Montag, 8. Oktober 2007

5 Was ist Sehen?

Bei Carlos Castaneda wird das „Sehen“ auf viele Arten versucht zu beschreiben. Seine ganze Ausbildung zum Zauberer (oder Schamanen oder Seher) beruht darauf, ihm das „Sehen“ (im Gegensatz zum „Schauen“) zu lehren.

„Schauen“ ist das Wahrnehmen der Welt so, wie wir es im Alltagsleben gewohnt sind. Wir schauen auf die Welt, aber zwischen uns und der Welt ist wie ein Filter das, was bei Castaneda die „Beschreibung der Welt“ oder auch das „menschliche Inventar“ genannt wird: Unser ganzer internalisierter, von ersten Augenblick der Geburt eingeübter Lernprozess, durch den uns beigebracht wurde, so wahrzunehmen wie wir wahrnehmen, inklusive all unserer dafür benötigten Begriffe, Begriffsysteme (Raum, Zeit, oben, unten, Ding,….), Vorstellungen, Leitbilder, Selbstverständlichkeiten und vieles andere mehr.

„Sehen“ ist Wahrnehmen ohne alle Beschreibung; man sieht dann alles so, wie es wirklich ist. Will man das Gesehene beschreiben oder über den Vorgang des Sehens reden, muss man natürlich auf Begriffe etc. aus der Beschreibung der Welt zurückgreifen, aber im Bewusstsein, dass es nur eine ungefähre Umschreibung des Erfahrenen sein kann. Eigentlich ist „Sehen“ unbeschreiblich und unbegreiflich. (vergleiche auch IV. Laterankonzil 1215: „bei allen Aussagen über das Wesen Gottes ist die Unähnlichkeit größer als die Ähnlichkeit“.)

Wenn die Seher bei Castaneda ihr Sehen beschreiben, reden sie meistens vom „Wahrnehmen von leuchtender Energie“, vom „Wahrnehmen eines Universums fließender Energie“ (erst unsere Beschreibung macht sie zu einer festen Welt fester Dinge und scheinbar berechenbarer Vorgänge!), vom Wahrnehmen auf verschiedene Art sich bewegender Energie, die sich zu verschiedenen „Konglomeraten“ (oder Formen) bündeln; wenn es sich um Lebewesen handelt sprechen sie vom Wahrnehmen „leuchtender Wesen“, beim Menschen auch vom Wahrnehmen „leuchtender Kugeln“ oder „leuchtender Eier“.

Der Sehende weiß dann unmittelbar alles über das, was er sieht: was und wofür die Pflanze ist, ob der Mensch Kinder hat, ob der Tod schon nach ihm ausholt, wie sein Charakter ist etc., einfach alles; alles ist als Merkmal an der energetischen Struktur ablesbar. Man sieht die Dinge so, wie sie wirklich sind, ihr Wesen; man sieht „energetische Tatsachen“.

Aber nur bei lauterem Sehen. Es kann bei Zufallssehern oder ungeübten Sehern ein Sehen geben, das nicht rein ist, weil Elemente der „Beschreibung der Welt“ (oder eben auch „menschliches Inventar“ genannt) ins Sehen mitgeschleppt werden. Visionen dieser Art geistern in der Menschheitsgeschichte en masse herum und verwirren die Menschen.

Reines Sehen ist Wahrnehmen reiner Energie und als solches absolut (absolvere: losmachen, befreien; losgelöst vom menschlichen Inventar), wahr, unfehlbar, allgemeingültig, nicht weiter hinterfragbar.

Der Clou daran ist, dass wir alle einen Teil haben, den „energetischen Zwilling“, der seit der Geburt verdrängt wird, dessen Verbindung zu uns fast (aber eben nur fast) durchgetrennt ist, der ständig „sieht“; und wäre unsere Verbindung zu ihm geläutert und lebendig, stünde uns sein Wissen („Wissen“: laut L. Mackensen, „Ursprung der Wörter“: „ich habe gesehen, ich weiß“; Perf.; verw. mit Lat.: videre, sehen) voll zur Verfügung, bzw. unser Selbst und der „Zwilling“ wären wieder voll zu einem Ganzen integriert („Ganzheit des Selbst“).

Aber auch in unserem zerrissenen Zustand als Alltagsmenschen sickert manchmal ein Tropfen vom Wissen unseres energetischen Zwillings durch – das sind dann die Eingaben, die uns vor einer Gefahr retten, oder uns einen Ausweg zeigen oder uns etwas intuitiv richtig erfassen lassen und vieles, das als Richtiges, wenn auch oft nur schlecht Verstandenes in fehlerhaften Visionen, Ideen etc. steckt. Denken wir z.B. an Platons Theorie, dass der Mensch ursprünglich ein „kugelförmiges Wesen“ gewesen sei, dass auseinander gerissen wurde – im Hinblick auf den von uns getrennten „energetischen Zwilling“.

© Peter Rumpf 2007

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