Montag, 8. Oktober 2007

9 „Kirchenvater“ Sigmund Freud

In einem theologischen Seminar erlebte ich einmal eine Schlüsselszene: der Dozent, ein assoziativer und „sprunghafter“ Denker – sehr zu meiner Freude, sehr zum Ärger der „gründlichen“ Denker („gründliche Denker“: wo man einen Autor mindestens zehnmal hinunter und achtmal hinauf gelesen haben muss, bevor man eine Augenbraue heben darf) – dieser Dozent also sprang – schon von seinem Thema ausgehend – in der Welt- und Kirchengeschichte hin und her und machte so seine kritischen bis ätzenden, oft sehr treffenden Anmerkungen zu diesem und jenem Kirchenvater, Theologen, Philosophen – die gründliche Denker im Auditorium wurden schon unruhig – und eben auch zu Sigmund Freud. Das reichte. Da platzte es heraus: „das kann man so über Freud nicht sagen!“

Da wusste ich, Freud ist in der allgemeinen Geistesgeschichte, aber auch beim Großteil der akademischen Theologen so etwas wie ein „Kirchenvater“: eine geistige Autorität, fast sakrosankt, seine Infragestellung wird tendenziell geahndet.

Diese Stellung Freuds ist verhängnisvoll und der springende Punkt ist die Stellung der Sexualität. Unbestritten ist die Wichtigkeit der Sexualität für den Menschen; viele der von Freud beschriebenen „Mechanismen“ gibt es, aber geschichtlich und strukturell vorher ist in der Menschheitsgeschichte der Verlust des „stillen Wissens“ (C. Castaneda) und somit der Verlust der unmittelbaren Erfahrung des Sehens mit der Folge der Reduktion der Wahrnehmung und der Wirksamkeit des Menschen auf ein paar Promille seines angeborenen Potentials. Anscheinend versucht der Mensch, diesen Verlust fast zwangsläufig über die Sexualität zu kompensieren.

Soviel auch an verdrängten Wünschen des Ego etc. in religiöse und ähnliche Vorstellungen projiziert werden kann – durch den Verlust des Paradieses (des stillen Wissens) wird zuerst das verlorene Paradies ins Irdische projiziert; oder anders ausgedrückt: die Sexualität (und das Ego) spielt deshalb eine so überzogene Rolle, weil vorher der Mensch ins Gefängnis des Alltagsbewusstseins geraten ist. Jetzt kann er aus dem Sozialen nur mehr schwer hinausdenken, auch wenn er dieses Alltagsbewusstsein transzendieren, also überschreiten will.

Oder vom Unbewussten her gesehen; das Unbewusste mag schon das Reservoir all unserer verdrängten sexuellen, egoistischen etc. Wünsche, Vorstellungen, Triebe sein, aber noch tiefer liegen dort auch die „Erinnerungen“ vom Paradieszustand, die Ahnungen unserer verdrängten Möglichkeiten, das Wissen um unser nie genutztes Potenzial. Also das, was Freud im Unbewussten findet, befindet sich ganz in der Nähe des Bewussten, aber von dort geht es noch weiter und tiefer.

Tatsache ist, dass im Menschen die echte Erfahrung des Sehens, des stillen Wissens, der echten „Transzendenz“ als Möglichkeit bereitliegt; er müsste nur den Mut und die Disziplin haben, sie zu ergreifen.

Don Juan Matus, der Lehrer Carlos Castanedas sagt auch, dass die Menschheit die Wahl zwischen Freud und (Franz Anton) Mesmer als Orientierer gehabt hat, und dass sie, hätte sie sich für Mesmer entschieden, einen gesünderen und ausgeglicheneren Weg gewählt hätte (die Belegstelle dafür kann ich jetzt nicht finden).

© Peter Rumpf 2007

Nachtrag 26.03.2012:
Jetzt habe ich die Belegstelle gefunden!
"..., weil Don Juan (Matus) immer wieder sagte, dass wir zu der Zeit, als die Psychologie Freud hervorbrachte, geschlafen haben, zu passiv waren. Damals hätten wir die Wahl gehabt, entweder Mesmer oder aber Freud zu folgen. Wir sind mesmerische Wesen. Wir haben diesen alternativen Pfad nie wirklich erkundet ..."
Alexander Blair-Ewart interviewt Florinda Donner-Grau, eine Mitstreiterin Castanedas; aus:
Roman Katzer (Hg.), Die Erben des Don Juan, Hans-Nietsch-Verlag; 2005. S 180
(vgl. auch Post 75, wo ich diese Stelle ausführlicher zitiere)

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