Dienstag, 27. Dezember 2022

3031 Das Lachen von unten

 

11:34 a.m.  Ich starre auf den herrlichen Anblick des winterlichen Wiens von der schönen Bellevue aus, den ich soeben aus mir herausgehustet habe. Ich starre noch hin, als der Anblick vorm inneren Auge schon längst wieder verblaßt und verloschen ist. Ich verweile noch im Bett – dösend, träumend, sinnierend – und lasse so den Tag anklingen. Alle geplanten Erledigungen verschiebe ich im Geist auf morgen. Unten zischelt die Kaffeemaschine, aber hier heroben warte ich noch. Langsam wandert ein leiser Furz dem Ende des Tunnels zu und als er die Freiheit unter der Bettdecke erlangt hat, war er bestenfalls ein lokales Ereignis, bevor er sich aufgelöst hat. Das Lachen von unten weckt meinen Hunger; der Wille aufzustehen wird so gestärkt. Ich glaube, jetzt war da unten im Gelächter sogar von mir die Rede, aber sicher bin ich mir nicht.

 

(27.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3030 Selbstkritik

 

3:46 a.m.  Ich bin ein kleines Licht, ein ganz kleines. Und außerdem brenne ich schlecht. Was will ich denn Schriftsteller sein?! Ich Bettler, Schmarotzer und verfluchte Existenz. Ein ordentlicher Schriftsteller macht für seinen Unterhalt Übersetzungen, schreibt Artikel, hat einen kleinen Lehrauftrag, wenn die Schriftstellerei zu wenig einbringt. Das sagt auch der Brecht (im vorigen Jahrhundert). Und ein Schriftsteller greift auf einen Fundus aus Bildung und von irgendwas zurück, das er sich erarbeitet hat und dem er halbwegs vertraut und das ihm geistige Sicherheit gibt. Er muß es ja nicht anbeten. Zumindest jedoch kann der damit Rezensionen schreiben. Ich aber komme von unten und aus dem Nichts und habe nie gelehrt bekommen, wie man mit goldenen Löffeln ißt und wie man souverän ein Lokal, eine Redaktion, ein Hotel betritt. Es ist nichts da, das mich trägt und von dem aus ich mich einbringen könnte. Ich werde trotzdem weiterschreiben; es bleibt mir gar nichts anderes übrig, aber erwarten oder erhoffen darf ich nichts. Ich meine nicht nur aus lebenspraktischen Gründen, sondern vom Inhaltlichen her: mehr als mit meiner Schublade darf ich die Welt nicht belästigen.

 

(27.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 26. Dezember 2022

3029 Ver

 

10:44 a.m.  Meine kleine Kemenatenwelt nach dem Öffnen der Augen vor mir ausgebreitet – sie kommt mir heute recht groß vor – die Augen noch koordinationsunfähig – so knotze ich im Bett. Was wohl gerade der Todestrotzer macht? Ich denke oft an ihn. An den Himmelfahrer Jesus natürlich auch; der scheint mir nicht so unheimlich. Ich bin noch nicht ausgeschlafen; stundenlang hat mich Frau Katz traktiert, bevor ich dann doch zum zweiten Mal aufgestanden bin, um ihr ein zweites Frühstück zu bereiten. Mein Geist – oder was davon übrig ist - schweift in fragwürdigen und verbotenen Regionen herum und hat Schwierigkeiten, hierher zu kommen und da zu bleiben. Kurz sehe ich ganz am Ende des Tunnels eine frohlockende frankophone Schweizerin. Jetzt jedoch hat Jessica übernommen. Mein linker Arm erlebt einen leichten Krampf. Und jetzt Unterhund. Wo kommt das her?! Was soll das sein?! Die Milch wird freigegeben. Auch gut, aber ich brauche keine. Höchstens im Kaffee, wenn kein Dinkl-Hafer-Zeugs da ist. Also, mein Freund: entscheide dich: schlafen oder aufstehen.

Schließlich bin ich aufgestanden und dann in die Albertina, denn die aktuellen Ausstellungen sind wahrlich sehenswert. Mein Resümee heute: Die Welt ist verwunschen, verwahrlost und verklärt.

 

(26.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3028 Damit leben

 

3:30 a.m.  Ein kleines großes Staunen ist das schon, wenn ich in mich hineinhorche. Zwar ist da dauernd und permanent, fast immer die Stimme, die sagt, dass ich nichts wert bin und kein Recht zu leben hätte, aber die kann ich überhören und hinter sie lauschen. Und dort ist es interessant. Trauer ist schon immer da, denn ich habe in meinem Leben meine Fähigkeiten nicht zu Entfaltung gebracht, meine Flügel nicht ausgebreitet. Aber das macht nichts, dass die Trauer da ist, denn sie ist zu Recht da und daseinsberechtigt – im Gegensatz zu dieser fremd installierten, destruktiven Stimme. Schaut nicht so aus, dass ich die in diesem Leben noch wegbringe. Oder wenigstens in den hintersten Winkel meiner Seele verbannen kann. Ich glaube nicht mehr, dass mir das gelingt, diese fremde Stimme zu entthronen. Ich werde damit leben müssen.

 

(26.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 25. Dezember 2022

3027 Heiliger Abend Nachmittag

 

2:34 a.m.  Heute (24.12.) bin ich im Kreise der Großfamilie als Gast (also nicht bei uns) beim Mittagessen gesessen und dann beim Kaffee. Ich habe mich sehr wohl gefühlt dann auf der Wohnzimmerbank, habe dem Leben und Treiben der ganzen Mischpoche, dem der Alten und dem der Jungen und besonders der ganz jungen und dem meiner Kinder und der Bonuskinder und dem der Bonusenkelkinder zugeschaut. Ich bin ruhig geworden und immer tiefer in die Polsterung gesunken und dann hatte ich die Vorstellung, beinah eine Vision, immer tiefer zu versinken. Ich habe mir gedacht, es wäre für mich ganz okay und angenehm, jetzt immer tiefer in die Couch zu versinken, ich schaue um mich, ich blicke zum Fenster hinaus auf die Bäume und in das Licht der Sonne, löse die Realität auf und meinen versinkenden physischen Körper, bis nur mehr die Augen da sind. Ich schaue noch, lasse meine Augen noch an dem, was rundherum ist, weiden, während der restliche Körper schon in einzelne Moleküle aufgelöst ist, die sich zunächst noch mit denen der Couch vermischen. Ich schaue noch und schaue staunend und voll Liebe auf die Welt, bis ich bereit bin, ganz zu verschwinden, ohne irgendwas zurückzulassen; meine Moleküle gibt es auch nicht mehr, sie sind nur mehr einzelne Energietropfen, die sich in einem Meer aus Energie auflösen. Ich bin einfach versunken und nicht mehr da.

 

(25.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 23. Dezember 2022

3026 Beschürzen

 

11:22 a.m.  Im Zahnambulatorium. Die Röntgenassistentin hat - als ich ein Wort für ihre Tätigkeit beim Überlegen der Bleischürze suchte – „beschürzen“ erfunden. Wir haben gelacht, ich habe nur „was immer das heißt“ gesagt, aber meine Assoziationen nicht preisgegeben; nämlich: Schützenjäger, in welchem Wort Schürze ja die „Scham“behaarung der Frau meint.

Ich bin extrem nervös bei solchen Terminen, nicht aus Angst vor der Zahnärztin, sondern aus Pflichtbewußtsein, aber solche Scherze gefallen mir immer und jetzt warte ich relativ entspannt auf die zahnärztliche Behandlung.

Die Räume hier – die ich immer als verbesserten „Ostblock“ empfunden habe – sind jetzt heller, besser ausgeleuchtet, was gleich einen größeren Unterschied macht. Dabei bin ich ansonsten eher gegen den Fortschritt. Klare Gedanken kann ich jetzt doch nicht mehr fassen. Unglaublich, wie doch die Außenwelt (ist es wirklich die Außenwelt? Oder sind es abgespeicherte Erlebnisse, die in mir aufpoppen?) auf mich zugreifen kann.

 

(22.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3025 Es klopft

 

8:21 a.m.  Noch unter schrillem Surren aus dem letzten Traum, in dem ich auf eine Bettdecke gepieselt habe (im Traum!), hocke ich zittrig da und schreibe mit schlecht zu lesender Goldschrift. Ich zittere nicht vor Kälte, denn ich habe mir über den Pyjama meinen Hoodie angezogen, sondern … wovor eigentlich? Egal, ich habe es schön in diesem mehrdeutigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Die Vision eines langen, schmalen, altertümlichen Badezimmers, in dem ein bunter, unpassender, gut verpackter Gegenstand steht. Die Kommissare drohen mir – sie glauben, ich hätte damit zu tun. Es klopft unten an irgendeiner Tür, ich schrecke auf, kann das Klopfen nicht zuordnen. Über dem Notizbuch eingeschlafen.

 

(21.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 20. Dezember 2022

3024 Cristóbal de Morales

 

Ich sitze in der Albertina vor Muntean/Rosenblums Video mit der Motette von Cristóbal de Morales – ich bin extra wegen dieses Videos hergekommen, weil ich es unbedingt nochmals anschauen wollte – und wie beim ersten Mal kommen mir die Tränen. Diesmal bin ich gefaßter und beherrschter. Meine religiöse Sehnsucht – was immer die genau ist – kann sich wirklich an allem Möglichen entzünden. Alle psychologischen Erklärungen – so sehr sie zutreffend und berechtigt sein mögen – greifen jedenfalls zu kurz. Es geht nämlich letztlich um den Ausgriff nach dem verfehltem magischen Erbe, das uns Menschen übergeben und anvertraut ist und zusteht, nach dem tatsächlich in der wirklichen Menschheitsgeschichte verlorenen Paradies (das Stille Wissen), von dem ich anscheinend eine Ahnung in mir habe, die mich für diese Welt hier unbrauchbar macht (was nicht so sein müßte!). Und wieder kommen mir die Tränen (sicher: Sehnsucht ist sinnlos, wenn man sie nicht in Disziplin, Ausdauer, in ein Ziel und einen konkreten Weg verwandeln kann). Am meisten bringt mich der kniende Typ zum Weinen: was hab ich für eine Sehnsucht, mich hinzuknien und all meine Kämpfe aufzugeben, alle Bemühungen und Träume aus der Hand zu legen! (Und das ist ein Irrweg!) (Wurscht!) Unsere Wirklichkeit ist wirklich bloß eine fragile Skizze, über die Unendlichkeit geworfen. Natürlich! Qui tollis peccata mundi – das ist mein sinnloses Thema. Die Schuld zu leben. Kein Wunder, dass ich da heulen möchte.

Ich erhole mich von Schmerz und seelischer Erregung bei einem Waldbild, Pastell auf Papier, von Hauenschild Ritter, die Motette von Cristóbal de Morales noch hinter den Augen. Dieser unaufgeräumte Wald, von verklärtem Licht durchflutet; schwarz, grau, weiß – das genügt ... und jetzt erst habe ich die Geschichte dieser Stelle im Wald gelesen: das dreht nochmals alles um. Der Wald ist nicht einfach ein Wald, obwohl er nur ein Wald ist. Wer wird gewinnen, hier an dieser Stelle? (Gimme Shelter). Heute, mit den Infrarotkameras und den Satellitenbildern hätten die versteckten Männer wohl keine Chance.

Lasse meine Seele bei Werefkin, die mir schon vertraut ist, durchatmen. Auch hier lasse ich mich bezaubern, verzaubern und überwältigen. Ich lasse das zu. Die Bäume im kalten Wald: jeder einzelne ein eigenes magisches Wesen. Auch hier zeigen die zwei Bilder mehr von der dahinter liegenden Wirklichkeit. Heute hat es mir besonders der Nachtschwärmer angetan und seine gefrorene Nacht.

Dresden (London fehlt): ich möcht hinreisen, obwohl es dieses Dresden nicht mehr gibt. Eine Vergangenheit, in der ich  - so vermute ich – noch weniger zurecht gekommen wäre als heute. Aber schön müssen noch Stadt, Fluß und Landschaft gewesen sein, zumindest zeigt das der Kokoschka. Den Thöny möchte ich auch gern ehren – Erinnerung an den Roten Raum Trigon 81 – aber nicht heute. Heute gehe ich weiter.

Die obligatorische Rast beim depperten Kardinal in der Nähe der Klees und das fällige Photo von mir im Spiegel – diesmal als Onkel H. Den Klee schaue ich mir von der Seite an. Den ersten mag ich nicht so – und das ist selten bei Klee – den zweiten sehr; die im Spiegel beide.

Ein bisserl Beckmann heute, aber natürlich auch den Arbeiter von Marie-Luise von Motesiczky (ihr Kröpfelsteig fehlt!). Der Beckmann als Blackmann hellt dann doch recht auf! Der freundliche Arbeiter -  an dem habe ich einen Narren gefressen – ich weiß auch nicht, warum. Ich erhebe mich, mache ein Photo und gehe weiter.

Nochmals ein wenig zum Weinen zur Motette. Qui tollis peccata mundi – ja, der Erlöser! Wenn das funktionierte, könnten wir wieder von Neuem anfangen. Wahrlich, wahrlich ich sage euch: ich bin leicht einzufangen! Und die Sonne glurrt durch die hoch niederhängenden Wolken am Himmel.

 

(20.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3023 Angebliche Mönche

 

8:37 a.m.  Ist es nicht schon ein wenig zu hell für diese Uhr- und Jahreszeit? Eher unwahrscheinlich, dass da irgendsoein Großer Kosmischer Uhrmacher an der Himmelmechanik herumgedreht hat. Also werde ich es sein, der das falsche Konzept hat. Ich denke, es ist die Heizung, die da so fröhlich dahinschnurrt. Meine Hintergrundmusik hat noch Schwingungen von diesem Mönchsworkshop, bei dem ich vorm Aufwachen war. Diese Schwingungen haben aber nichts mit Gregorianischen Chorälen oder Ähnlichem zu tun; das muß in einer anderen Welt mit anderem Musikgeschmack gewesen sein. Kalt ist es noch, obwohl mir vorhin noch ganz warm war. Was mach ich mit dem angebrochenen Morgen? Allzuviel weiß ich damit nicht anzufangen: ich schaue bloß im Zimmer herum und verfolge den akustischen Input. Mein alter Kassettenrekorder oben am Fußendekastl macht Dehn- und Streckübungen, aber als ich ihm dabei zuschauen will, hört er auf. Ich schließe die Augen und konzentriere mich aufs Horchen. Ich bin immer überrascht von Intensität, Fülle, Komplexität und vom Variantenreichtum der belauschten Monotonie. Das ist alles eine Nummer zu groß für mich. Dann zurück zu den angeblichen Mönchen.

 

(20.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 16. Dezember 2022

3022 Morgenerledigungen

 

10:30 a.m.  Ich bin im Bett, aber habe heute schon einiges erledigt. „Drüben“ habe ich mit Schulkollegen - aber in unseren Tagen - in einer Band gespielt. Als Schlagzeuger und Bassist. Das Schlagzeug hat eigentlich nur aus einer kaputten Trommel und lauter hinnigen Trümmern bestanden, irgendwelches Zeug vom Schrottplatz und ich habe probiert und probiert, mit meinem dumpfen Geklopfe doch irgendwas Genaues und Klingendes hervorzubringen. Die anderen haben auch geprobt, aber ich war mehr für mich und abseits und mit dem desolaten Instrument beschäftigt. Leadsänger und Leadgitarrist war übrigens Ulli Wallner. Wer die anderen waren, weiß ich nicht mehr (wenn ich es überhaupt je gewußt habe). Die haben mit ihren Instrumenten – ich erinnere mich nur an Gitarren – seriös geprobt, während ich auf dem Müll herumgeklopft habe. „Unsere“ „Mädels“ (sprich: Klassenkolleginnen) waren auch schon da und haben – von Ulli betreut und bemoderiert – auf unseren Auftritt gewartet und den Proben gelauscht. Die anderen Bandmitglieder waren also Profis; ich war ein größenwahnsinniger – Dilettant oder Amateur will ich gar nicht sagen – also jemand, der so a là Beuys von sich glaubt, dass eh alle Künstler sind. Von sich glaubt! Geprobt haben wir auf einer neuen, riesigen Freizeitanlage, eine öde, undefinierte, ebene Fläche, ein schieches Terrain irgendwo auf dem Weg vom Ennstal nach Graz, ein unseliges Zwischending zwischen Campingplatz, mehr noch Riesenparkplatz und leerem Containerabstellplatz. Kurz gesagt: mir war schon klar, dass ich der bin, der nichts kann und sein Nichtkönnen „künstlerisch“ behübschen will, und genau so mit falscher Tiefsinnigkeit habe ich zu trommeln versucht. Zum Basssssspiel (ich hasse die neuen pseudologischen Rechtsschreibregeln!) bin ich gar nicht gekommen und als ich die anderen gefragt habe, ob ich jetzt den Bass spielen soll, ist mir mit Erschrecken eingeschossen: das kann ich ja auch nicht! Das war „drüben“.

Hier herüben habe ich schon die Katze gefüttert. Das heißt: ich habe mich von ihr und ihrem leisen Schnaufen aufwecken lassen, bin aus dem Bett, habe die Zimmertür geöffnet (geschlossen ist sie nur jetzt im Winter wegen der argen Kälte im Vorzimmer), bin zurück ins Bett, habe die darauf wartende Katze ermutigt, aufs Bett zu springen und sie ermunternd angesprochen, habe sie, nach ihrem Sprung aufs Bett lange und ausgiebig gestreichelt und sie hat ausgiebig geschnurrt. Als sie genug hatte, bin ich wieder auf, habe mir schnell Alltagsgewand über den Pyjama geworfen, bin mit ihr hinunter in den unteren Teil der Wohnung, wo die Tageskinder sind. Dazu muß gesagt werden: Frau Katz hat Kinder immer gefürchtet und ist beim kleinsten Kinderlaut schon aus dem Stiegenhaus panisch in die obere Wohnung geflitzt, wo die Kinder nicht heraufkommen. Aber in letzter Zeit will sie trotz Kinder mit meiner Begleitung hinunter, wobei ich sie ermuntere mit mir zu kommen und verspreche, dass ich auf sie aufpassen werde. Ich sage wirklich laut und deutlich: „Mitzi, komm nur, mein Katzerl, ich werde auf dich aufpassen!“ Und dann kommt sie unter mehr oder weniger strikter Beibehaltung aller kätzischen Vorsichtsmaßnahmen, die da sind: lauern, beobachten, sichern, Deckungen ausnützen. In der Küche, hinter der Sperre zum Tageskinderbereich, wasche ich ihr Schüsserl aus, gebe frisches Futter hinein, ihre Tablette gegen den Tumor, gebe eventuell noch ein Leckerli dazu und stelle es ins Bad an ihrem Futterplatz. Dann warte ich eine Zeit lang, ob sie mit hinauf kommt, weil ich ihr dann die Sperre aufmachen kann, was sie gern hat. Wenn sie zu lange herumtut gehe ich einfach rauf, weil ich weiß, dass sie im Notfall trotz Alter und Krankheit immer noch drüberspringen kann. Überhaupt habe ich in den letzten Monaten den Eindruck, Fräulein Mitzi mag inzwischen ihre Auftritte bei den Tageskindern und schaut ihnen gerne zu. Das war also hier in dieser Welt.

Jetzt ruhe ich mich wieder im Bett aus, schlafe eventuell noch ein wenig, jedenfalls döse ich und wärme mich auf. Jedenfalls so lange, bis Madame Mi-Tsi meldet, dass sie ihr Geschäft verrichtet hat, was sie mir jedesmal verlässlich brummend ansagt, auf dass ich es entfernen möge. Die entsprechende Anlage befindet sich im Vorzimmer zu meiner Kemenate, weswegen ich, um allzu starke Geruchsbelästigung zu vermeiden, ihrer Aufforderung gern und prompt nachkomme. Diese ganze morgendliche, koopeerative und beziehungsstärkende Prozedur hat sich in den letzten Wochen und Monaten zu unserer normalen Alltagsroutine entwickelt. Aber jetzt hocke ich noch im Bett und genieße den Morgen.

 

(16.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3021 Vorsichtig geworden

 

3:07 a.m.  Was soll ich jetzt noch sagen? Ich bin ganz vorsichtig geworden – wegen dem Sprengsatz in mir. Schon mehr ängstlich. Ich fürchte mich vor meinen Gefühlen und mißtraue ihnen. Ich habe den Verdacht, dass sie nicht echt sind und gefährlich. Gut, was ist schon echt! Gehst nah an ein Bild  heran, besteht es nur aus einem Chaos aus Strichen und Farbflecken. Also, was ist schon echt? (Übrigens: dauernd schreibe ich „ich“ statt „ist“. Das geht auch in diese Richtung.)

Ich habe wieder so einen schwarzlichtverseuchten Lichtnebel im Zimmer (und mit Schwarzlicht meine ich wirklich schwarzes Licht, das Dunkelheit ausstrahlt). Regentropfen oder Tropfen geschmolzenen Schnees höre ich vom Fenster her. Ich geh nicht hin und schaue nach. Ich meine: ich schaue nicht nach. Der Lichtnebel erscheint jetzt etwas heller. Ein Gedankenstrudel zieht mich komplett weg aus meinem Zimmer. „Komplett“ ist ein wenig übertrieben: mein Körper ist im Zimmer geblieben. Der (!) Corpus delicti hat das Zimmer nicht verlassen. Ein Tagtraum spät in der Nacht.

Also: sind meine Gefühle echt oder sind sie ein wenig emotional überzuckerte Gedanken? Rauschen sie mehr im Kopf, die Gefühle, die dann keine echten wären? Ich werde das Problem heute nicht mehr lösen und die Antwort jetzt nicht mehr finden. Darum sagte ich mit Herbert Prohaska: „G u t e  N a c h t !!!“

 

(16.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3020 Prohaska

 

Ich lese jetzt einen Roman, wo die Hauptfigur Proska heißt (Siegfried Lenz, Der Überläufer). Und immer wenn ich Proska lese, lese ich Prohaska. Als wäre Proska nur eine Abkürzung. Das geht nicht weg; mein stures, verseuchtes Gedächtnis spielt mir jedesmal den Streich: Proska – Prohaska. Ich lese: Proska, meine innere Mitlesestimme laut: Prohaska. Gut, ich bin auf Seite 18; vielleicht kann ich mich noch umprogrammieren, aber kann ich das noch von meinem alten, versulzten Gehirn erwarten? Wir werden sehen.

Seite 167: immer noch, aber ein wenig schwächer. „Wer wird gewinnen? Ich oder ich?“

 

(15.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 15. Dezember 2022

3019 Bücherei

 

Ich sitze in der Bücherei beim großen Fenster mit der schönen Aussicht nach Norden. Wird mir was einfallen? Ich sollte vom Anblick ergriffen sein und die Ideen sollten nur so sprudeln, aber ich bin lau und leicht degoutiert; die Winterjacke, die ich als jemand, der in der Welt draußen ständig in Fluchtbereitschaft ist, der ständig erwartet, dass man ihm alles wegnimmt und glaubt, sich dessen nicht derwehren zu können, nie ausziehe, ist mir unangenehm schwer und zu warm. Schon klopfe ich leise mit dem linken Fuß auf den Boden, wie ein nervöses Pferd, scharre schon in den … was? Löchern? … der Geruch des Fußbalsam von heute Früh trotz mehrmaligem Waschen noch an den Fingern und in der Nase. Etwas nach links gebeugt lehne ich da auf der bequemen gepolsterten Bank in der zweiten Reihe zum Großen Fenster hin. Wider Hoffnung und Erwartung kommt keine poetische Stimmung auf. Ein großer Schwarm Tauben vollführt in der Luft einen nervösen Massendrehtanz, ehe sie aus meinem Gesichtsfeld verschwinden (Eben! Fühlen sie wie ich?). Gott mit ihnen!

Der Stadtbahngraben für die U6, wie sie heute heißt. Stadt hat schon etwas. Man müßte die Autokolonnen als extraterristische Wesen sehen lernen; oder zumindest als von Aliens gesteuerte Lebens-, nein, Funktionsformen.

Gut! Brav! Hast ein paar Zeilen geschrieben. Ich pack zusammen, gehe den langen Marsch von ganz hinten durch die Bücherregale nach ganz vorne zu den Bordcomputern und gebe die ausborgungswilligen Bücher in das Büchereisystem auf meinen Namen hin ein und ab heim in meine Kemenate!

 

(15.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3018 Das schönere Leben

 

10:44 a.m.  Ein gemütlicher Morgen. Ich bleibe noch im Bett. Wärme mich und lasse alles ausklingen, bevor ich aufstehe: die Nacht, den abendlichen Roman, die Träume, mein Gedankenkarussell … bis ich bereit für den Tag bin. Interessanterweise spüre ich am Hintern die ständig runterrutschende Unterhose, die ich vor zwei oder drei Tagen anhatte. Dabei bin ich jetzt im Pyjama und liege im Bett. Erinnert sie mein Arsch und reproduziert und rekapituliert seine Erlebnisse von vor zwei, drei Tagen? Zerfällt meine körperliche Monarchie in unabhängige Republiken? Sozusagen die Schöpfungsgeschichte rückwärts? Was macht dann mein Ich? Abdanken? In Pension gehen? Egal! Noch halten mich Bettdecke und Selbstironie beisammen.

Ach es ist so schön im Bett zu schreiben! Gottseidank bin ich kein Maler mehr! Dieses ständige Herumschleppen von Bildern und Material, die ewigen Transport- und Lagerprobleme. Fürs Schreiben brauch ich nur Notizbuch, Pilotstift und Lesebrillen; alles andere kommet von selbst. Obwohl: manchmal sehne ich mich nach Zeichnen und Malen, aber ich komme nie über die Barriere beim Start. Und: so schön ich es jetzt habe: manchmal sehne ich mich auch nach meinen Tensegrity-Übungen. Letztens sind mir beim Krimischauen die Tränen gekommen, weil eine Frau  im Film (Nebenrolle) in einer Arbeitspause Tai-Chi geübt hat (war für ein Alibi wichtig). Aber auch da komme ich nicht mehr über das erste innere Hindernis.

Nun gut, mein Hintern presst sich jetzt ins Leintuch, das matratzengestützt zurückpresst. Die Beine angezogen, auf den Oberschenkeln das Notizbuch, leicht nach links geneigt lehne ich in den Pölstern, das Licht der Leselampe auf die aufgeschlagenen Seiten, auf Hände und Schoß. Der orangene Pilotstift, der schwarz schreibt, ein paar legasthenische und/oder demente Schreibfehler … kann es ein schöneres Leben geben?

 

(15.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3017 Versteckt

 

2:52 a.m.  Ich habe jetzt lange im Bett gelesen und mir ist immer noch kalt. Ich komme mir vor, als lebte ich in einer fremden Geschichte. Von der Handlung und meiner Rolle darin habe ich keine Ahnung. Manchmal will es mir nicht gelingen, die drei Pölster so hinter Nack- und Rück-en zu platzieren, dass ich bequem hocken und schreiben kann. In einer fremden Geschichte also. Eine Geschichte? Oder mehrere? Hintereinander oder nebeneinander? Hin und her hüpfend, weil ich allen Ansprüchen aller Geschichten und Rollen gerecht werden will? Ist das das Anstrengende in meinem Leben?

Winzige schwarze Punkte sind für ein paar Augenblicke durch mein Gesichtsfeld gerieselt. Ich habe das Gefühl, wenn ich weiter so dreinschau, wird die ganze Welt nur mehr aus diesen winzigen schwarzen Punkten bestehen. Es wird mir nicht wärmer. Aber ich traue dieser Kälteempfindlichkeit nicht: sie kommt mir wie irgendein Tick vor, ein Trick, als etwas Vertracktes. Mein schon viele wochenlange Erkältung werde ich auch nicht los. Ich suche wieder die schwarzen Punkte. Jetzt jedoch sehe ich sie nicht, aber ich ahne sie. Viele habe sich im Lichtschein versteckt.

 

(15.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 14. Dezember 2022

3016 Oder?

 

Albertina. Ruth Baumgarte. Die Farben sind von unglaublicher Leuchtkraft, Intensität und Lebendigkeit. Normalerweise würde ich da skeptisch, vorsichtig, zurückhaltend reagieren, aber hier: nein. Ich genieße diese Dichte in den Bildern, den abstrahierenden, meinetwegen gschmackigen Farbauftrag, die gekonnt hingepinselten Gestalten, das unglaubliche Neben- und Miteinander der Farben und Farbintensitäten. Bin gespannt, ob mir das bei einem zweiten Durchgang so bleibt. Ich geh jetzt weiter.

Nun bin ich in einer ganz anderen Welt: Hauenschild-Ritter. Farbverhalten (verhaltenen Farben kann ich durchaus etwas abgewinnen), graphisch, sehr genau, vorallem altindustrielle Dekadenz, manchmal ein Mensch darin, so nebenbei, aber auch Wald. Selbst auf der Lichtung im Wald ein verlassener Regenschirm. Die Striche sehr toll gesetzt: ich habe es gern, wenn sich Bilder aus der Nähe auflösen, denn so ist die Wirklichkeit. Ikonische Bohrköpfe für den mißlungenen Versuch, aus der Alltagswelt realiter in die Transzendenz durchzukommen (möglicherweise gar nicht mehr angestrebt).

Und dann in der – Verzeihung! - irren Welt von Muntean/Rosenblum. Die Menschen wirken verloren, wenn auch ergriffen – wenn auch manche in Erlösungsgesten. Ja, sie sehen etwas, die meisten sehen etwas. Aber sehen sie? Ich weiß es nicht. Jedenfalls befinden sie sich an unscheinbar forcierten Orten. Vielleicht sind es luzide Träumer und Träumerinnen. Vielleicht sind sie alle luzide Träumer. Schon betörend. Ganz anders betörend als Baumgarte und die zwei anderen. Will ich betört werden? Ich denke ja. Und der kleine Chor! Der fasst mir ans Herz. Wirklich! Der Chor besteht sicherlich nur aus Geträumten! Aber ich weine. Ich weine tatsächlich in der Albertina (und weiß nicht, ob ich dem trauen soll, oder ob ich gerade auf etwas hereinfalle). (Das darf ich aber auch: hereinfallen.) Und an den Rändern der Gebäude der Landschaft: bläulich-weißliches Leuchten. Sie sehen! Und der Schmerz in den Augen der Sänger!

Bei allen drei Stationen ist soviel, was mich normalerweise skeptisch macht, aber heute nicht. Ist das die Adventzeit? Komisch, im Abspann des Videos wird der Komponist nicht genannt. Aha, aber daneben im Text an der Wand: eine Motette von Cristóbal de Morales. Was mir jetzt auffällt: bei den letzten Zwei habe ich völlig vergessen zu photographieren. Und dabei will ich es heute belassen.

Jetzt gehe durch meine Klassiker (Batliner) und wandere zu meinen Lieblingsbildern, die ihr, liebe treue Leserinnen, aus meinen Albertinatexten schon kennt, darum muß ich sie und ihre Malerinnen und Maler nicht mehr aufzählen. Und – Überraschung! - meine Lieblingsbilder, die da sind, hängen in Gruppen nahe beisammen – schaut aus wie extra für mich. Aber das heute ist nur mehr ein kleiner Spaziergang, en passant grüße ich meine Lieblinge, ohne Anstrengung und längere Aufenthalte, geschrieben muß auch nicht werden.

London fehlt immer noch. Das ist schade, aber haut mich jetzt nicht um: Dresden ist ja auch nicht ohne. Oder? Der Kröpfelsteig fehlt auch noch immer. Detto! Der Arbeiter ist ja auch nicht ohne. Oder? Die Landschaft von Giacometti fehlt immer noch, seine weiblichen Schattengestalten sind ja auch nicht ohne. Oder?

 

(14.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3015 Die Bombe

 

2:05 a.m.  Mein Werkzeugturm im Vorzimmer ist umgefallen. Der „fallende Turm“ aus dem Tarot? Wie damals? Dann kann ich mich auf einiges gefasst machen! Ich bleibe stur. Soll es mich raus und runter schleudern!

2:44 a.m.  Weit muß ich beim Gähnen, das mich jetzt mehrmals überfällt, mein Maul aufreißen und meine Augen tränen dabei. Außen bin ganz ich ruhig, aber unter der Oberfläche unruhig und alarmiert: ich fürchte mich vor der Bombe, die da in meiner Seele deponiert ist, schon mein ganzes Leben lang, und nun im Alter, wo alles schwindet und das Trumm unter den abgeschürften Ablagerungen und den immer größeren Verlusten immer deutlicher hervorkommt und offen, blank und gefährlicher einem möglichen Auslöser ausgeliefert ist. „Nichts an Michael senden“ sagt mir eine Stimme aus der Traumabgleitung. Keine Ahnung, wer gemeint ist, was und warum. Solche unklaren Botschaften von drüben lehne ich ab und weise sie entschieden zurück. Wegen der freigelegten Bombe in meiner Seelenbaustelle muß ich mich aus mir evakuieren und darf mich nicht bewegen – sonst geht sie hoch.

 

(14.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3014 Müde steige ich

 

21:22.  Müde steige ich meinen sinnlosen Berg hinauf zu meiner Einsiedelei. Dort bin ich gern, aber es wird mich nicht retten. Ich habe nicht mehr die Kraft, mich gegen meinen Niedergang zu stemmen. Gut, die hatte ich möglicherweise sowieso nie. Ich war immer ein Blatt im Wind. Jetzt werde ich Fußballergebnisse, Universum oder Krimis, Zeit im Bild zwei anschauen oder auf Facebook herumschimpfen … womit ich mich halt in meiner Kemenate so beschäftige. Aber bringen wird es nichts als nur ein wenig sinnlose Frist. Leben ist das keines.

 

(13.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3013 Häusermeer

 

In der Kälte sitze ich auf der wunderbaren Bellevue und schaue auf die Stadt hinunter. Schatten und Sonnenflecke sehe ich auf dem – sagen wir es ruhig: Häusermeer. Und noch einige Rauchfahnen steigen aus ihren Schloten in den Winternachmittag auf, die Sonne schwimmt schon nahe am Horizont auf der dünnen Wolkenlacke. Noch sind die Häuser scharf konturiert, aber der Dunst schleicht schon deutlicher heran. Kurz hatte ich mich an Freuds Traumdeutung gelehnt (will sagen: am Denkmal an der Stelle, wo Freud, genauso wie ich jetzt auf die Stadt schauend, auf seine Traumdeutung gekommen ist), aber an den Gedenkstein gelehnt sein war in Kälte und Schnee nicht so angenehm. Der Schnee in Richtung absteigender Sonne glitzert und gleißt schon übertrieben. Meine Finger werden schon richtig kalt und steif. Es ist eine wirkliche Landschaft, auf die ich blicke; sie könnte mir genug erzählen, würde ich zuhören. Die starren Bäume streicht ein letztes leichtes, gelbes Rot; der Nachmittag geht vorsichtig in den Abend über und mich treibt die Kälte nach Hause.

 

(13.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 13. Dezember 2022

3012 Totstellreflex

8:54 a.m.  Mein Blick ist auch bei Tageslicht trüb und vernebelt. In meinen Ohren zieht, pfeift und surrt es. Ich denke mir gerade aus, wie ich schrecklich behandelt und weggesperrt werde. Vielleicht wäre das Wegsperren tatsächlich besser, denn in der Welt der Selbstbewußten werde ich immer untergehen. Und freiwillig verlasse ich mein Zimmer sowieso kaum. Nur: Einzelhaft müßte es sein! Wenn es keine Einzelhaft wäre und ich in einem kranken Kollektiv eingesperrt, müßte ich mich töten oder töten lassen. Aber lassen wir das! Lassen wir das! Wenden wir uns meinem Kelion zu, der so wunderschön ausgestalteten Kemenate (es heizt jetzt). Mein Geist ist immer noch gefangen und kehrt immer wieder in das Gefängnis zurück. Thema: Vergewaltigung in Haft. Also offensichtlich ein offenes, aktiviertes, aufgetriggertes Trauma. Ich versuche, die Kontrolle über meine Gedanken zurückzugewinnen. Zumindest ein wenig Kontrolle. Wenigstens so viel, dass ich das Ganze mit ein wenig Abstand betrachten kann. Mein geliebtes Zimmer hilft mir dabei. Weil meine Hände kalt sind, gebe ich sie unter die Decke und verhalte mich still, ruhig und unbewegt. Unbewegt um nicht noch mehr aufzutriggern.

 

(13.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3011 Replikant

 

3:24 a.m.  Sehr, sehr düster kommt es mir im Zimmer vor. Fast erschreckend. Aber ich bleibe cool (besser gesagt: ruhig. Aus meiner seelischen Erschöpfung ruhig?). Kalt ist es. Sehr kalt. Die Decke wärmt mich nicht. Ich habe jedoch den Verdacht, dass achtzig Prozent der Kälte aus mir kommt. Die 17, 18 Grad im Raum können nicht so kalt sein. Ich habe kein Herz. Offensichtlich habe ich kein Herz. Ich muß so etwas wie ein Replikant sein. Irgendetwas schlecht Nachgebautes, kein richtiges menschliches Wesen. Ein Herz aus Stein, bestenfalls. Einer, der an der eigenen Kälte erfriert.

 

(13.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3010 Die Heizung funktioniert

 

9:10 a.m.  Kalt ist es im Zimmer. Ich bin hinuntergegangen: die Heizung funktioniert eh. Dabei habe ich gleich die Katzenfutterstelle inklusive Schüsserl gereinigt. Nun bin ich wieder im Bett und decke mich zu. Mein Geist ist noch ganz träge. Seine Abwehr auch. Eine Angst will Ungeheuer gebären. Sie kommt aber auch nicht richtig in Fahrt. Für ein wenig inneres Zittern reicht es. Meine Augen entdecken nichts Ungewöhnliches. Trotzdem macht sich Nervosität bemerkbar. Ab und zu hole ich seufzend tief Luft. Der Geschmack von Blut im Mund. Ich überprüfe nicht, ob echt oder Täuschung. Aber meine Aufmerksamkeit registriert jetzt meine leicht schmerzhaften, sehr komplex zusammengebauten Schluckbewegungen: wie umständlich und kompliziert mit dem ganzen Spuckemanagement, Kehlkopf rauf und Kehlkopf runter etc. Erst jetzt fällt mir mein hintergrundrauschiges Surren auf, das sicherlich die gesamte Zeit da war. Allmählich wird mir warm. Die Nervösität kommt in Wellen. Die Angst auch. Ich schaffe es jetzt nicht, zu untersuchen, ob und wie sie zusammenhängen. An der Nasenwurzel entstehen Druck und Zug. Ich ziehe Rotz hoch und lasse ihn nach innen abfließen. Unter der Decke ist mir warm, außerhalb nicht. Ich lege deswegen Pilotstift und Notizbuch weg und gebe die Arme unter die Decke.

 

(12.12.2022)

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Sonntag, 11. Dezember 2022

3009 Ach, Mali Lošinj!

 

11:14 a.m.  Die Stille ist so intensiv und umfassend, dass mein ständiges Hintergrundrauschen – noch von meinem Urknall? - deutlich zu hören ist. Ein ganz feierlicher Morgen. Das Licht wechselt mit den unsichtbar wandernden Wolken. Manchmal ist es hier in der abgeschiedenen Kemenate dunkel und grau, und dann hellt es auf und alles wird bunt, bevor es sich wieder verfinstert. Eine schöne, menschenleere Liturgie direkt vor meinen Augen. Ach, Mali Lošinj! Du schönes Bild an der Wand. Du leuchtest heute so auf; strahlst wie ein zimmerinterner Sternennebel mit deinem weißen gleißenden Licht. Deine Erinnerungen tun mir fast weh.

 

(11.12.2022)

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Samstag, 10. Dezember 2022

3008 Das fallende Blatt

 

9:50 a.m.  Unser trinitarischer Wohnzimmerbaum läßt in der Stille seufzend ein Blatt fallen. Ich habe seinen Seufzer gehört und das Blatt fallen gesehen. Jetzt rührt sich nichts mehr; wie vorher. Das gefallene Blatt geht mir nicht aus dem Kopf. Nachdem ich es hinter den großen Blumentöpfen nicht liege sehe, ist sein Fallen bereits komplett unwirklich. Wenn mir jemand einreden wollte, ich hätte mir das fallende Blatt bloß eingebildet, wer weiß, wie lange ich auf meine Beobachtung bestehen könnte, denn nichts bestätigt sie mir eindeutig. Und dass ich den Seufzer zu hören glaubte, könnte auch meine Einbildnerei eher bestätigen, denn es widerspricht der Vernunft. (Wiewohl es auch vernünftige Erklärungen dafür geben könnte: ich habe das Geräusch, das das fallende Blatt beim Anstreifen an anderen Blättern und Zweigen als Seufzen interpretiert.) Trotzdem: wie fragil ich und meine Wirklichkeit sind!

 

8.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3007 Aber dann

 

12:12.  Ein stilles, warmes Aufwachen. Alles ist gut. Ich verbleibe in dieser Aufdämmerung und ihrem Sound. Das Licht beim Fenster ist recht klar und stark. Nicht so klar und stark wie im Sommer, sondern so klar und stark wie im Winter. Die Akustik ist besonders dicht: mehrstimmige, aus verschiedenen Tonlagen, Tonhöhen und Melodeien zusammengefaltete Minimal-Music, durch die noch so ein pulsierender Hauch geht. Jetzt verdunkelt es sich im Optischen ein wenig; wenn es nicht meine Augen sind, dann vermutlich eine Wolke. Aber auch meine Augen arbeiten am Bild: verschmelzen und verflachen die Gegenstände, oder holen sie scharf heraus. Es kommt ein ganz schwach unheimlicher Hauch auf - nichts, was das Wohlbefinden gefährden kann. Mein zurückgenommener, unzentriert herumschweifender Blick bleibt beim Bild der frankophonen Schweizerin hängen und bringt sie fast zum Leben. Aber dann rutscht er wieder ab und taumelt im Unbestimmten.

 

(7.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 6. Dezember 2022

3006 Nikolaustag

 

10:23 a.m.  Die Volkszählung unter Augustus hat ja wirklich stattgefunden – soviel ich weiß. Warum mich das jetzt beschäftigt? Aus Angst vor Weihnachten? Vielleicht. Könnte sein. (so, jetzt passen die Pölster im Rücken besser!) Ja, diesmal habe ich richtig Angst vor Weihnachten. Wovor? Dass zu viel aufgewirbelt wird? Dass ich heulen werde? Ja, jedenfalls fürchte ich mich vor meinen Gefühlen, die hochkommen werden. So; das ist das eine.

Das andere ist mein Bücherregal, meine Klage- und Freudenmauer, mein Stolz und meine Angeberkulisse. (Tu weiter mit der Schreiberei! Schau nicht so lange auf die Platanenzeichnung! Dein Magen knurrt schon.) Oh, ich könnte mich jetzt an die Bilder am Kasten am Fußende des Bettes verlieren: dieses Arrangement aus Kunstkarten, Photokopien eigener Bilder, Zeichnungen von mir, meinen Töchtern und meiner Frau. Nicht zu vergessen Päivis hölzerner Bü, der auch noch zwischen Kastl und Bett eingeklemmt und so an Ort und Stelle fixiert ist. Mein Herz beruhigt sich. Mein Herz regt sich wieder auf. Mein Herz beruhigt sich allmählich wieder.

Geendet hat dieser Morgen mit einem echten Weihnachtswunder, das ich mir taggeträumt habe: ich habe mir Respekt verschafft, dann bin ich so reich geworden, dass ich meine Texte in Buchform veröffentlichen konnte, aber ohne mich mit unbotmäßigen Lektoren herumschlagen zu müssen, denn den Verlag habe ich aufgekauft. Ich bin wirklich sehr reich, kann mir Raum und Ungestörtheit erkaufen, lebe in einem großen Haus mit großen Atelierräumen und großem Garten nahe der Bellevue (andere Orte können später noch dazukommen, aber im Moment brauch ich sie nicht). Und ich kann mein Projekt Galerie und Kunstsammlung verwirklichen, denn ich bin sehr, sehr reich: mitten in Wien, es muß kein Palais, kann gerne ein alter Industriebau sein, aber verkehrstechnisch und vor allem öffentlich gut erreichbar. Ich finde eine kongeniale Galeristin; ich rede ihr nicht drein bei dem, was über meine Vorgaben hinausgeht. Ich habe schon jetzt eine lange Liste von Künstlern und Künstlerinnen, die ich ausstellen und für die Sammlung ankaufen werde – weil ich sehr sehr reich bin, sind wir sehr großzügig. Die Sammlung wird dann bald der Öffentlichkeit zugänglich gemacht mit allem Pipapo. Darüber hinaus kann meine Galeristin ausstellen und sammeln, wen sie will. Wir sind sowieso kongenial und ticken ähnlich. Der Kunstmarkt ist uns nicht maßgebend – wie sammeln, was wir lieben und was uns gefällt und lassen uns von Profis nicht dreinreden – wir sind selbst leidenschaftlich und Profis. Und wenn irgendwelche Journalisten geschmiert werden wollen, damit sie überhaupt und wohlwollend berichten (alle Kunstjournalisten sind nicht so, wie ich aus eigener Erfahrung weiß!), so verweigern wir das und haben das Gespräch aufgenommen und veröffentlichen es, denn ich betreibe auch eine Zeitschrift und habe eine ganze Schar aufrechter, unkorrumpierbarer Rechtsanwälte in petto. Ja, so machen wir das!

Von diesem Tagtraum wirklich und in echt gestärkt und in fröhliche Stimmung versetzt stehe ich jetzt auf und werde mir mein Frühstück machen. Und mir ist klar: unter dem werde ich es nicht geben! Ich werde sehr reich sein müssen, um mir genügend Platz zu verschaffen und aufblühen zu können. Unter dem gebe ich es nicht.

 

(6.12.2022)

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3005 Irgendsoeine Hebebühne

 

Wenn ich in einen Park oder eine kleine Anlage gehe wie jetzt in den Hof 9 des alten AKH, und dann irgendsoein Gerät breit und hoch stationiert sehe, sei es für Gartenarbeit oder Fensterputzen oder für Reparaturen, dann ist es das für mich. Tilt! Nein, ich will keine Romantiker sein. Die Penetranz und unhinterfragbare Selbstverständlichkeit des Gerätegetues und der blinden technischen Rationalität stört mich trotzdem maßlos. Irgendsoeine Hebebühne im Nebel. Nein, der Nebel sollte das dahinter zum Durchschimmern bringen und vom Vordergründigen dabei nicht gestört werden. Dafür ist ja der Nebel da. Ich gebe zu: die konzentrierten und ruhigen, händischen Abschleifarbeiten des Arbeiters oben am Fenster – die stören das Nebelgeschehen nicht; im Gegenteil: sie sind ja nicht maschinell und die Geräusche fügen sich ins Leben und die Jahreszeit ein.

 

(5.12.2022)

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Samstag, 3. Dezember 2022

3004 Weiß

 

Zu viel weiß da am Tisch: die Tassen, die Untertassen, die hochgestellte Küchenrolle, die Adventkranzkerzen und das Zierzeugs dahinter am Wohnzimmerbaum: zu viel weiß vor der nackten weißen Wand. Auch die Couch im Hintergrund, von der noch eine Ecke in den Bildausschnitt hereinreicht: weiß. Die immerwährende Neutralität. Gibt sich rein. Also was jetzt? Ist die weiße Lilie ein Symbol der Keuschheit oder der Ejakulation? Im Moment ist mir die feige Farbe unangenehm, aus welchen Gründen auch immer: ich durchschaue meinen Widerwillen nicht. So strahlend es sein kann: weiß hat auch schnell einen schmutzigen Touch. Komisch! Ich spüre mein weißliches Unbehagen in der Leibesmitte.

Die Arme unter die Bettdecke – mir ist kalt.

 

(3.12.2022)

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Freitag, 2. Dezember 2022

3003 Hallo

 

Ich muß eine Hemmung überwinden, da ich jetzt in ein Café frühstücken gehe, weil ich gesehen habe, ich habe mehr Geld am Konto als erwartet (Ich rede nicht von Millionen, sondern davon, am Monatsende nicht im Minus gewesen zu sein). Ich bin in einem freundlichen, bunten Café. Für meine Schreiberei erwarte ich mir von so einem örtlichen, perspektivischen und psychophysischen Wechsel viel, könnt aber sein, dass mich das schon wieder blockiert. Die Idee war, dass ein anderes Ambiente als meine Kemenate und eine andere Schreibhaltung als im Bett hockend neue Anregungen, neuen Input bringen könnte. Aber ich muß die innere Stimme überwinden, die behauptet, dass mir ein Frühstück im Café nicht zusteht – das entspricht nicht meiner Rolle als gescheiterte Existenz und noch dazu verwende ich das Geld so nur für mich und nicht für die Familie, die mich durchfüttert und die meinen unerwarteten Überschuß eher verdient hätte.

Das Lokal ist voll; spärlich besucht wäre es mir lieber (ich nehme den Daseinsberechtigten noch den Platz weg). Aber ich gönne ihnen ihren Erfolg. Das Anrufen der KellnerInnen ist für mich immer etwas schwierig: wie rede ich sie an, um auf mich als jemand, der bestellen will, aufmerksam zu machen? Ich rede nicht von der Erstbestellung, sondern von einer Nachbestellung. Zuerst versuche ich den Kellner mit „Sir!“ auf mich aufmerksam zu machen, doch darauf reagiert er nicht. Dann rufe ich „Hallo!“, was sofort zum Erfolg führt. Das ist mit so rausgerutscht, weil mir im Stress, etwas ordern zu wollen und nach „Sir!“ nichts Besseres eingefallen ist, aber die Chefin des Lokals mokiert sich darüber, wie mir vorkommt, und redet über meine Unhöflichkeit mit dem Kellner. Ich höre das aber und frage die Chefin, wie ich sonst hätte rufen sollen. Sie antwortet: „einen Cappuccino, bitte!“ Ich darauf: „ich meine vorher, um die Aufmerksamkeit auf mich als jemand, der etwas bestellen will, zu lenken.“ Es ist nämlich so: ohne Blickkontakt kann ich niemanden ansprechen: zuerst Blickkontakt, dann sprechen. Und: es kann schon sein, dass mein Anruf etwas zu Forsches hatte, denn ich muß mir innerlich immer vorher einen Tritt geben, dass ich mich traue so anmaßend zu sein, von jemandem eine Dienstleistung zu verlangen. Ich muß also vorher alle meine Kräfte sammeln, bevor ich jemanden ansprechen kann und bin dabei in großem Stress (das werden wohl nur ganz wenige meiner Leserinnen und Leser verstehen und noch weniger nachvollziehen können).

Das muß ich jetzt aushalten. Poah! Wie das in mir arbeitet und wie ich mich schäme! Die Stimmung ist längst gekippt. Ein wenig will ich noch standhalten und meinen zweiten Cappuccino halbwegs in Ruhe austrinken.

Woher kommt eigentlich das Wort „hallo“? Ich werde nachschauen.

 

(2.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3002 Schrille Stille

 

1:42 a.m. Kalt ist mir – von innen her. Warm wird mir erst nach 10, 11, 12 Stunden im Bett sein. Meine übliche Abendkonstellation: Dunkelheit, schrille Stille, schlechtes Licht, eine kleine Traurigkeit, ein leises Lächeln, ein paar vorbeidriftende Erinnerungen (nicht unbedingt die schönen, eher die, die weh tun) … und dann eine nicht unfreundliche Leere, die alles andere als erhaben, rein und schon gar nicht ganz leer ist; und dennoch: mein Bewußtsein haftet nicht so fanatisch an und läßt alles, was eintritt, auch wieder weiterwandern. Ich glaube das war’s für heute.

(Nachtrag: das muß etwas mit der Aufmerksamkeit und Konzentration aufs Schreiben zu tun haben, denn kaum habe ich mich zum Schlafen hingelegt, ist mein Geist von irgendwelchen Phantasien, Erinnerungen etc gefangen und ich kann lange nicht einschlafen.)

 

(2.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 1. Dezember 2022

3001 Krankenstand

 

10:10 a.m.  Maschinenlärm (Presslufthammer?) setzt diesem Morgen zu, der aber hier im Zimmer recht klar ist. Meine Brust fühlt sich wie ausgekühlt an, als atmete ich nur arktische Luft. Gilt eigentlich noch mein Krankenstand? Sagen wir: zu fünfzig Prozent. Zunehmend und in immer kürzeren Abständen fallen mir die Augen zu.

 

(1.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

3000 Bis zum Erdmittelpunkt

 

2:11 a.m.  Die kalte Stille im Zimmer, und das nur wenig wärmere Licht. Meine Hände sind kalt. Unter der Decke ist es noch nicht sehr warm. Ich rufe ein paar Sehnsüchte herbei und lasse sie mit einem Seufzer wieder versinken. Ich betrachte ein paar Kunstkarten an der Wand und fast bekäme ich wieder Lust zu zeichnen, aber nicht jetzt. Das Licht ist zu trüb. Ich lasse auch diese Sehnsucht wieder absterben (Amen). Auch mein Husten wirbelt Staub auf, wie ich im Lichtkegel sehen kann. Leintuch, Matratze und alles was darunter ist bis zum Erdmittelpunkt arbeitet schon an meinen anliegenden Fußsohlen. Mein Blick verendet beinah auf dem Weg von hier zum Bücherregal; jedenfalls kommt mein Blick nicht vollständig an. Oder das Bücherregal will sich nicht zur Gänze materialisieren. Blaue Höfe um die Fingerkuppen der linken Hand auf dem weißen Papier! Eine Vibration nach Niesen läuft meinen Körper hinunter und geht in Leintuch und Matratze und weiter bis zum Erdmittelpunkt. Die Reglosigkeit hier ist vollkommen. Auch ich halte an mich. Ich kauere still im Bett, nur mein Brustkorb hebt und senkt sich ein wenig. Es ist mir wohl.

 

(1.12.2022)

©Peter Alois Rumpf  Dezember 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2999 Tiroler Morgens

 

10:01 a.m.  Die Sohlen meiner hockend angezogenen Füße tendieren zum Wegrutschen. Ein paar Blutstropfen aus der Nase: da kann man sagen, was man will: dieses frische Rot ist eine wunderschöne Farbe! Mit echt optimistischer Ausstrahlung.

Schöne Tiroler Morgens! Aber nicht hier, sondern in Tirol und im Traum. Auf der Suche nach Worten eingenickt. Ein Pianist am Klavier schaut mich fragend, fast unsicher an. Ich lege eine Eisenpfanne ins Wasser, aber die will nicht untergehen. Mein Kehlkopf juckt und hebt und senkt sich beim Schlucken.

 

(30.11.2022)

©Peter Alois Rumpf  November 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

2998 Hilfskonvoi

 

2:06 a.m.  Ein anrückender Hustenanfall drückt mir meinen Brustkorb ein. Meine Finger sind klamm. Erst einige Sekunden nach seinem Ende beginnt der letzte Hustenanfall zu verklingen. Die eingeschmierte Brust brennt etwas. Kein Mensch ist illegal. Auch ich nicht. Niemand sagt so etwas zu mir, warum empfinde ich mich dann als illegal? Ich will dem nicht nachgehen. Die quergelegten Bücherstapel auf den stehenden Büchern dort im Regal bäumen sich auf, aber ohne sich zu krümmen: eines der Enden hebt sich einfach in die Höhe, das andere bleibt liegen und die Bücher steif. Ich klappere leicht mit den Zähnen, nicht vor Kälte, nur so. Damit habe ich jetzt doch Vibrationen angezogen. Ich strecke die Finger aus, auf dass sich meine linke Hand nicht verkrampft. Bruchstückhafte Musikerinnerungen unterlegen das Gesurre. „Das Land sei wie ein Hilfskonvoi“ flüstert mir eine Stimme zu. Ich huste wieder – schleimlösend. Ach, die nackten Kunstfrauen an der Wand – ich seufze tief auf, aber ich schaue nicht länger hin. Ich leg mich nieder zum Lauschen.

 

(30.11.2022)

©Peter Alois Rumpf  November 2022   peteraloisrumpf@gmail.com