1 Über „heilige“ Geschichten
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ein Mythos, eine heilige Geschichte, eine Heiligenlegende „funktionieren“ kann:
Die Geschichte erzählt von einer Person, deren Leben und Handeln wirklich „heilig“ war („Heil“ verwandt mit engl. „whole“, ursprünglich „unversehrt“, „ganz“; nach L. Mackensen, Ursprung der Wörter). Diese Person ist über den Status eines gewöhnlichen Menschen hinausgewachsen und zwar wirklich, nicht in der Vorstellung; sie hat die „Ganzheit des Selbst“ (Carlos Castaneda) erreicht, d.h. der beim Alltagsmenschen unvermeidlich abgespaltene, aber eigentlich angeborene „transzendentale“ (oder wie immer man das nennen mag) Anteil ist wieder voll integriert.
Diese Person tritt in einen Status maximaler Wahrnehmungsfähigkeit und größter Wirksamkeit, kann Sphären bereisen, wo „Wunder alltäglich sind“ (C. Castaneda) und von „dort“ Erstaunliches mitbringen. (Laut Castaneda benutzen wir als Alltagsmenschen nur Promille der in uns angelegten Möglichkeiten).
Zu Geschichten dieser Art würde ich die Evangelien über Jesus von Nazareth zählen. Die Erzählungen haben nichts Phantastisches, Manieriertes, wie es bei ausgedachten, unechten Mythen so typisch ist, im Gegenteil, sie schildern Menschen und Situationen sehr nüchtern und realistisch. Als Beispiel sei die Heilung des Barthimäus (Mk 10,46-52) angeführt. Das Verhalten der Menschenmenge ist so genau und nachvollziehbar beschrieben, dass von daher das Wunder der wirklichen und nicht bloß metaphorischen Blindenheilung glaubwürdig ist.
Die zweite Möglichkeit, wie so etwas „funktioniert“, ist, dass die Geschichten über einen Menschen, der zwar heiliggesprochen wird – und ich meine nicht nur kirchliche Heiligsprechungsverfahren, sondern alle, auch profane Arten allgemeiner Verbindlichkeitserklärungen des Lebens, Lehrens und Handelns einer Person – , dessen Leben aber nicht wirklich über seine Endlichkeit hinausgeragt hat, dass diese Geschichten also sich verselbständigen so, dass sie die Unvollkommenheit des Protagonisten korrigieren im Sinne des in ihm angelegten (aber eben nicht voll entfalteten) Potentials. Auch so kann uns diese Geschichte zur Orientierung dienen.
Als Beleg möchte ich auf das Buch „Die Kraft der Stille“ von Carlos Castaneda hinweisen. Darin wird (S 117f) die Geschichte von Calixto Muni aus den „Denkwürdigen Daten“, eine Geschichtensammlung der Yaqui-Indianer, erzählt, aber mit dem Hinweis, wie ein Zauberer-Geschichtenerzähler den Schluß verändern kann, nämlich „so dass er, statt zu schildern, wie Calixto Muni von den spanischen Henkern geschleift und gevierteilt wurde, wie es tatsächlich geschah, eine Geschichte von Calixto Muni, dem siegreichen Rebellen erzählte, dem es gelang, sein Volk zu befreien“.
„Der Zauberer-Geschichtenerzähler (…) tut dies auf Geheiß und unter Anleitung des Geistes.“
„Er hat sein Denken mit einem Salto ins Unvorstellbare fallen lassen.“
„Weil sein reines Verstehen ein Vorläufer ist, der das Unermessliche dort draußen erforscht (…) weiß der Zauberer-Geschichtenerzähler ohne die Spur eines Zweifels, dass irgendwo, irgendwie, in dieser Unendlichkeit und gerade in diesem Moment der Geist herabgestiegen ist. Calixto Muni ist siegreich. Er hat sein Volk befreit. Sein Ziel ist über seine Person hinausgewachsen.“
Die Geschichte von Auferstehung und Himmelfahrt des Jesus von Nazareth halte ich übrigens – ich bin allerdings kein Seher, der das bezeugen könnte – für eine Geschichte der ersten Kategorie.
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