Montag, 8. Oktober 2007

24 Theorie

Wir haben im Deutschen zwei Wörter für den Vorgang des visuellen Wahrnehmens: sehen und schauen. Wir folgen dem Gebrauch der deutschen Übersetzung von Carlos Castaneda „schauen“ für das alltägliche Wahrnehmen, „sehen“ für das Wahrnehmen ohne Beschreibung, wie es bei Castaneda und anderen geschildert wird, zu verwenden. Es heißt ja auch „Seher“, „Seherin“. Es gibt aber auch den umgekehrten Gebrauch; so ist die Rede von der „(mystischen) Schau“. „Schau“ ist auch die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes θεωρία.

Wenn wir heute das Wort „Theorie“ verwenden, meinen wir eher Erkenntnisse nicht aus empirischer Erfahrung, sondern aus Spekulation, Nachdenken, sprachlicher Untersuchung, Logik und Ähnliches oder auch aus Nachdenken über die realitätsstiftende Funktion von Sprache, darüber also, wie die Sprache als Hauptträger und Medium des „menschlichen Inventars“ das Wahrgenommene und die Wahrnehmung selbst beeinflusst und konstituiert.

Tendenziell wird Empirie und damit die empirische Forschung als realer, und daher wertvoller betrachtet.

Das griechische Wort „theoria“ bedeutet laut Mackensen, Ursprung der Wörter, „Beschauen, Untersuchung“ vom Zeitwort theorein „besehen“ von thea „Schau(spiel); (vgl. auch: „Theater“)

Nun stand das Schauspiel ursprünglich in einem religiösen Kontext. Es ist der Versuch, das Wirkende in Gestalten sichtbar, hörbar und verstehbarer zu machen (so ungefähr W. Döbereiner). Das Drama spielt demnach noch jenseits unserer Alltagswelt, noch vor dem Leben, jenseits unserer irdischen Welt und ihrer Bedürfnisse und Zwänge (und deshalb müssen die Gestalten auf der Bühne – im Gegensatz zu den Stücken von Wolfgang Bauer – auch nicht scheißen gehen). Wie W. Döbereiner sagt: das Drama findet im 3. Quadranten, näher: im 7. Haus, dem Begegnenden statt und nicht im 1. und 2. Quadranten. Es sind, so sagt W. Döbereiner, die Dramen Denkprozesse in Dialogform, der 3. Quadrant, der in sprechenden und agierenden Gestalten das Wirkende, den 4. Quadranten, zur Sprache bringen will. Der Zuschauer schaut auf das Drama, um über die Gestalten, die aus dem Wirkenden kommen, einen Blick auf dieses Wirkende, den Himmel erhaschen zu können. Ist der Himmel ausgeschlossen, haben die Gestalten des Dramas ihren „transzendentalen“ (oder wie immer genannt) Hintergrund verloren, werden stumpf, ohne Glanz und der Zuschauer schaut nur mehr in einen Spiegel, in dem sich das unerlöste, langweilige, vergebliche Verhalten des unerlösten, beschränkten Alltagsmenschen spiegelt. So wie beim Wolfgang Bauer - Stück „magic afternoon“, das nur eine Tonbandaufnahme einer W. Bauer – Party (ich kenne eine solche aus eigener Teilnahme und Erfahrung) wiedergibt. Die Fadheit und Unerleuchtetheit wird mit Alkohol und anderem zu überspielen versucht, der Mensch bestätigt und bestärkt sich in seiner Haltung, dass eh alles Scheiße und vergeblich ist, was ja stimmt, wenn die Verbindung zur Transzendenz abgerissen ist, bzw. verleugnet wird. So ein „afternoon“ ist wirklich nicht magisch, im Gegenteil! Denn so ein Drama dient nicht zur Erhellung, nicht zur Freude, höchstens der Genugtuung, dass die eigene Überzeugung von den vermeintlichen, in Wirklichkeit aber falschen „Tatsachen“ über die Welt und dass sie so sein muss, wie sie ist, bestätigt wird. Man amüsiert sich höchstens (oder ist sentimental gerührt), dass die Gestalten, die da oben auf der Bühne herumtaumeln und die ja im Drama einmal „heilige“ Gestalten waren, genauso verloren, orientierungslos und gescheitert sind wie man selbst. Man beruhigt sich kurz daran, dass es keine Weiterentwicklung, keine Befreiung geben kann, und dass damit das eigene Versagen gerechtfertigt ist. Aber nur kurz: bis sich der „innere Seher“ (C. Castaneda), die nie ganz angerissene Verbindung zur Unendlichkeit, wieder meldet und einem sagt, dass dem nicht so ist.

Wir fassen zusammen: das Wort Theorie kommt vom Schauen aufs Theater, über das man in die Transzendenz schauen will. Und entscheidend ist, ob der Blick aufs Drama durchlässig auf den Himmel sein kann oder nicht, ob das Drama den Blick weiterleitet oder ein stumpfer Spiegel ist, in dem sich die Gefangenschaft des Alltagsmenschen in seiner beschränkten Wahrnehmung widerspiegelt. Aber in diesem Kontext ist es klar, warum ursprünglich die Theorie höher eingestuft wurde als die eingeschränkte und verkürzte Empirie unserer Raubtieralltagswelt („was gibt es zu fressen?“, „was gibt`s zu trinken?“, „wie schaut´s futmäßig aus?“).

Von Castaneda her gesehen wäre noch zu sagen, dass das „Sehen“, die „Schau“ jenseits jeden Inventars und jeder Beschreibung und somit auch jeder Gestalt eine entfaltete und ganzheitliche Erfahrung und somit sozusagen „Empirie“ ist.

Es stellt sich die Frage, ob mit der „Schau“, die das Wort „Theorie“ bezeichnet, ursprünglich dieses „Sehen“, wie es bei Castaneda beschrieben ist, gemeint ist, oder immer schon das Schauen auf das Drama. Dieses wiederum kann dann auch näher am Sehen sein oder weiter weg.

© Peter Rumpf 2007

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