem „räuberischen Universum“.

Wenn ich mit dem Tiger kämpfen muss, werde ich – wenn mein Leben stark ist und ich keine offenen Enden und nicht zuviel Verdrängtes als Ballast herumschleppe – diesen Kampf so gut wie möglich kämpfen; ich werde mein Bestes geben um zu überleben. Und wenn ich tatsächlich den Tiger besiege, werde ich – wenn ich bei Trost bin – demütig bleiben, und wenn ich ihn getötet habe, werde ich kein Photo machen, wo ich triumphierend den Fuß auf den toten Tiger stelle.

Und wenn der Tiger gewinnt, dann ist es angebracht, demütig sein Schicksal zu akzeptieren. Aber erst nachdem man gekämpft hat.

Peter Rumpf 2007

15 Warum Autofahren eine Sünde ist

Nehmen wir an, jemand wandert vor Jahrhunderten von Wien nach Graz: die Wege sind unsicher. Es gibt keine Karten. In manchen Wäldern lauern Räuber. Es gibt wilde Tiere. Wie man in einem Dorf, in einem Gasthaus aufgenommen wird, ist auch nicht von vornherein klar - man hat auch keinen Polizeinotruf zur Verfügung. Man versteht den fremden Dialekt und die lokalen Bräuche schlecht, denn die Dialekte und Bräuche sind stärker ausdifferenziert als heute. Es gibt unsichere Brücken und Stege oder man muss eine Furt suchen, um einen Fluss zu queren. Wenn der Wanderer zum Fluss oder Bach hinunterkommt, wird ihm ganz kühl. Er merkt, wie sich die Vegetation, der Boden zum Ufer hin ändert. Er spürt einen kalten Schauer. Er watet durch und es wird ihm kalt (oder angenehm kühl an einem heißen Sommertag). Er übernachtet im Heu, im Stall, in einer zweifelhaften Schenke, bei gastfreundlichen Bauern. Es gibt Gewitter und Schneestürme. Es wird schon Nacht und er hat noch keinen Platz zum Schlafen. Er verirrt sich. Und so weiter.

Alles, was da auf ihn wartet, bewirkt als Begegnendes eine Erfahrung; ganz verschiedene Erfahrungen; die Erfahrung der eigenen Gefährdetheit, der Gastfreundschaft, der Angst, des Unheimlichen, des betrügerischen Wegbegleiters, des hilfreichen Wegbegleiters (weil er die Gegend kennt z.B. oder einen Hof, wo sie übernachten können), Erfahrungen der Ablehnung, des Misstrauens, der Hinfälligkeit, der eigenen geschickten Verhandlungstaktik um aus einer brenzligen Situation herauszukommen und so weiter und so weiter.

Wenn ich aber mit dem Auto fahre, nehme ich alles das, was der Himmel mir auf dem Weg von Wien nach Graz als Begegnendes (wie im Märchen) vorbereitet hat, nicht an. Darum entwickle ich mich nicht wie im Märchen zu meiner eigentlichen, schon angelegten „Gestalt“ (Prinz/ Prinzessin; König/ Königin), sondern bleibe verzaubert und unerlöst. Ich will auf der Autobahn über den Fluss brausen und den Fluss nicht erleben, nicht erfahren.

Das heißt – döbranitisch gesprochen – ich nehme den Himmel nicht an. Und das ist die Sünde. Dass das Autofahren Landschaft und Umwelt und Menschen zerstört, ist Folge dieser Verweigerung, den Himmel und das, was er mir als Begegnendes liefern will, anzunehmen. Autofahren ist nicht deshalb eine „Sünde“, weil es zerstörerisch ist, sondern es ist zerstörerisch, weil es eine Sünde ist. Das Zerstörerische ist die Folge der Nichtannahme des Himmels.

„Sünde“ im religiösen, nicht im moralischen Sinn, heißt eben, dass das Verhältnis zum Himmel gestört ist, weil ich ihn in seinem Anspruch, durch mich in der Welt anwesend zu werden (so ungefähr Wolfgang Döbereiner), nicht annehme. Alles andere – die Zerstörungen und negativen Auswirkungen auf die Welt, die Mitmenschen und auf einen selber – sind Folgen des gestörten Verhältnisses zum „Transzendenten“, das schon an der Grenze meines Bereichs beginnt. An der Grenze meiner Endlichkeit beginnt schon die Unendlichkeit (so ungefähr W. Döbereiner). Das, was mir begegnet, ist für mich schon Teil „meiner“ Transzendenz, auch wenn das, was mir begegnet, endliche und irdische Wesen sind. In der Begegnung überschreite (transzendiere) ich schon in gewissem Sinn meine Endlichkeit.

Zur „Annahme der Himmels“ (Döbereiner) gehört auch, dass ich die „Bilder“, die Ereignisse, die auf meinem Lebensweg schon als Begegnendes bereitliegen, zulasse.

Also wird man auch mit besseren Abgasfiltern und Ähnlichem die Zerstörung durch den Autoverkehr nicht verhindern können. Entweder stellt sich dann später heraus, dass die besseren Filter doch schlimmere Auswirkungen haben oder das Zerstörerische bricht an einer anderen Stelle durch.

© Peter Rumpf 2007

14 Schicksal

Wenn vom Schicksal die Rede ist, können zwei ganz verschiedene Sachverhalte gemeint sein.

Zum einen kann mit dem Satz „Das war Schicksal“ gemeint sein, dass nicht ich als Handelnder, sondern dass ein von mir unabhängiges und nicht auf mein Handeln bezogenes, blindes Schicksal etwas verursacht hat.

Da gibt es zwei voneinander getrennte Bereiche: mein Handeln (bzw. das Handeln eines Individuums) und das „Handeln“ einer blinden Schicksalsmacht; manche Ereignisse gehen auf das Konto des einen, manche auf das Konto des anderen. Je nach Ideologie wird der eine oder der andere Bereich stärker und einflussreicher gedacht. Sie haben aber nichts miteinander zu tun. Für die Handlungen des Schicksals bin ich als Individuum nicht verantwortlich, auch wenn es mich betrifft oder wenn ich als Agent des blinden Schicksals gehandelt habe. Diese Auffassung gibt es auch astrologisch verkleidet: das ist passiert, weil die Sterne so und so gestanden sind.

Nicht so beim Münchner Astrologen Wolfgang Döbereiner. Hier hat das Individuum im Handeln die Möglichkeit, sich zu entscheiden, aber die Folgen dieser Entscheidung sind dann zwingend. „Ich erschaffe jeden Tag die Welt neu“ und „So wie ich gestern die Welt erschaffen habe, schaut sie heute aus“. (Wolfgang Döbereiner; meine Zitate von Döbereiner sind fast alle aus dem Gedächtnis zitiert und deshalb wahrscheinlich nicht ganz wörtlich.)

„Zeit“ ist in der Münchner Rhythmenlehre von W. Döbereiner kein einfaches Kontinuum, sondern „wirft zu bestimmten Zeitpunkten bestimmte Bilder aus“ (Döbereiner). Wenn ich also meinen Lebensweg gehe, wandere ich nicht durch ein neutrales Zeitkontinuum, sondern sozusagen durch eine Landschaft, wo z.B. zum momentanen Zeitpunkt „es geht steil bergauf“ angesagt ist. Das ist vorgegeben als etwas, was mir vom Himmel her zukommt oder zugemutet wird. Aber ob ich diesen Aufstieg annehme oder nicht, ob ich ihn fröhlich oder mich beklagend gehe, das ist meine Entscheidung. Je nachdem, ob ich das, was der Himmel beansprucht oder durch mich in der Welt Erscheinung werden lassen will, zulasse oder nicht, arbeite ich mit oder gegen sein Wirken. Und damit erschaffe ich für morgen eine Welt, in der der Himmel mehr oder eben weniger anwesend ist. So wie ich diese Welt geschaffen habe, schaut dann – bildlich gesprochen – der morgige Tag aus. D.h. - um im Beispiel zu bleiben – der steile Aufstieg ist schon das Ergebnis meiner Handlungen von gestern oder vorgestern oder das Ergebnis der Handlungen meiner Vorfahren. Deshalb regieren bei Wolfgang Döbereiner die Sterne auch nichts, sondern sind nur die bildliche Darstellung der im obigen Beispiel beschriebenen „Landschaft“. An ihnen (wie an vielem anderen) kann ich die Zeitqualität, die Beschaffenheit der von der Zeit ausgeworfenen Bilder ablesen (wenn ich es kann).

Es muss übrigens nicht immer ein steiler Aufstieg sein; es kann auch ein sanfter Abstieg zu einer lieblichen Alm sein, wo eine nette Sennerin oder ein grantiger Jäger oder eine Gruppe betrunkener Bergwanderer in rot karierten Hemden oder alle zusammen auf mich als wiederum ihnen zukommende Begegnung warten. Wie immer das dann ausgeht.

Wenn also jemand sagt „das ist Schicksal“ kann gemeint sein, „damit habe ich nichts zu tun“, oder im Gegenteil, „das Schicksal hat mir genau das mir Zustehende, Zukommende oder Zufallende geliefert“, aber auch nur das mir Zustehende.

Bei Castaneda wiederum ist es so, dass die Zauberer sehr wohl die Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen und auch für die Situationen, in die sie geraten. Aber dennoch heißt es: „Die Welt ist unergründlich. Wir sind es auch, genau wie alle Wesen, die es auf dieser Welt gibt“ (C. Castaneda, „Das Rad der Zeit“; Seite 125)

© Peter Rumpf

13 Hitler und das Vaterland

Es gibt viele allgemein weit verbreitete Fehleinschätzungen bezüglich Hitler und den Nationalsozialismus; eine davon ist die, den braunen Gesellen wäre es irgendwie um Heimat oder Vaterland gegangen. Das Gegenteil ist wahr: Hitler und seine Mitläufer waren von einem starken Hass auf Vater, Vaterland, Vaterprinzip und Heimat getrieben, egal ob dieser Hass bewusst oder unbewusst war. (Wolfgang Döbereiner, sinngemäß: „Alles, was ich vorne verdränge, steuert mich von hinten“ – also alles, was ich vor meinem inneren Auge nicht wahrhaben will, wird mich hinter meinen Rücken steuern).

Ich möchte diesen Hass Hitlers an folgender Begebenheit zeigen:

Nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland war eine der ersten Maßnahmen Hitlers das Anlegen des Truppenübungsplatzes Allensteig – Döllersheim. Dafür wurden einige Dörfer zwangsweise ausgesiedelt und bis heute haben die vertriebenen Bewohner und deren Nachkommen nur einmal in Jahr das Recht, dieses Gebiet zu betreten, nämlich zu Allerheiligen/ Allerseelen um die Gräber zu besuchen.

Das Pikante daran ist, dass eines der Vertriebenendörfer, nämlich Döllersheim, der Geburtsort von Hitlers Vater war. Die Einwohner dort hatten beim Anschluss noch damit spekuliert, dass ihrem Dorf – sozusagen im Sinne eines „Ahnenkultes“ – besondere Ehrungen zukommen werden. Nichts da! Man muss sich das so richtig vorstellen, wie die Soldaten bei Manövern mit scharfer Munition die Häuser zerschießen, auch das Haus der Schickelgrubers! (Wegen dieses Ahnenhasses ist der Nationalsozialismus revolutionär und ein Phänomen der Moderne und hat - trotz aller gegenteiligen Propaganda - nichts mit den "alten Germanen" oder sonst einer alten Kultur zu tun.)

Da kann einem schon dämmern, dass die 68iger in ihrem Vaterhass etwas mit den Nazis zu tun haben: die ewig unreifen rebellierenden Söhne; der Hass auf den Vater, die Herkunft, die Tradition als Antrieb etc.

Hitler war ja offensichtlich keine patriarchalische Vaterfigur, sondern ein ewiger Sohn (der Erlöser sein wollte). Stellt sich natürlich auch die Frage, wie das heute in der Gesellschaft mit den Vätern und Söhnen ausschaut, denken wir z.B. nur an den Jugendwahn, wo niemand mehr reifen und in Würde alt werden will.

Interessant ist auch, wie die gegen die Väter rebellierenden 68iger die Nazis in eine Reihe mit den Traditionalisten (jetzt einmal etwas unscharf gesagt) stellen konnten, ohne zu sehen, dass die Nazis auch antitraditionalistische Rebellen gegen den Mief von 1000 Jahren waren (Kirchenhass z.B.) und dass sie diese falsche Auffassung ziemlich stark im Common Sense verankern konnten.

Oder um es an einem konkreten Beispiel zu zeigen: wie konnte das ehemalige SS-Mitglied Grass dem ehemaligen KZ-Häftling Adenauer vorwerfen, den Nazimief fortzusetzen, ohne dass ihm da was aufstößt oder ohne dass er sich schämt und ohne dass das jemandem fragwürdig vorkommt. (Bei Konservativen hat es immer welche gegeben, die das klar gesehen haben, aber nicht beim 68iger Mainstream). Mir steht es nicht zu, Personen zu verurteilen, aber ich will einen Mechanismus veranschaulichen.

Zum Schluss möchte ich die Behauptung noch einmal bekräftigen: es gab keinen Mitläufer Hitlers, keinen Nazi, keinen Sympathisanten, der nicht vom offenen oder versteckten Hass auf den Vater, die Tradition, die Heimat getrieben war.

Außerdem ist ja die Idee des Nationalstaates so etwas wie eine „Globalisierung im Kleinen“, wo alle regionalen Unterschiede in Sprache, Kultur, Tradition, Brauchtum etc. - also Heimat im Sinne der Geborgenheit im Vertrauten (so ungefähr, aber nicht wörtlich W. Döbereiner) - nivelliert und zerstört werden. Sobald z.B. ein Brauch wie das Sonnwendfeuer zur (partei-) politischen Demonstration wird, ist er natürlich zerstört und hat aufgehört, ein Brauch zu sein.

© Peter Rumpf 2007

12 Das menschliche Inventar

Bei Castaneda wird die Summe all unserer Grundannahmen, Glaubenssätze, Denkmuster, Selbstverständlichkeiten, auch wie sie aufeinander bezogen und (hierarchisch) geordnet sind, das „menschliche Inventar“ genannt. Dieses bringt Ordnung in die chaotische Fülle der Wahrnehmung, filtert aus, stellt das eine in den Vordergrund, das andere an den Rand oder schiebt es überhaupt aus unserem Wahrnehmungsfeld. Es ist dies die „Beschreibung der Welt“, die sich bei der Wahrnehmung zwischen uns und die Welt schiebt. Speziell beim Menschen ist dieses Interpretationssystem so durchdefiniert und stark, dass in der Wahrnehmung nur mehr sehr wenig vom wahrgenommenen „Ding an sich“ (sozusagen) durchkommt, sondern hauptsächlich die Beschreibung sich selbst bestätigt. Wir denken „Haus“ und schon sind alle konstitutiven Elemente von „Haus“ vor unserem inneren Auge, schon bevor wir das Haus angeschaut haben.

Dieses Inventar definiert und bestimmt auch unser Handeln – weil es auch eine reduzierende Beschreibung unserer Handlungsmöglichkeiten beinhaltet.

Da wir Gefangene dieses unseres Inventars sind, sind unsere Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten nur mehr im Promillebereich der in uns eigentlich angelegten Möglichkeiten.

Wichtig ist, dass das Anlegen eines Inventars – das passiert vom Moment unserer Geburt an – unvermeidlich ist, aber wie genau es ausschaut, hängt von Zeit, Kultur, Erziehung ab.

Als Castaneda die Zauberei lernt, lernt er eigentlich nur eine andere Beschreibung, die im Grunde nicht wahrer oder falscher ist, als die übliche. Der Sinn des ganzen Lernprozesses ist aber, dass er die zweite gegen die erste Beschreibung ausspielen kann, um sozusagen zwischen den Beschreibungen durchzuschlüpfen, um zum „Sehen“, d.h. zum Wahrnehmen ohne Beschreibung, zu gelangen.

So haftet allen Beschreibungen etwas Gemachtes und Zufälliges an. Aber, so sagt Don Juan Matus zu Castaneda, die Seher legen auf sorgfältigste Weise ihr Inventar an, d.h. dass es effizient, ausgewogen und nüchtern ist, doch sie beten es nicht an.

Sie wissen, dass es etwas Gemachtes ist. Nachdem sie ihren Geist gereinigt und das sorgfältigste Inventar angelegt haben, „werfen sie es lachend aus dem Fenster“ (um „sehen“ zu können).

Das heißt, dass, obwohl allen Inventaren etwas Relatives anhaftet, es Unterschiede in der Ausgewogenheit, Nüchternheit, Effizienz, Schönheit und Klarheit gibt.

© Peter Rumpf 2007

11 Patriarchat oder Matriarchat?

Allgemein herrscht ein Konsens darüber, dass wir in einem Patriarchat leben – die Männer dominieren die Gesellschaft, die Frauen sind benachteiligt und unterdrückt.

Nicht so beim Münchner Astrologen Wolfgang Döbereiner. Er behauptet, dass wir in einem Matriarchat leben und zwar in dem Sinn, dass das Mutterprinzip über das Vaterprinzip dominiert (das Mutterprinzip! nicht „die Frauen“). Zu diesem Matriarchat gehört, dass die Herde und ihre Interessen über den Einzelnen, das Soziale über das Leben und das Geistige, das Funktionale über das Bildhafte, das Irdische über das Himmlische gestellt ist. Am Beispiel der Inquisition wird das so erklärt: die Mutter Kirche (die Institution) schickt ihre „Buben“ – also die matriarchalischen Männer, die noch mit der Nabelschnur an der Mutter (Institution) hängen, los, um die patriarchalischen Töchter, das sind die Frauen, die sich nicht den Institutionen, dem Mutterprinzip, der Herde („Hexe“ etymologisch verwandt mit „Hecke“, also die an der Grenze des Dorfes, des Vertrauten, der Herde sitzt) unterworfen haben, zu jagen und zu vernichten. Auch die institutionalisierte Wissenschaft ist so gesehen eine Fortsetzung der Inquisition und bis heute verhindert und zerstört sie institutionsunabhängiges Forschen und Wissen. Und tatsächlich kann man sich nicht vorstellen, dass sich die (Natur-)Wissenschaft, die Medizin, die Industrie etc. ohne Inquisition, also ohne Vernichtung des freien Wissens, der freien Kräuter- und Heilkunde, der magischen Naturauffassung usw., hätte durchsetzten können. Noch zur Zeit Maria Theresias – anlässlich einer entsprechenden Verordnung – beklagt sich die ländliche Bevölkerung, dass die vielen Heiler und Heilerinnen nur mehr das Vieh, aber nicht mehr die Menschen behandeln dürfen, dass also das Vieh die guten Heiler haben, die Menschen aber zu den unfähigen Ärzten gehen müssen.

Gleichzeitig mit dieser Entwicklung wird – nach Döbereiner – das Bild von Maria ohne Kind (die Aphrodite, Tochter des Uranos, des Himmels) vom Bild Marias mit dem Kind (Gäa, die Erde, das Irdische, das Institutionelle) verdrängt.

Wir können bei Döbereiner viele Beispiele und Belege, die alle diese Mechanismen sehr treffend beschreiben, finden.

Bei Carlos Castaneda und seinen Gefährtinnen Florinda Donner-Grau und Taisha Abelar wird vom Blickwinkel der Seher aus gesagt, dass die Frauen mit der Gebärmutter ein Organ besitzen, das neben seiner Funktion für die Fortpflanzung auch die einer unmittelbaren Verbindung zum Transzendenten hat. Wenn nicht alle Energie der Frauen für Kinder und Männer – bei jedem Geschlechtsakt hinterlässt der Mann in der Gebärmutter der Frau „Energiewürmer“, die ständig ungeheure Mengen Energie von der Frau abziehen und dem Mann zuführen – draufgeht, haben sie mit der Gebärmutter ein Organ, das eine intuitive, nicht durch Denk- und Sprachsysteme vermittelte, sondern unmittelbare, direkte Verbindung zum „Transzendenten“ (oder wie man das nennen will) herstellt. Das ist etwas, das die Männer nicht haben. Darum waren in alten Zeiten die Frauen auch die viel stärkeren und besseren Schamanen und die Theorien, Glaubens- und Religionssysteme wurden erst als Hilfe für die Männer erfunden, weil diese ohne Gebärmutter sich nur indirekt zum „Transzendenten“ „hinhanteln“ können. Erst später wurden diese Glaubenssysteme und Institutionen übermächtig und die Männer begannen, die Frauen auszuschließen.

Also leben wir im Patriarchat.

Aber auch die Frauen, die ihr schamanistisches Potential im Patriarchat nicht leben – und es wird ja alles getan, dass Frauen dieses ihr Potential nie kennenlernen – sind auch als Unterworfene des Patriarchats für die Männer nicht wirklich beherrschbar. Auch wenn sie im Sinne des Patriarchats agieren, lenken sie über ihre abhängigen Männer und Söhne das Geschehen indirekt und verhindern vor allem bei den Töchtern, dem Patriarchat auszukommen. Was also Döbereiner so präzise als Matriarchat beschreibt, ist das Patriarchat, in dem selbst die unterworfenen Frauen noch so stark sein können, dass sie das Geschehen einigermaßen dominieren.

Wichtig ist noch, darauf hinzuweisen, dass die Aussagen von Castaneda, Donner-Grau und Abelar keine Theorien in unserem Sinne sind, sondern aus dem Sehen kommen. Der lautere Seher kann sehen, wie z.B. die Energie von der Frau zum Mann fließt. Das sind für die Seher unzweifelhafte „energetische Tatsachen“ (C. Castaneda) und keine Frage von Weltanschauung, Theorie oder Meinung.

© Peter Rumpf 2007

10 Sexualität in unserer Zeit

Wer beim Münchner Astrologen Wolfgang Döbereiner in die Schule gegangen ist, weiß, dass der Ur-Gegensatz der zwischen „Endlich und Unendlich“ (oder zwischen „Erde und Himmel“) ist. Alle irdischen Gegensätze wie „ich – Du“, „hier – dort“, „Freund – Freund“(sic!), „Große – Kleine“, „Eltern – Kinder“, „Mann – Frau“ usw. gehen auf diesen Ursprung zurück und bilden ihn ab. Und auch die durch diesen Gegensatz entstehende Anziehung, die mit dem Überbegriff „Liebe“ zusammengefasst werden kann, geht auf die Anziehung zwischen Himmel und Erde, Unendlich und Endlich zurück und bildet sie ab.

Innerhalb der irdischen Dualität nimmt die zwischen Mann und Frau eine besondere Stellung ein, weil diese Beziehung - indem ihr als sexuelle Liebe neues Leben entspringen kann - dem Ursprung am Nächsten kommt.

(Nur was den Urgegensatz Himmel und Erde betrifft, folge ich genau Wolfgang Döbereiner. Mit der folgenden Anwendung des bei ihm Gelernten wird er – so vermute ich – zumindest nicht in Allem wirklich einverstanden sein. Wissen kann ich es nicht.)
Wenn aber der Himmel und damit der Urgegensatz zwischen Endlich und Unendlich ausgeschlossen wird, rückt fälschlicherweise, aber automatisch die Mann-Frau-Beziehung und mit ihr die Sexualität an die oberste Stelle – auf einmal sind alle Formen der Liebe nicht mehr Abbild der Ursprungsliebe zwischen Unendlich und Endlich, sondern Abbild der sexuellen Liebe zwischen Mann und Frau, und das heißt dann aber: „eigentlich Sexualität“, eventuell verleugnete Sexualität.

Es wird also die Beziehung Mann – Frau fälschlicherweise zum Ursprung gemacht und damit die Sexualität zum Urmuster für alle Arten von Anziehung und Liebe.
Das heißt also, wenn ich z.B. einen Freund liebe und mich freue, ihn zu sehen, dann ist das in diesem falschen Modell nicht mehr ein Abbild der Ursprungsliebe zwischen Unendlich und Endlich – wo die Sexualität ja der Mann–Frau-Beziehung und der Weitergabe von Leben und Bewusstsein vorbehalten bleibt -, sondern die Liebe zwischen Freunden wird dann als (Homo) Sexualität gedeutet. Es entsteht das falsche „Bild“, dass die Fäden bei der Sexualität zusammenlaufen und alle Beziehungen werden sexualisiert; man kann in so einem falschen Modell die Liebe grundsätzlich gar nicht mehr – wie soll ich sagen – „unsexualisiert“ denken. Also: alle möglichen Arten der Liebe werden sexualisiert und somit zerstört – gleichzeitig wird auch die Sexualität zerstört und geschwächt, weil sie für Dinge herhalten muss, für die sie nicht geschaffen ist: folglich wird sie unfruchtbar und onanistisch, pervers, pornographisch, braucht einen ungeheuren Aufwand an Reizen und Material (für den Kopf) um überhaupt – tatsächlich aber eh nicht wirklich – in Gang zu kommen.
Also nocheinmal: wenn ich zum Beispiel einen Freund treffe und mich von Herzen freue, dann ist das ursprünglich nicht homoerotisch, sondern ganz einfach Ausdruck der Liebe zu einem Freund, die die Ursprungsliebe – wie immer jetzt verteilt – abbildet und sonst gar nichts.
Freilich gibt es im falschen Modell sekundär dieses Phänomen, dass jemand seine homoerotischen Neigungen z.B. als Frömmigkeit ausgibt – aber da muss schon vorher der Himmel ausgeschlossen sein, dass er überhaupt in diese Falle gerät. (Wenn ich z.B. an den Fall „Groer“ denke, ist unglaublich, wie viele dessen tuntenhaftes Benehmen für Frömmigkeit halten konnten.)

Ein Beispiel für die Verschiebung zum falschen Modell mag auch der Brauch des Maibaumaufstellens sein: ursprünglich war das Maibaumaufstellen sicher in einem schamanistischen Kontext gestanden – der Maibaum als Weltenbaum, an dem der Schamane, die Schamanin zum Himmel oder in andere Dimensionen raufklettert. Dann ist er nur mehr ein Phallussymbol geworden, wo die mutigsten Burschen sich die Bewunderung der Mädchen holten und eventuell auch Anrechte auf sie. Welch eine Verarmung!
Klar ist auch, dass die Sehnsucht nach dem Zusammenführen von Endlich und Unendlich nur über die Erreichung der „Ganzheit des Selbst“ (Carlos Castaneda), wo das Selbst mit dem am Unendlichen Anteil habenden „energetischen Zwilling“ (Carlos Castaneda) wieder verbunden wird, gestillt werden kann; alle Versuche, dies durch Vereinigung irdischer Gegensätze zu erreichen, müssen scheitern. Nur der Status der „Ganzheit des Selbst“ macht eigentlich erst zur wirklichen Liebe fähig, da keine irdische Beziehung mehr für den verlorenen Himmel herhalten muss. Solange der Mensch die „Ganzheit des Selbst“ nicht erreicht hat, wird er unzufrieden, unruhig und suchend sein.

Wenn Energie von der Sexualität (und vom Eigendünkel – dem ständige Präsentieren des Ich) abgezogen wird, wird nicht eigentlich sexuelle Energie verdrängt, sondern vom Sehen zur Sexualität verdrängte Energie wird wieder dorthin zurückgeführt, wo sie ursprünglich hingehört. Es wird eine Kompensation aufgehoben. Eine Kompensation, in die wir schon hineingeboren sind oder durch die wir überhaupt schon gezeugt wurden.

Mit der mit der Ganzheit des Selbst verbundenen „Erfahrung des Transzendenten“ (man kann es auch anders nennen) ist nicht gemeint, dass da einer in der Kirche kniet (oder sinnierend durch den Wald wandelt) und aus seinem verdünnten Leben heraus – weil er nichts erlebt – so ein fadenscheiniges „Gefühl“ hat, um seine Leere kompensatorisch zu heiligen, sondern gemeint ist echtes „Sehen“ – das Wahrnehmen ohne den Filter der Beschreibung. Das bedeutet wirkliche „Geistreisen“ (oder wie immer genannt) ins Bekannte und Unbekannte, in Dimensionen und Regionen unseres Universums, die wir uns gar nicht vorstellen können, Begegnung mit Lebewesen, die wir als Alltagsmenschen nicht wahrnehmen, die aber im Universum existieren, der Blick in das Innerste von allem, was wir wahrnehmen, das Sehen z.B. dass die Erde ein Lebewesen ist und dass wir mit ihr kommunizieren können.; Wunder über Wunder, die ich nicht beschreiben und mir nicht ausdenken kann, weil ich sie nicht erlebt habe, aber auch eine Intensität des Erlebens unserer ganz gewöhnlichen Welt, wie wir sie nicht für möglich halten, weil wir uns dieser Welt ganz zuwenden können. Das wäre in den Berichten der Seher (Castaneda, Abelar, Donner-Grau) nachzulesen. Nur soviel: es geht um eine Fülle, die wir als Alltagsmenschen verloren haben.

So rennen alle durch den Zeitgeist falsch orientiert in die Irre und finden schwer heraus. Die Leitbilder und die Grundorientierung sind falsch. (Das ist so, als hätte ein Stempel einen Fehler und alles, was gestempelt wird, ist falsch; auch wenn bemüht sorgfältig gestempelt wird; im Gegensatz zu einer Situation, wo der Stempel richtig ist, aber beim Stempeln ein Fehler gemacht wird – das ist vergleichsweise harmlos.)

Unser Inventar, alle unsere Annahmen, Denkmuster, Grundideen etc. und wie wir das alles aufeinander beziehen und (hierarchisch) ordnen – sie bauen sozusagen die Bühne für unser Handeln auf; mehr noch, sie geben die Rollen, die Dialoge etc vor. Das heißt, sie beeinflussen und bestimmen unser Handeln und unsere Deutung ganz enorm.

Es ist also nicht harmlos, wenn die Leitbilder falsch sind.

© Peter Rumpf 2007

9 „Kirchenvater“ Sigmund Freud

In einem theologischen Seminar erlebte ich einmal eine Schlüsselszene: der Dozent, ein assoziativer und „sprunghafter“ Denker – sehr zu meiner Freude, sehr zum Ärger der „gründlichen“ Denker („gründliche Denker“: wo man einen Autor mindestens zehnmal hinunter und achtmal hinauf gelesen haben muss, bevor man eine Augenbraue heben darf) – dieser Dozent also sprang – schon von seinem Thema ausgehend – in der Welt- und Kirchengeschichte hin und her und machte so seine kritischen bis ätzenden, oft sehr treffenden Anmerkungen zu diesem und jenem Kirchenvater, Theologen, Philosophen – die gründliche Denker im Auditorium wurden schon unruhig – und eben auch zu Sigmund Freud. Das reichte. Da platzte es heraus: „das kann man so über Freud nicht sagen!“

Da wusste ich, Freud ist in der allgemeinen Geistesgeschichte, aber auch beim Großteil der akademischen Theologen so etwas wie ein „Kirchenvater“: eine geistige Autorität, fast sakrosankt, seine Infragestellung wird tendenziell geahndet.

Diese Stellung Freuds ist verhängnisvoll und der springende Punkt ist die Stellung der Sexualität. Unbestritten ist die Wichtigkeit der Sexualität für den Menschen; viele der von Freud beschriebenen „Mechanismen“ gibt es, aber geschichtlich und strukturell vorher ist in der Menschheitsgeschichte der Verlust des „stillen Wissens“ (C. Castaneda) und somit der Verlust der unmittelbaren Erfahrung des Sehens mit der Folge der Reduktion der Wahrnehmung und der Wirksamkeit des Menschen auf ein paar Promille seines angeborenen Potentials. Anscheinend versucht der Mensch, diesen Verlust fast zwangsläufig über die Sexualität zu kompensieren.

Soviel auch an verdrängten Wünschen des Ego etc. in religiöse und ähnliche Vorstellungen projiziert werden kann – durch den Verlust des Paradieses (des stillen Wissens) wird zuerst das verlorene Paradies ins Irdische projiziert; oder anders ausgedrückt: die Sexualität (und das Ego) spielt deshalb eine so überzogene Rolle, weil vorher der Mensch ins Gefängnis des Alltagsbewusstseins geraten ist. Jetzt kann er aus dem Sozialen nur mehr schwer hinausdenken, auch wenn er dieses Alltagsbewusstsein transzendieren, also überschreiten will.

Oder vom Unbewussten her gesehen; das Unbewusste mag schon das Reservoir all unserer verdrängten sexuellen, egoistischen etc. Wünsche, Vorstellungen, Triebe sein, aber noch tiefer liegen dort auch die „Erinnerungen“ vom Paradieszustand, die Ahnungen unserer verdrängten Möglichkeiten, das Wissen um unser nie genutztes Potenzial. Also das, was Freud im Unbewussten findet, befindet sich ganz in der Nähe des Bewussten, aber von dort geht es noch weiter und tiefer.

Tatsache ist, dass im Menschen die echte Erfahrung des Sehens, des stillen Wissens, der echten „Transzendenz“ als Möglichkeit bereitliegt; er müsste nur den Mut und die Disziplin haben, sie zu ergreifen.

Don Juan Matus, der Lehrer Carlos Castanedas sagt auch, dass die Menschheit die Wahl zwischen Freud und (Franz Anton) Mesmer als Orientierer gehabt hat, und dass sie, hätte sie sich für Mesmer entschieden, einen gesünderen und ausgeglicheneren Weg gewählt hätte (die Belegstelle dafür kann ich jetzt nicht finden).

© Peter Rumpf 2007

Nachtrag 26.03.2012:
Jetzt habe ich die Belegstelle gefunden!
"..., weil Don Juan (Matus) immer wieder sagte, dass wir zu der Zeit, als die Psychologie Freud hervorbrachte, geschlafen haben, zu passiv waren. Damals hätten wir die Wahl gehabt, entweder Mesmer oder aber Freud zu folgen. Wir sind mesmerische Wesen. Wir haben diesen alternativen Pfad nie wirklich erkundet ..."
Alexander Blair-Ewart interviewt Florinda Donner-Grau, eine Mitstreiterin Castanedas; aus:
Roman Katzer (Hg.), Die Erben des Don Juan, Hans-Nietsch-Verlag; 2005. S 180
(vgl. auch Post 75, wo ich diese Stelle ausführlicher zitiere)

8 Über das Heilige und das Unheilige II

Als der heilige Franziskus wirkte, wurde er von vielen für so etwas wie ein zweiter Christus gehalten; jedenfalls galt er als der Nachfolger Jesu; als derjenige in der Nachfolge Christi, der dem Vorbild am Nächsten kommt.

Ich glaube, das ist falsch.

Franziskus legte z.B. den größten Wert darauf, die mieseste, schäbigste Kutte von allen zu tragen und als er einen traf, der eine noch miesere hatte – weil der selber der Beste im Miese-Kutten-Tragen sein wollte, zwang Franziskus diesen Konkurrenten, mit ihm die Kutte zu tauschen. Welch kleinlicher Hahnenkampf! Hatte er denn nicht einmal die Größe, dem andern die Freude, eine schäbigere Kutte als der große Franziskus zu tragen, lassen zu können? Kein Platz für so eine kleine Großzügigkeit?

Was soll überhaupt diese Miese-Kutten-Manie mit Jesus von Nazareth zu tun haben? Jesu Gewand mag schlicht, vom Wandern staubig, vielleicht auch abgenutzt gewesen sein, aber sicher gab es bei ihm keine Miese-Kutten-Manie. Er nahm die ihm als Wanderprediger und Rabbi entgegengebrachten Ehrungen ohne Theater an, ließ bei Einladungen die dem Ehrengast zugedachten Ehrenbezeugungen und Rituale ohne Getue zu, saß auf dem Ehrenplatz und was sonst noch dazugehörte.

Sollte es bei Franziskus aber so gemeint sein, dass er mit seiner miesen Kutte nicht Jesu ähneln, sondern den Abstand zu ihm betonen wollte (demütig natürlich), dann ist ihm schon auszurichten, dass der Abstand auch eines Franziskus im sauberen Gewand zu Jesus von Nazareth groß genug geblieben wäre.

Bei Jesus von Nazareth ist weit und breit kein Ego zu sehen, das sich – unter welcher Tarnung auch immer – aufbläht; das Wirken des Himmels fließt ungehindert durch ihn durch. Seine Präsenz ist nüchtern. Da ist nichts von diesem Rauschhaften eines Franziskus und seiner Anhänger.

Es mag schon etwas dran sein, wenn jemand auf sein Erbe und auf jeden sozialen Rückhalt verzichtet – und Kraft hatte Franziskus allemal – aber das allein reicht für Heiligkeit nicht aus, auch wenn so ein Verzicht bei vielen gleich so eine „hippiemäßige“ Bewunderung auslöst.

Vielleicht wäre es die größere Herausforderung gewesen, das Erbe des Vaters anzutreten, den Arbeitern einen anständigen Lohn zu zahlen, die Kunden nicht zu betrügen, verantwortungsvoll mit den Ressourcen umzugehen und als Geschäftsmann heilig zu sein und auf heilbringende Art zu wirken. (Vielleicht würde man heute so einen Heiligen brauchen).

Freilich denkt man bei Franziskus auch an sein Sprechen mit Tieren, seinen Sonnengesang…

Dennoch hat er der im Abendland aufkommenden „Leidensmanie“ (W. Döbereiner) den Weg bereitet oder diese zumindest verstärkt.

„Leidensmanie“ ist die Vorstellung, dass man selber der größte Leider ist („alle Leiden gehören mir“; „ich bin der Ärmste“) und Wolfgang Döbereiner sagt, dass man die Leidensmanie für das hat, was man nicht leidet; also sie schiebt ein vorgestelltes, inszeniertes Leiden dem echten Schmerz, der einen aus dem Leben heraus angeht, vor, um sich diesen zu ersparen. Sie steht somit im Dienst der Verdrängung von Infragestellung und Endlichkeitserfahrung aus dem wirklichen Leben heraus. Das, was mir aus dem wirklichen Leben heraus zukommt, wird verdrängt. Dieses wirkliche Leben ist aber unser „Kampfplatz“.

Ich glaube schon, dass diese Leidensmanie im Abendland als falsches Leitbild viele falsch orientiert ins Unerlöste gelockt hat.

Christus als den nur Leidenden und Gescheiterten hinzustelle ist falsch, da er doch siegreich über sein Ziel hinausgewachsen, von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist.

Oder wie Carlos Castaneda sagt:

„Wir lieben Jesus – blutend und ans Kreuz genagelt. Das ist unser Symbol. Niemand ist an dem Christus interessiert, der auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist. Wir wollen Märtyrer sein, Verlierer; wir wollen nicht erfolgreich sein: arme Babys, die das arme Baby anbeten.“ (zitiert nach Norbert Claßen, „Carlos Castaneda und das Vermächtnis des Don Juan“; Hans-Nietsch-Verlag; S 112)

Anzufügen ist, dass noch in der Romanik Christus auch am Kreuz als siegreicher König dargestellt wurde.

© Peter Rumpf 2007

7 Himmelfahrten

Wer im Christentum aufgewachsen ist, dem ist es selbstverständlich, von Jesus gehört zu haben, dass er „in den Himmel aufgefahren“ ist. Und wer katholisch ist, der hat auch schon von der Himmelfahrt Mariens gehört. Freilich sind das „Dinge“, die uns direkt im alltäglichen Leben nichts angehen. Wir fahren von hier aus nicht auf; von uns bleibt ein Leichnam zurück und Himmelfahrt ist etwas für Gottessöhne und auch Maria hat ja eine für uns unzugängliche Spezialrolle im Heilsgeschehen geschenkt bekommen. Das ist also eine „Himmelsmechanik“ (so reden Theologen) nur für Jesus und Maria.

Da gab es in der Antike auch noch die Legende, dass der Evangelist Johannes aufgefahren sei.

Und was steht von Henoch in der Bibel? Von all seinen in dieser Genealogie (Gen 5, 1-32) aufgezählten Vorfahren und Nachkommen heißt es, „X war soundsoviele Jahre alt, da zeugte er Y; (…) die gesamte Lebenszeit des X betrug soundsoviele Jahre, dann starb er.“ Nur bei Henoch heißt es (Gen 5,21-24): „Henoch war 65 Jahre alt, da zeugte er Metuschelach. Nach der Geburt Metuschelachs ging Henoch seinen Weg mit Gott noch 300 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Die gesamte Lebenszeit Henochs betrug 365 Jahre. Henoch war seinen Weg mit Gott gegangen, dann war er nicht mehr da; denn Gott hatte ihn aufgenommen.“

Und über den Propheten Elias steht (2Könige 2,11): „Während sie (Elias und sein Schüler Elischa; P.R.) miteinander gingen und redeten erschien ein feuriger Wagen mit feurigen Pferden und trennte beide voneinander. Elija fuhr im Wirbelsturm zum Himmel empor.“

Er wurde auf Erden nicht mehr gefunden.

Anna Katharina Emmerich sieht in ihren Visionen die Himmelfahrt Jesu so:

„Der Herr wandelte nun gegen Gethsemane und vom Ölgarten aus den Ölberg hinan. (…) Die Menschenmenge folgte wie in Prozessionen auf verschiedenen Wegen rings um den Berg nach; viele drangen durch Hecken und Gartenzäune. Jesus aber ward immer leuchtender und schneller. Die Jünger eilten nach, vermochten aber nicht, ihn einzuholen. Als er auf der Spitze des Berges angekommen war, glänzte er wie ein weißes Sonnenlicht. Vom Himmel senkte sich ein leuchtender Kreis zu ihm, der in Regenbogenfarben schimmerte. (…)

Nun aber strahlte das Licht von oben mit Jesus eigenem Glanz zusammen. Und ich sah seine Sichtbarkeit vom Haupt an in diesem Himmelslicht sich auflösen und wie empor verschwinden. (…) Es war, als ob eine Sonne in die andre, eine Flamme in ein Leuchten eingehe, ein Funke in eine Flamme schwebe. (…) Als ich sein Haupt nicht mehr sehen konnte, unterschied ich seine Füße noch leuchtend, bis er ganz in den Himmelsglanz verschwunden war.“ (A.K.Emmerich, das arme Leben unseres Herrn Jesu Christi; Pattloch Verlag; S 552).

Wir kennen auch aus der Antike die Sagen von den Helden, die als Sterne oder als Sternbild an den Himmel gesetzt wurden und vermutlich werden sich bei den Mythen vieler Völker „Himmelfahrten“ finden lassen.

Auch Carlos Castaneda schildert in seinen Büchern, wie er die „Himmelfahrt“ seines Lehrers Don Juan Matus mit seiner Zauberertruppe erlebt.

Er schildert in ergreifenden Szenen den Abschied der Reisenden von den Bleibenden, wie noch letzte Aufmunterungen, Lehren, Geschenke gegeben werden, wie er noch gebeten wird, das Gedicht „Tod ohne Ende“ von Jose Gorostiza vorzulesen; wie sich die Nagaul-Frau, sein wahres Gegenüber, von ihm verabschiedet:

„Als letzte kam die Nagual-Frau zu mir. Sie setzte sich und nahm mich auf den Schoß, als ob ich ein Kind wäre. Sie verströmte Liebe und Reinheit. Ich war atemlos. Wir standen auf und gingen im Zimmer umher. Wir gingen umher und überdachten unser Schicksal. Unergründliche Kräfte hatten uns bis zu diesem Augenblick der Wende geführt. Meine Ehrfurcht war unermesslich – und auch meine Traurigkeit“ (C. Castaneda, „die Kunst des Pirschens“; S 317).

Und zum Schluß:

„Die Krieger aus Don Juans Trupp hatten mich für einen ewigen Augenblick aufgefangen, bevor sie in das totale Licht verschwanden, bevor der Adler sie passieren ließ. (…) Sie warteten auf Don Juan und Don Genaro. Ich sah, wie Don Juan sich an die Spitze stellte. Dann waren sie nur noch eine Reihe herrlicher Lichter am Himmel. Irgendetwas, es mochte ein Wind sein, ließ die Lichterkette sich winden, sich zusammenziehen und strecken. Am einen Ende, wo Don Juan sich befand, war ein starkes Leuchten. Ich dachte an die gefiederte Schlange der toltekischen Sage, und dann waren die Lichter verschwunden.“ (S 320)

Und da ich Castaneda alle seine Schilderungen glaube (was natürlich nicht viel heißt) und auch alle biblischen Himmelfahrten nicht bezweifeln brauche, gehe ich davon aus, dass das „Eingehen in eine andere Aufmerksamkeit“ (C. Castaneda) mit unserem gesamten Körper (also ohne zurücklassen eines Leichnams) zu dem im Menschen angelegten Möglichkeiten gehört. (Aber dass ich das glaube, sagt gar nicht viel und hat wenig Gewicht; nur ein Seher, der sieht, könnte so etwas bezeugen). Was noch offen ist, ist die Frage, wohin sie „aufgefahren“ sind. Bei Castaneda erzählt sein Lehrer Don Juan Matus, dass in alten Zeiten ganze Städte in die „zweite Aufmerksamkeit“ verschwunden seien; sie selber ziehen es aber vor, in die „dritte Aufmerksamkeit“, die wirkliche Freiheit, zu reisen.

© Peter Rumpf 2007

6 Über das Heilige und das Unheilige

Vom großen katholischen Theologen Romano Guardini gibt es den Satz (sinngemäß), dass nichts so sehr zum Widerspruch reize wie das Heilige. Das ist richtig, weil angesichts des gelungenen und heiligen Lebens die eigenen Ausreden nicht mehr greifen. Es stimmt aber auch der Satz, dass nichts so sehr zum Widerspruch reizt wie das Scheinheilige, weil dann in der entscheidenden Frage des Lebens versucht wird, einen reinzulegen.

Versuchen wir es am Beispiel von Mutter Teresa zu klären.

Bei helfenden Tätigkeiten stellt sich ja immer die Frage, was passiert, wenn sich der Helfer über den Kranken oder Armen beugt? Wie ich beim Münchner Astrologen Wolfgang Döbereiner gelernt habe, kann das ja auch heißen: „ich bin stark, du bist schwach; ich überlebe, du stirbst“. Und dabei ernährt sich der scheinbar Helfende von der Energie des Untergehenden, lädt ihm seine Schuld und Untergänge auf (Sündenbock) und feiert sich als Sieger. Oder der Helfer bläst sein schwaches Ego mit der großartigen Aura und anerkannten Bedeutung seiner Helfertätigkeit auf, statt sein Ego in den Dienst des Helfens zu stellen. Der Nimbus der Aufopferung für den andern macht jede Infragestellung zu einem Sakrileg. (Das gibt es z.B. auch sehr häufig im Bereich Umweltschutz; das nur nebenbei).

Nun hat Jesus von Nazareth viele Kranken geheilt und Armen geholfen und es besteht kein Zweifel, dass dies auf saubere Art und Weise geschah. Bei ihm ist weit und breit kein Ego in Sicht, das sich da irgendetwas für sich abschneidet. Im Gegenteil: seine Hilfe und Hingabe waren ohne Hintergedanken und Nebenabsichten; die heilende und heiligende Kraft des Himmels konnte völlig ungehindert durch ihn hindurchwirken.

So ist es schon denkbar, dass im Umfeld und in der Nachfolge Jesu so ein echtes, selbstloses, heiliges und heilendes Helfen möglich ist.

Daher fällt es einem schwer, bei einer so (zu?) schnell allgemein anerkannten Heiligen Zweifel anzumelden, noch dazu, wo es so leicht ist, etwas zu zerstören, aber so schwer, etwas zu Unrecht Zerstörtes wieder in seinen ihm zustehenden Status zu versetzten. Da aber das Heilige letztlich nur in der Wahrheit Bestand hat, wird es einen ungerechtfertigten Verdacht überdauern.

Was auf den Photos von Mutter Teresa sofort auffällt, sind die „angewinkelten Arme der Zuständigkeitsmanie“ (W.Döbereiner). Das ist dieser zwanghafte Typus von Mensch, der einen nie in Ruhe beim Frühstück Zeitunglesen lassen kann (um wieder ein Beispiel von W. Döbereiner zu nehmen); ständig wird was herumgeräumt, hergetragen, weggetragen, geputzt, angeboten, gefragt, ob man das schon wegtragen kann etc. Dieses wichtige Amt gibt diesen Menschen anscheinend das Recht zum ständigen Übergriff auf den anderen, seinen Bereich, seine Lebenswelt, seine Ruhe u.s.w., immer unter der Kriegsflagge der Tüchtigkeit und mit dem stillen Vorwurf: ich bin ja so tüchtig, du so faul; ich so wichtig, du so unwichtig.

Nun, beim Heiligsprechungsprozeß von Mutter Teresa wurde - wie bei jedem anständigen katholischen Heiligsprechungsverfahren - alles gesucht, was gegen die Heiligkeit der Probandin sprechen könnte – man hat nicht viel gefunden – mag sein, dass die vorauseilende Heiligsprechung durch die Medien und die Massen die traditionellerweise sehr langsam und gründlich mahlenden römischen Behörden zu sehr unter Druck gesetzt hatten; vielleicht auch angepeitscht durch einen Medienprofi als Papst (dessen eigenes Heiligsprechungsverfahren jetzt wieder gegen jede Tradition und Nüchternheit von irgendeiner Lobby durchzupeitschen versucht wird), aber eines fand man doch:

Es ist eine Szene überliefert, wo sich die Schwestern des Ordens von Mutter Teresa wie jeden Morgen vorm Allerheiligsten zur Eucharistischen Anbetung treffen. Der Saal ist voll. Mutter Teresa kommt herein und setzt sich, ganz bescheiden, ganz hinten hin. Als ihr aber ein paar junge Schwestern die Sicht zum Allerheiligsten verstellen, zischt sie sie aus dem Weg (tsch! tsch!).

Dass sie sich als Zeichen ihrer großen Demut ganz hinten hinsetzt, ist doch nur die gleiche Eitelkeit, die Jesus mit dem Satz „die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten werden die Ersten sein“ anprangert, aber aufgrund genau dieses Jesussatzes mit umgekehrten Vorzeichen!

Wenn Mutter Teresa als Gründerin und Chefin ihres Ordens ihre Alpharolle in ihrem Verband annimmt und anständig ausführt, die ihr aufgrund ihrer Führungsrolle zustehenden Ehrungen und Ehrenplätze in der ersten Reihe ohne Theater und demütig einnimmt (wie Jesus von Nazareth es auch getan hat), dann ist das in Ordnung und ein Beispiel dafür, wie man als Erster heilig und demütig sein kann.

Aber wenn sie sich nach hinten setzten muss, dann muss sie es auch aushalten, dass ihr ein paar größer gewachsene Mitschwestern die Sicht verstellen und darf sie nicht „wegzischen“. Punkt!

Und das ist keine Frage, ob auch ein Heiliger ein paar Macken haben kann, sondern das ist die Frage, ob da nicht schon im Kern der Wurm steckt!

Und wie sie selber krank wurde und sich hinlegen musste und sich die anderen über sie gebeugt haben, warum hat sie das nicht genießen können? Warum musste sie gleich wieder auf? Überhaupt diese Anmaßung zu glauben, ohne einen gehe es nicht! Warum konnte sie nicht ausruhen? Was hat sie so getrieben? Ein Mensch, der redlich sein Leben für die anderen gelebt hat, der muss doch auch die Hilfe, die zurückkommt, annehmen können! Sonst bleibt der Verdacht, dass die Hilfe die ganze Zeit eine einseitige Nötigung war, bestehen, wenn der zurückfließende Dank nicht angenommen werden kann. Nein, da kommt mir vieles ungereimt vor!

Dass diese Frau Kraft und Energie hatte, ist unbestritten; die Frage ist nur, ob sie lauter war.

(Bei Carlos Castaneda gibt es den Satz: “Verzichten ist die schlimmste Art, sich gehen zu lassen“; nur falls Einwände wegen ihres großen Verzichts kommen.)

P.S.: So viel ich hier auch von Wolfgang Döbereiner übernommen habe – ich weiß nicht, ob er mit meiner Anwendung des bei ihm Gelernten einverstanden ist, oder ob er es scharf verurteilt. Fehler gehen auf meine Kosten.

© Peter Rumpf 2007