Donnerstag, 23. Juli 2015

155 Drei Geschichten aus meiner Schulzeit


Es gibt Momente, in denen sich ein ganzes Leben zeigt. Das können alltägliche, müssen gar keine besonderen Momente sein, aber irgendetwas leuchtet plötzlich auf, oder ein grundlegendes Lebensmuster erhält ein deutliches, klares Bild. Das können Lebensmuster sein, die man sich besser abgewöhnen sollte, und dieses Bild oder Gleichnis verstärkt es noch, macht es fester, unveränderlicher als es ist. Oder auch umgekehrt. Oder ein übernommenes und nie in Frage gestelltes Verhaltensmuster wird plötzlich fragwürdig oder lächerlich und funktioniert nicht mehr so wie bisher. In solchen Momenten kann sich eine Lebenstragödie verfestigen oder auch auflösen – jedenfalls sind solche Momente deren Kistallisationspunkte. Ich will drei solcher Momente aus meiner Schulzeit erzählen.

Wer meine Geschichten hier gelesen hat, wird wissen, daß ich in meiner Kindheit und Jugend – um es ganz vorsichtig auszudrücken – in Gefahr war, mich als Opfer zu definieren. In der dritten Klasse Gymnasium habe ich dafür ein Gleichnis bekommen. Wir haben im Deutschunterricht den Schimmelreiter von Theodor Storm gelesen. Alles habe ich vergessen, nur den Satz „Was Lebigs muß rein!“ nicht. Dabei geht es um den Dammbau gegen das Meer und die Vorstellung, daß an besonders heiklen Stellen ein Damm nur dann halten kann, wenn etwas „Lebigs“, also Lebendiges, geopfert wird.
Ich zitiere: „Als ich ein Kind war, (…) hörte ich einmal die Knechte darüber reden. Sie meinten, wenn ein Damm dort halten solle, müsse was Lebigs da hineingeworfen und mit verdämmt werden; bei einem Deichbau auf der anderen Seite, vor wohl hundert Jahren, sei ein Zigeunerkind verdämmt worden, das sie um schweres Geld der Mutter abgehandelt hatten.“
Und an einer anderen Stelle geht es darum, daß die Arbeiter beim Dammbau einen Hund in den Damm reinwerfen wollten und ihr Aufseher, der Schimmelreiter, es verhindert hat.

Wir haben im Unterricht auch kurz darüber gesprochen, was, weiß ich nicht mehr, aber ganz genau weiß ich, was ich in dem Moment dachte: „Wenn das heute noch so gemacht werden würde, dann wäre ich reingeworfen worden. Ich würde nicht mehr leben.“ Und das Gefühl der Erleichterung, daß es heute nicht mehr so ist, wurde gleich und immer stärker verdrängt von einem Gefühl der Scham – ja, wie kann ich das ausdrücken? - daß ich sozusagen auf unehrenhafte Art überlebt habe. Daß die zivilisiertere Gesellschaft eine dekatente Form sei und die archaische die stärkere, echtere, der menschlichen Natur entsprechendere sei und ich mit meiner schwachen Existenz gegen diese Natur verstoße.

Dieses Gefühl sitzt tief in mir verankert und immer, wenn ich mich nicht lebensberechtigt fühle, fällt mir die Geschichte vom Schimmelreiter ein. Damit es kein Mißverständnis gibt – ich bin froh, daß ich diese Geschichte kennengelernt habe und es ist wichtig, das dieses mein Lebensgefühl ein Bild gefunden hat, denn dadurch kann ich es von außen betrachten und leichter einordnen. Jetzt kann ich mir sagen, was ich bei Döbereiner gelernt habe, daß nämlich immer dann, wenn Leben geopfert wird, nicht der Himmel, sondern das Böse, also das Falsche, Verdrängte angebetet wird. So ungefähr drückt es Döbereiner aus. Dadurch kann ich mir klar machen, daß dieses mein internalisiertes Urteil über mich nicht gilt und eben nicht den dem Dasein zugrundeliegenden Lebensgesetzen entspricht. Das sich klarzumachen ist in der Situation der Verzweiflung durchaus harte Arbeit und die Versuchung, dieses Bild einfach gelten zu lassen und nicht zu bearbeiten, ist manchmal groß. Aber es gelingt.

Die zweite Geschichte spielt im Zeichenunterricht. Wir hatten in der Unterstufe einen sehr strengen Zeichenprofessor. Wenn man etwas von den Malutensilien vergessen hatte, gab es als Strafe seitenlanges Schreiben von Sätzen wie „Ich darf meinen Malbecher nicht zu Hause vergessen!“ und ähnliches. Er war im Grunde ein humorvoller Mensch, ein scharfer, unbestechlicher Beobachter und meisterhafter Porträtist und konnte meisterhaft Menschen nachäffen – ihre Gestik, Stimme, Sprache, Ausdrucksweise, und gerüchteweise hörten wir davon, wie er beim Lehrerfasching die ganze Runde mit seinen Persiflagen seiner Kollegen unterhielt und zum Lachen brachte.

In seiner Rolle als Lehrer – und ich vermute, auch in seiner Rolle als Vater und zu sich selbst als Künstler – war er streng. „Schlimme“ Schüler konnten sich durchaus Ohrfeigen einfangen – diese verräterische Ausdruckweise, als würde der Schüler freiwillig die Ohrfeigen suchen! - oder „Knackwatschen“, garniert mit dem Satz „Ein Schlag in das Genick erhöht das Denkvermögen!“.
Seine Unbestechlichkeit zeigte sich auch darin, daß der Sohn des Schuldirektors von ihm genauso Ohrfeigen abbekam und er mir – obwohl er mir wohlgesonnen war – aufgrund meiner ausdrucksschwachen, verklemmten Zeichnungen immer höchstens eine Drei ins Zeugnis gab. Trotzdem ich von ihm nie geschlagen oder bloßgestellt oder verspottet wurde, fürchtete ich ihn sehr.

Wenn man etwas vergessen hatte, mußte man gleich zu Beginn der Unterrichtsstunde aufzeigen, und nachdem einen der Professor aufgerufen hatte, etwas in der Art sagen: „Herr Professor, ich bitte um Entschuldigung, ich habe meinen Malbecher vergessen.“ Darauf er: „Als Strafe schreibst du hundertmal....“. Es nicht zu melden zog eine strengere Strafe nach sich, denn Durchschwindeln war erst recht verpönt.

Einmal ist mir auf dem Weg in die Schule mein Plastikmalbecher zerbrochen, vermutlich beim Transport im überfüllten Autobus, aber an diesem Tag fiel überraschenderweise der Zeichenunterricht aus. Eine Woche später, als wir wieder Zeichnen hatten, hatte ich zwar das Sackerl mit den Malsachen mitgenommen, aber vergessen, einen neuen Malbecher einzustecken. Da habe ich dann geschwindelt. Ich habe aufgezeigt und nach Aufruf gesagt: „Entschuldigung, Herr Professor, mir ist im Autobus der Malbecher zerbrochen.“ Die Entschuldigung wurde angenommen. Ah, dachte ich, das war jetzt eine gute Idee!
Dasselbe dachte sich auch ein Mitschüler und sagte dem Professor – im Ablauf desselben Rituals – daß auch ihm der Malbecher zerbrochen sei. Jetzt wollte der Professor die zerbrochenen Teile sehen. Und der Schüler wurde streng bestraft, weil er nicht nur den Malbecher vergessen, sondern auch noch gelogen hatte.
Ich selber bin mit hochrotem Kopf und gesenktem Blick in der Bank gesessen und bin mir richtig schäbig vorgekommen, weil auch ich keine Scherben vorweisen hätte können, denn was ich als Entschuldigung angeführt hatte, war ja vor einer Woche passiert; an diesem Tag habe ich den Malbecher ganz klassisch einfach vergessen. Und ich schämte mich auch vor dem Mitschüler, daß der Professor mir meine Lüge geglaubt hatte, ihm die seine aber nicht.

Irgendwann bekamen wir dann einen jungen Zeichenprofessor, und wie ich wieder einmal den Malbecher vergessen hatte, zeigte ich dem eingeübten Ritual gemäß auf und sagte brav mein Sprücherl: „Bitte um Entschuldigung, Herr Professor, ich habe meinen Malbecher vergessen.“ Worauf er antwortet: „Na und? Was habe ich damit zu tun? Tauchst halt den Pinsel beim Nachbarn ein!“ Durchaus mit dem Unterton, wie ich denn dazukomme, ihn damit zu belästigen.
Aber da hat sich in mir etwas gedreht; ich war überrascht und perplex, daß man diese Sache, die mich jahrelang in Angst und Schrecken versetzt hatte, so leicht und unproblematisch handhaben kann.

Wichtig aber auch: auch hier fühlte ich mich schuldig, nicht weil ich den Malbecher vergessen, sondern weil ich in meiner naiven Zurückgebliebenheit und schon längst überholten Autoritätsgläubigkeit den Professor mit so etwas belästige, oder anders ausgedrückt, weil ich mich nicht den neuen Anforderungen der neuen Zeit entsprechend als ein freier, aufgeweckter, selbstsicherer, kecker, souveräner, eigenverantwortlicher, selbständiger „Bürger“ erwiesen habe, der alles selber managen kann und nicht die Obrigkeit mit seinen Psychosozialproblemen und seinen mangelnden Kompetenzen belästigt. Sie wissen schon: wer nicht zurecht kommt, ist selber schuld.

Die dritte Geschichte hat auch mit einem Zeichenprofessor zu tun. Der war auch von der alten Schule, aber ein Gegenpol zu ersterem. Milde, gütig, charmant, nachsichtig, ein bißerl zu Kitsch neigend. Er besserte gern unsere Zeichnungen aus und konnte einem beim nächsten Vorlegen der Arbeiten dafür loben. Ich glaube, er hatte wirklich vergessen, daß er es selber gemacht hatte. Bei ihm hatte ich meistens einen Einser und ich mußte mich überhaupt nicht vor dem Zeichenunterricht fürchten. Und trotzdem mochte ich ihn nicht.

Einmal hatte ihm nämlich ein Mitschüler irgendeine Tube zurückgegeben und sie nicht „korrekt“ gedrückt. Also statt am hinteren Ende der Tube mit dem Rausdrücken des Klebstoffs oder der Farbe zu beginnen, hatte er einfach irgendwo in der Mitte der Tube reingedrückt, was an den zurückgebliebenen Dellen deutlich zu sehen war. Der Professor stellte den Schüler deswegen zur Rede und in seiner Belehrung über das korrekte Tubendrücken und der Zurechtweisung fragte der Professor den Schüler. „Macht ihr das bei euch zu Hause auch so?“ Der Schüler antwortete „Ja!“, worauf der Professor eine verächtlich machende Tirade losließ, so in dem Sinn, aus welchem Haus er denn komme, wo man nicht wisse, wie man Tuben richtig drückt, was für eine Familie das sein soll, offensichtlich kein Niveau und ungebildet.

Mir wäre das nicht passiert, daß ich „Ja“ gesagt hätte; ich hätte die Falle gerochen und „Nein“ gesagt – obwohl auch wir daheim die Tuben unkorrekt gedrückt haben – und damit die ganze „Schuld“, nicht nur meine eigene, sondern auch die der Familie, auf mich genommen.

Ab diesen Zeitpunkt habe ich diesen Professor verabscheut, dafür, daß er so hochmütig und arrogant auf Kosten seines Schülers seinen Standesdünkel ausgelebt hatte. Mir hatte der Professor nichts getan, aber ich hatte eine regelrechte Aversion gegen ihn. Diese Geschichte hat natürlich auch viel mit gesellschaftlichen Platzzuweisungen zu tun, wer oben und wer unten landet, oder meinetwegen in der Mitte, denn solche Erfahrungen können sich ja in einem noch wachsenden Wesen als starre Bilder und Zuschreibungen verfestigen.








©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 22. Juli 2015

154 Ein neuer Wallfahrtsort


Ich bin als Werbeträger meines eigenen defensiv – eskalierenden Humors unterwegs; auf meinem T-Shirt steht: „Da steht nichts drauf“. In der Hitze laufen meine Brillen innen an von der ausgeschwitzten Feuchtigkeit. Ich sitze wieder einmal unter dem Luftballonherz, das langsam und lautlos schwingt.
Ich werde diesen Platz zu einem Wallfahrtsort machen, für alle festhängenden Herzen, und auch für die, die traurig sind. Wien, U-Bahnstation Volkstheater, bei den Lehmden-Mosaiken, wenn man auf die U3 Richtung Ottakring schaut, links oben. Von links gezählt oberhalb der linken oberen Ecke des zweiten Mosaiks.

Gerade zieht ein kühler Luftzug durch. Schon vorbei. Das Hallen der Schritte, sommerliches Geklapper und Geschlurfe. Leicht pendelt das Herz oben, obwohl jetzt kein Luftzug zu spüren ist.

Mir fallen ein: der Geschenkkarton mit nichts, das Klatschen nur einer Hand im Kontext der Kindererziehung und daß es gscheit ist, Gott eine Chance zu geben.

Nun sitze ich auf dem Dach der Hauptbücherei, für heute werden 37° Celsius angesagt. So ist am 22. 7. 2015  zu Mittag das hier ein ruhiger Ort zum Schreiben.
Glücklich bin ich, das Leben fließt, auch das meiner Kinder. Der Bogen hat sich kraftvoll und still zu seinem Ende gespannt. Weil ich da esse, fühle ich mich überhaupt im Luxus. Ich bin nicht der Einzige, der schreibt.

Die Kellnerin wirkt rauh und kultiviert gleichzeitig. Oder richtiger, genauer und besser formuliert: auf mich wirkte sie zuerst rauh, jetzt kultiviert, fein und sanft. Wer hat sich verändert? Sie? Ich? Beide? Niemand? Oder die Luft zwischen uns? Der Raum? Die Zeit? Die Algebra? Das Universum? (Es gab tatsächlich einen kurzen Zeitpunkt, wo die Kellnerin für mich beides gleichzeitig war – als zwischen meiner abnehmenden Wahrnehmung oder Projektion der Rauhheit und meiner zunehmenden Wahrnehmung oder Projektion der Sanftheit Gleichstand herrschte.)
Jetzt sehe ich das, was ich für Rauhheit gehalten habe, als Zähigkeit; in dieser Gestalt ist sie wieder da.

Wie ich zu Hause die Stiege runtergegangen bin, habe ich Aberschritte gehört, als würde wer links neben und hinter mir mitgehen; ist es möglich, daß es da ein Echo gibt? Nehmen wir als Ausrede Hitze und Kreislauf!  (Dabei zwinkere ich mit den Augen).




©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 20. Juli 2015

153 Im Obstgarten


Ein schöner, großer Nußbaum vor mir. Bis in die Höhe von eineinhalb Metern wächst er zweistämmig, dann vereinigen sich die zwei zu einem Stamm. Wo sie zusammenkommen hat sich eine ovale Höhle gebildet. Auf der Rückseite sind sie schon ein paar Zentimeter über dem Boden zusammengewachsen. In seinem Schatten sitze ich, mit Blick auf den wunderbaren Obstgarten, der sich lieblich und sanft abfallend hingestreckt hat, nicht weit vom See.

Ich schwelge in geshatterten Erinnerungen und zersplitternden Phantasien, ich grüble leichtsinnig herum, nichts Schweres, nur was der leichte Wind der Unkonzentriertheit mühelos aufheben kann und gleich wieder fallen läßt.

In diese Konzentrationslosigkeit schreit mehrmals eine Krähe; lange hat es gebraucht, bis ich ihren Ruf in mein Bewußtsein gelassen habe. Jetzt höre ich auch die Antworten anderer Krähen, eine nicht weit hinter mir.

Insekten summen, sich in der Sonnenwärme ausdehnende Holzbalken knacken, Vögel zwitschern. Irgendein Gerät wird angeworfen.




©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

152 Am See


Eine kleine Libelle hatte sich auf meinen Unterschenkel gesetzt. Die typischen Geräusche einer Badeanstalt, schreiende Kinder, durchaus vergnügt, vorbeifahrende Autos, redende Erwachsene, das Säuseln des Windes in den Birken; die dominanten Geräusche bleiben Autos und Kinder. Der Wind legt zu. Wir lagern am Tangelsee, unweit der Stelle meines ganz persönlichen Größenwahns, nur ein paar Meter, allerhöchstens zehn.

Ich sitze mit nasser Badehose im Gras, ohne Decke, ohne Luftmatraze, ohne Liege. Der Wind wird noch stärker. Eigenartige Wolken ziehen über den Himmel, weiß, aber ich kann sie nicht zuordnen.

Kinder rennen, Frauen gestikulieren oder gehen in Barfußlangsamkeit, ein kleines Mädchen ist von der Schaukel gefallen und weint und windet sich und will wieder auf die Schaukel zurück. Eine andere Mutter liest ihrer Tochter vor. Männer stehen herum und einer breitet ein Handtuch aus. Das Geräusch von Schlapfen respektive Flip-Flops.

Wieder säuselt der Wind in den Bäumen, auch in der Linde dort drüben und in der Weide hinter mir. Einer gähnt genüsslich und laut. Eine Frau schmiert ihrem Mann den Rücken ein. Eine ältere Frau steigt ganz vorsichtig ins Wasser, Burschen springen mit Anlauf vom Sprungturm. Offensichtlich mit dem Ehrgeiz, möglichst viel Wasser aufzuspritzen und möglichst laut. Das Mädchen-ins-Wasser-werfen gilt immer noch als passender Pubertierendensport.

Lauter als Autos die Motorräder. Hinter mir wird gelacht und gekichert. Das Platschen der TurmsprigerInnen. Eine Frau mit Sonnenbrille schreitet wie im abwesenden Traum vorbei, ihre Bewegungen scheinen zu fünfzig Prozent einer anderen Welt anzugehören.

Die Zelte am anderen Ufer ducken sich hinter das Schilf, wo sie können. Ein Schatten läuft die gegenüberliegende Leite hinunter in den See, dort taucht er unter, ich kann ihn nicht mehr sehen. Ein zweiter Schatten macht es ihm nach. Andere Schatten bleiben bei ihren Bäumen – sie scheinen kein Bedürfnis zu haben, sich im See abzukühlen.

Eine Tochter sorgt liebevoll aufdringlich für ihren alten Vater. Ich habe eine Bremse getötet. Der grimmige Berg lugt ein wenig hinter dem Kulm hervor. Ich liebe den grimmigen Berg. Und auch den Kulm, den alten Vulkan, schon Millionen Jahre im Ausgedinge. Wer weiß, ob das stimmt? War er überhaupt ein Vulkan?

Flugzeuggeräusche, sportliche Motorflieger, manche mit Segelflieger im Schlepptau. Der Wind hat sich gelegt, die Sonne wird heißer, nur mehr ein leichtes Lüftchen streicht über Wiese und See.

Noch ein Schatten stürzt sich drüben ins Wasser. Ich habe zu zählen vergessen. Jetzt ist einer aus dem Wasser gekommen und hat sich über mich gelegt. Er war aber nicht naß; schon ist er vorbei.
Eine große Libelle schaut mir beim Schreiben zu. Die Schlapfen sind wirklich sehr laut.

Wieder steigt ein Schatten fast unmerklich aus dem Wasser, eilt aber schnell weiter. Ich betrachte zwei Damen im Wasser, die mit ihren Oberkörpern auf einer Luftmatratze liegen und langsam mit ihren Beinen Tempi machen. Sie haben es offensichtlich nicht eilig, wie es sich für den Urlaub gehört oder den freien Samstag.

Leute kommen und gehen. Eine dicke Frau zieht ihr Kleid aus und trägt ihren Badeanzug darunter. Zumindest nehme ich das an, daß der Badeanzug ihrer ist. Ein Boot liegt träge im Wasser.

Wieder stürzt ein Schatten in den See – spielen sich da unbeachtete Tragödien ab? Oder sind das meine inneren, unbeachteten Tragödien, die sich draußen Gleichnisse suchen? Oder meine inneren, überbeachteten Tragödien. Oder Geschichten, die uns Menschen einfach so umschwirren, aus den Ablagerungen unserer Vorfahren, aus den feinstofflichen Müllbergen der Jahrtausende?

Neben den bekannten weißen Quellwolken trüben eigenartige weiße Wolken den Himmel, eine franst aus wie Zacken eines Kamms. Mit der Kammspitze hinten im Westen hat das nichts zu tun. Soviel ich weiß, aber soviel weiß ich nicht. Ein paar Schneeflecken leuchten vom grimmigen Berg herüber.

Am Hang am anderen Ufer des Sees sehe ich jetzt keine Schatten ins Wasser stürzen. Die Köpfe der Schwimmenden bewegen sich langsam. Eine Frau, die vorbeigeht, greift sich an den Busen; ein Mann auf einer Luftmatratze stützt seinen Kopf mit dem linken Arm ab und schaut aufs Wasser hinaus. Zwei junge Frauen reden vom Bauchgefühl. Ich denke, das ist nicht schlecht. Obwohl es mich nichts angeht.

Ein gelber Hahnenfuß und ein paar kurze Schilfpflanzen wiegen sich am Seeufer im Wind. Ich würde so gern die Welt erforschen; ich glaube, dazu ist es zu spät. Hier heißt glauben wirklich nichts wissen. Ich schaue mich um und will sehen und verstehen. Aber immer bleibe ich hintennach. Klar, den Gedanken können nur nach dem Jetzt kommen. Das Jetzt selber ist ohne Gedanken. Wieder setzt sich eine kleine Libelle auf mich, diesmal auf den Unterarm, nahe beim letzten Stern.

Wieder legt sich der Schatten einer Wolke auf mich, aber ich habe nicht darauf geachtet, ob er aus dem Wasser gekommen ist oder vom Hügel herunter, von dem hinter mir. In der Konsistenz des Schattens habe ich keinen Unterschied bemerkt.

Ich nehme einen Schluck Wasser, es ist noch erstaunlich kühl. Bei einem Schwimmreifen wird die Luft ausgelassen. Inside eines Schlauchbootes, das outside heißt, sitzen vorne eine Frau und hinten ein Mann. Die Frau lacht und der Mann hält sich stumm; sie paddeln ruhig über das Wasser. Ich bin nicht der einzige Mann, der herumschaut. Sucht auch der da drüben Erkenntnis?

Eine Frau mit zwei Mädchen balanciert auf einem Surfbrett, dann fallen alle drei ins Wasser und lachen. Jetzt klettern sie wieder hinauf. Und jetzt ist sie absichtlich und elegant ins Wasser geköpfelt.

In den Gesichtern der Menschen hier suche ich eine Erinnerung, ob ich sie oder ihre Eltern oder Großeltern aus meiner Kindheit kenne; ob ich irgendwelche vertrauten Gesichtszüge finde.

Der gegenüberliegende Hang, der am anderen Ufer des Sees liegt, diese schöne Leite, erstrahlt so herrlich im Sonnenlicht, in einem hellen, sonneninspirierten Grün, während die Bäume vor ihm, herunten am Ufer, noch dunkel im Schatten stehen. Ich kann von hier aus sehen, wie Wellen aus Wind durch diese Bäume gehen. Jetzt ist die Wolke, die sie im Schatten gehalten hat, weitergezogen und sie werden von links oben beleuchtet.

Der Wind legt sich immer wieder, um dann von neuem in heftigen Stößen aufzukommen, überraschenderweise manchmal von Ost und manchmal von West.
Wellen von Hitze und Wellen von Kühle treibt der unruhige Wind auf mich, über mich, fast möchte ich sagen – durch mich.

Plötzlich ist eine dunkle Wolke da, die Sonnenschirme flattern gleich ganz aufgeregt, bevor sie wieder ganz ruhig werden. Ein Moped heult im Oberton vorbei.




©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

151 „Meine Leut“*


*(„Meine Leut“ - so heißt bei Usula in dem Film Dersu Usula von Akira Kurosawa das Wort „ich“)

Der Himmel ist groß und grau. Plötzlich reißt es kurz auf und die Sonne beleuchtet den gegenüberliegenden Hang. Als hätten die verschiedenen Grünintensitäten nur auf diesen Moment gewartet brechen sie aus und erstrahlen. Dann kommt das Sonnenlicht bis zu mir und meine Ohren werden warm. Ich wußte gar nicht, daß sie kalt gewesen waren.

Das ist genial von dem großen Mischer oder der großen D-Jane, daß sie die Regler der verschiedenen Grüns genau zu dem Zeitpunkt hochgeschoben haben, zu dem sie auch das Sonnenlicht durchgeschaltet haben, und – genau richtig! - etwas verzögert die Wärme in meinen Ohren erhöht. Das gefällt dem menschlichen Geist, der jetzt denken kann, daß das alles miteinander zu tun habe, daß das eine die Ursache und das andere die Wirkung sei; der liebt nämlich solche Kunststücke. Beglückt freut er sich, daß seine Projektionen die projezierten Ergebnisse bringen. Armer menschlicher Geist, in welche Netze hast du dich verfangen?

„Jetzt schaukelt der Opa!“, rufen die Kinder. Aber nicht zwischen den verschiedenen Wirklichkeiten, soweit ich es mitbekomme.

Mein Himmel ist bedeckt, aber meine Wolken werden heller. Ebenso mein Grün meiner Wiesen und meiner Wälder. Es zieht meine kühle Luft durch meine offene Hüttentür. Mein Körper erhebt sich mitsamt meinem Rumpf und meine Beine tragen ihn zu meiner Tür, die meine Hände und meine Arme wieder schließen.

Meine Außenwelt paßt jetzt ganz gut zu meiner Innenwelt.





©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 19. Juli 2015

150 Notwendige Zwischenbemerkung über meine Schublade


Um es für meine Leser verständlich zu machen: Meine Schublade hier ist für mich wirklich wie eine Schublade im Schreibtisch – ich gebe alle meine Texte hinein, die ich irgendwie abgeschlossen habe, ob endgültig oder nur vorläufig. Also da gibt es Texte, wo ich mir ganz sicher bin und solche, wo ich es nicht bin, die ich vielleicht nochmals überarbeiten werde oder auch verwerfen.

Was die alten, eher „philosophischen“ Texte – philosophisch im umgangssprachlichen Sinn – betrifft, da habe ich nicht vor, sie zu überarbeiten, sondern meine heutige, oft ganz andere Sicht der Dinge in einer Ergänzung anzufügen und gegenüber zu stellen. Ich denke, das ist für die Leser spannender. Wenn ich einmal dafür Zeit finde.

Auf die Idee zu so einer Internet-Schublade bin ich gekommen, weil ich nicht wußte, was ich mit meinen Texten, die da in Heften und auf Zetteln verstreut herumlagen und über die ich selber keinen rechten Überblick hatte, anfangen soll. Auf eine normale Veröffentlichung via Verlag bestand keine Aussicht und ich rechnete damit, daß diese Zettel und Hefte nach meinem Tod keine Beachtung finden werden. Da dachte ich: ich stelle sie ins Internet, vielleicht kann irgendwer damit etwas anfangen. Das gibt mir auch die Freiheit, ganz unbekümmert zu schreiben, was und wie ich will.

Das ist es – nicht mehr und nicht weniger.

Peter Alois Rumpf  19.7.2015

149 Jetzt und jetzt


Draußen ziehen Nebelschwaden herum, langsam über die Bäume, Sträucher, Lichtungen, Felsen und Wiesen. Das meinige Kontinuum freut sich darüber, es findet es wunderschön.

Es empfindet dieses ruhige Dahinfließen beglückend. Es könnte es stundenlang anschauen, behauptet zumindest das sätzeformulierende Element.

Wieder hackt jemand Holz. Eine Kuh schreit fast wie ein Esel. „Fast“ heißt natürlich gar nicht, nur im „Anlaut“ klingt es wie die Ouvertüre zu einem Eselsgeschrei, aber dann ist gleich Schluß und die Ouvertüre beginnt wieder von vorne.

Jetzt heult eine Motorsäge beinahe idyllisch. Ich erinnere mich an jugendliche Mopeds im Wald. Die Lust, das Gas aufzudrehen. Dabei hatte ich immer Angst und bin extrem vorsichtig gefahren.
Ich selber verwende die Motorsäge nicht. Das war nur so eine Idee. Und das war auch eine ganz andere Alm.

Der Himmel ist jetzt grau, irgendwo dort oben wird jetzt Orion jagen. Ob er meine Signatur erkennt? Oder sieht er nur im Finstern, wie wir ihn nur im Finstern sehen, zur richtigen Nacht- und Jahreszeit? Gibt es ihn überhaupt? Auch das war nur so eine Idee?
Mein Leben ist voll von nur so Ideen. Manche sind lustig, manche tun auf bedeutungsschwer.

Mein Seidel mit Wasser ist leer. Zwei akurate Löwen brauen seit 1860 Bier – steht drauf, während der mitteleuropäische Sternenhimmel vor mir klarsichtverhüllt am Tisch liegt.

Obwohl es Nachmittag ist, wird es jetzt sehr dunkel. Ich zünde eine Kerze an und gehe Butter kaufen. Nein, ich verschiebe es, denn gerade beginnt der Regen auf das Hüttendach zu prasseln und wird schnell stärker. Und noch stärker. Es schüttet mit Vollgas, wenn man das sagen darf. Auch der Regen hat Lust, voll aufzudrehen. Ob er auch Angst kennt? Ich glaube es nicht. Regen hast du manchmal Angst? Als Antwort wird er gleich schwächer, aber Donner und Blitz scheuchen ihn vorwärts, er hat keine Zeit zum Zurückschauen und dreht wieder auf.

Ein Donnerschlag läßt die Hütte zittern; die Blitze zucken in immer kürzeren Abständen. Das Herstellen des Gleichgewichts der Intersitäten scheint dem Kontinuum draußen schwer zu fallen oder ist das auch nur eine Idee? Wie Anfang, Hauptteil, Schluß? Eine Fliege kümmert das nicht und läuft über mein Papier.

Kontinuum ist auch falsch, denn dann müßte es die Zeit wirklich geben. Obwohl es sie nicht wirklich gibt, habe ich jetzt viel Zeit.

Jetzt bin ich in einer anderen Zeitrille; ich gehe in der Hitze die neue Donau entlang, unter den monströsen Bauten der Autobahnen hindurch. Die Sonne brennt, die Luft ist heiß und ohne Linderung. Ich finde einen Platz zum Schwimmen. Hunde schnüffeln an unserem Zeugs herum, deshalb bleibe ich wachsam. Im Wasser berühren mich Wasserpflanzen und ein Fisch. Wir bleiben nicht lange und gehen den Weg wieder zurück zur U-Bahn.

Rillenwechsel. Jetzt bin ich wieder retour. Ich sitze allein in der Hütte. Der Regenschleier um die Hütte herum hat sich verzogen, aber es regnet noch. Mit geringer Intensität.
Ich bin jetzt kurz vor die Hütte unter das Vordach getreten. Die Luft duftet nach Reinheit und Fülle. Keine asketische Reinheit, sondern die, die nach der Fülle des Lebens riecht, wo alle Wesen das Wasser aufsaugen, wachsen, später dann in der Sonne blühen, sich voll füllen mit Kraft, mit dem nassen Segen. Ich denke an den Eisenstein-Film. Dieser warme Sommerregen, fruchtbar und nährend. Schöner Regen!

In der Hütte ist es wieder heller; der Regen nimmt wieder zu und gleich wieder ab. Die Gipfel der Berge sind von Wolken verhüllt, die schroffen ebenso wie die sanften. Jetzt könnte ich um die Butter gehen. Bis ich mit dem Anziehen fertig bin, hat es wieder – intensiv – zu schütten begonnen. Ich habe den Regenschleier von Westen anrücken gesehen, dachte, es geht sich noch aus. Also bin ich wieder in die trockene Hütte.

Nebelschwaden ziehen jetzt im Eiltempo durch. Zum Abschied streichen sie sanft und leise über die Wipfel der Bäume. Es wird dunkel. Das hat vielleicht schon mit der Abenddämmerung zu tun. Obwohl es noch nicht so spät ist, aber die Sonne steht tief, hinter ihren Wolken verhüllt. Vielleicht schon hinter hinter den nordwestlichen Bergen.

Es blitzt und donnert wieder und regnet. Für mich sind diese ziehenden Nebelschwaden und Wolkenfetzen wie Verheißungen. Daß es möglich ist davon zu schweben, langsamer oder schneller, wie es einem halt paßt, den Regenballast als dankbares Erbe zurücklassend, den Ballast, den der Reisende nicht brauchen kann und die Bleibenden eventuell schon – solange sie bleiben wollen.

Jetzt nehme ich einen Schluck Wasser, das von einer Quelle hinter mir am südlichen Berg kommt, wo manchmal am Grat die Geweihe der Hirsche zu sehen sind.

In dieser Ruhe erfaßt mich eine Unruhe; ich stehe auf, setzt mich wieder hin, stehe auf, gehe die paar Schritte vor die Hüttentür, und wieder zurück. Auch darin liegt etwas Erholsames. Ich trete wieder vor die Tür und beobachte vier Nebelfetzen, die zu einem Tanz anheben, im wahrsten Sinnes des Wortes, denn die ersten Bewegungen aller Vier gehen nach oben, dann drehen sie sich, sinken wieder herunter, steigen wieder auf, zerteilen sich, kommen wieder zusammen; ein leichter, stiller Tanz ganz ohne Stampfen, dann verflüchtigen sie sich, lösen sich auf, sind nicht mehr da.
Neue Nebelschwaden rücken heran, steigen hinauf, verfangen sich in den Bäumen, sinken beim Aufsteigen in den Bergwald hinein.

Jetzt zieht ein langgestreckter Nebelfetzen einen Steilhang hinauf mit einer Spalte im Fels wie ein Kamin; und oben angekommen wirft sich das Nebelwesen wie in einem Salto rückwärts aus der Felswand und verharrt in dieser Bewegung: senkrecht die Felswand hinauf und dann waagrecht von der Felswand weg. Weiter geht es nicht, denn dann verschwindet der Nebel und eine neue Nebelschwade zieht im Kamin hinauf und wirft sich wieder nach hinten. Das geht eine Zeitlang, dann geht dieser Tanz zu Ende. Doch bald steigt ein neues Nebelwesen in die Steilwand ein, aber dieses schwebt weiter hinauf und verweigert den Salto rückwärts – es steigt über die Kuppe hinauf.

Jetzt kommt richtiger Wind auf und drückt an die Tür. Ich gehe nochmals hinaus um zu schauen.

Jetzt jagen die Wolken dahin, hoch oben im wilden Geleit.

In der Hütte herinnen ist es dunkel geworden. Drei Kerzen geben ein gelbes, schwaches, heimeliges, schönes Licht. Eine Unlust, all die menschengemachten Gegenstände hier zu identifizieren, hindert mich daran, sie zu beschreiben. Ich höre ein Surren in meinen Ohren, und im Herd ein Ziehen und manchmal den Wind. Das Feuer im Herd ist am Verlöschen, nur etwas Glut ist noch da. Ab und zu ein leises, vereinzeltes Knistern und Knacken. Die Gegenstände hier versinken in einer angenehmen, trüben Dunkelheit, wie in einem bewußtseinsverlöschenden Schlaf. Selbst den gestickten Spruch an der Wand könnte ich jetzt nicht lesen. Vor mir am Tisch leuchten ein paar Sterne von meiner phosphoriszierenden Sternenkarte. Andromeda, Dreieck, Widder, der Kopf vom Walfisch und ein Stückchen vom Stier.




©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

148 Herrliches Gewitter


Der Orion schaut am Rücken liegend nicht viel anders aus, als am Himmel jagend. Nur sein Gürtel hat sich ein wenig verschoben. Das Schlechtwetter kam in mehreren Schritten. Erst schickte es Vorboten, die nur kurzen Regen brachten, dann schien wieder die Sonne. Am Morgen habe ich geglaubt, der Himmel verspricht einen herrlichen Sonnentag, jetzt wartet alles auf das Unwetter, das der Donner ständig ankündigt. Auch der Wald steht still wie in erstarrter Anspannung, als müßte er seine ganzen inneren und äußeren Kräfte sammeln, um sich dem zu Erwarteten stellen zu können. Nur die Vögel scheinen sich noch um nichts zu kümmern – so weit ich es mitbekomme tun sie wie immer. Bei den Fliegen und Bremsen ist das etwas anderes, sie waren schon den ganzen Morgen über besonders lästig. Nur jetzt sind auch sie ziemlich still, so kurz vorm Gewitterausbruch.
Nur eine Fliege kreiste kurz in der Hütte herum, flog wieder hinaus, wieder herein, wieder hinaus...

In der Hütte ist es dunkel, nur durch die offene Tür kommt einigermaßen Licht herein. Das Gedonner wird lauter, die Pausen dazwischen kürzer. Die ersten Regentropfen fallen. Es ist soweit. Erleichternd, daß es losgeht. Auch die Vögel sind jetzt still. Es schüttet. Kurz wird der Regen schwächer, dann schwillt er wieder an. So geht das ein paar mal hin und her. Es scheppert und prasselt am Hüttendach, denn jetzt beginnt es zu hageln. Läßt aber gleich wieder nach. Und wird wieder stärker und dichter. Ich schließe die Hüttentür.

Es ist wahr, man müßte das nicht als Ereignis beschreiben, das sich ankündigt, dann beginnt, dann voll loslegt und schließlich wieder aufhört, mit allen Spielarten dazwischen, sondern könnte es auch beschreiben als Kontinuum verschiedener Intensitäten der relativen Anwesenheit seiner Elemente. Als ein Kontinuum, das nie anfängt und aufhört.

Jetzt nimmt die Intensität des Element Helligkeit ab und die des Elements Dunkelheit zu. Das Element Hagel wurde intensitätsmäßig überhaupt ins Wartestadium der Potentialität zurückgezogen, die Intensität des Elements Regen nimmt ab. Dem Element Alpendohle (oder war es ein Raubvogelelement ? Mein Kontinuum hat's nichts genau mitbekommen, vermutlich war das Element Aufmerksamkeit in zu niederer Intensität eingeschaltet.) hat das Kontinuum sein Schreielement auf mittlere Intensität gestellt. Das Element Regen wird auf Intensität Null gefahren. Wer sitzt da am Mischpult? Sitzt da wer am Mischpult? Gibt es ein Mischpult? In welchem Studio passiert das? Gibt es überhaupt ein Studio? Und überhaupt!

Der Hagel ist vorbei, der Regen läßt nach. Eine Alpendohle schreit, oder war das ein kleinerer Raubvogel? (Zu Hause im Internet nachschauen!) (Habe ich nicht gemacht.) Der Regen hat komplett aufgehört. Irgendwo wird Holz gehackt. Der Donner klingt nur mehr von Ferne, ohne jede Bedrohung. Die Vögel zwitschern in voller Intensität. Die dunkle Wolkenfront hat sich nach Osten verlagert. Ein Flugzeug mit Kondensstreifen stößt nach und sticht in sie hinein. Es gibt schon blaue Flecken am Himmel, nur mehr ein paar Wolkenfetzen und Nebelschwaden ziehen in den Bergwäldern herum. Die Sonne kommt gerade heraus und scheint, das Donnergrollen aus dem finsteren Wolkenreich im Osten scheint eine protestierende Antwort zu sein.

Jetzt leuchten die Wiesen wieder grün und die neu errichtete Hütte fast gelb.
Plötzlich ist es ganz still. Völlig überraschend. Ich höre auch keinen einzigen Vogel. Auch nicht das Rauschen der Bäche. Nur den Luftzug im Kamin ganz leicht. Mehr spüre ich ihn, als daß ich ihn höre. Und jetzt das Geräusch einer Bürste, die durchs Haar fährt.

Jetzt sind wieder alle da, Vögel und Bach. Die Hüttentür ist wieder offen und scheint auch mein Gehör geöffnet zu haben.

Das äußere Kontinuum hat seine verschiedenen Intensitäten laufend geändert. Das Kontinuum, das ich „Ich“ nenne, und ein Element des größeren, umfassenderen Kontinuums ist, auch.

Draußen ziehen Nebelschwaden herum, langsam über die Bäume, Sträucher, Lichtungen, Felsen und Wiesen.





©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 17. Juli 2015

147 Hitze


In der Hitze bin ich in der Dachkammer eingeschlafen. Mir träumte, daß ich einer jungen Frau den Hintern bemalte. Und zwar zog ich mit meinen in schwarzer Farbe getauchten Fingern vom oberen Beginn der Spalte zwischen den Pobacken den äußeren Konturen des nackten Hintern entlang jeweils einen kräftigen Strich nach rechts und nach links, in Kurven, die bis etwa zur Mitte der äußeren Pobögen reichten. Meiner Erinnerung nach abwechselnd sowohl mit Daumen als auch mit Zeigefinger. Nicht mehr und auch nicht weniger. Nicht mehr gemalt als diese zwei Bögen, die ein Bild, eine Form ergaben, die wie die Darstellung fliegender Krähen ausschaut, wie man sie auf vielen Bildern und Kinderzeichnungen finden kann. Und nicht mehr als gemalt – sonst habe ich nichts getan. Gleichzeitig war ich rasend eifersüchtig auf einen weißrussischen Künstler, zu dem die junge Frau – im Traum - in irgendeiner ungeklärten Beziehung stand, und von dem sie gerade erzählte, daß er das bei ihr so mache, wobei ich – im Traum - den Eindruck hatte, daß ihr das nicht recht sei, aber sie nicht wirklich nein sage oder sagen könne.
Soll ich das glauben, daß alle im Traum vorkommenden Elemente Teile, von einem selber seien? Aspekte der eigenen psycho-physischen Gestalt?

Später dann - noch immer im Schlaf - ist meine Hand am Holz der Hüttenwand angestreift und im Traum wollte ich mich am Holz festhalten, da ich zu fallen drohte. Aber meine Hand fand daran keinen Halt – es war ja auch kein Ast oder ein Holzgeländer oder etwas in der Art, sondern eine Bretterwand ohne irgendwelche Vorsprünge – und ich stürzte in den Abgrund. Vom Schock, den ich deutlich im Bauch spürte, erwachte ich ganz plötzlich und richtete mich auf.

Erst jetzt fällt mir auf, wie groß die zwei Fichten bei der Hütte geworden sind; auch die zweiwipflige, in die einmal ein Blitz eingeschlagen hat.

Im Osten türmen sich massive, weiße Wolken, die sich im Zeitlupentempo verändern und umbauen. Unter den weißen Wolken schiebt sich eine dunkle Wolkenbank herein.

Camillo Zorres ist von Haß erfüllt. Er fürchtet und haßt die grölenden Alpinmachos, ihre immergleichen, derben Scherze, die selten lustig sind. Diese verhockte Gewalttätigkeit. Er denkt, er könne ihnen die Knochen brechen und dabei kalt in die Augen schauen. Ihm ist beinah zum Heulen. So eine schöne Landschaft, so interessante Wolken, so eine herrliche Welt, und die Menschen! Fällt dir was auf, Camillo Zorres!?

Ein neuer Wolkenturm dehnt sich im Südosten aus, wie nach einer atomaren Explosion oder einem Vulkanausbruch, und fällt langsam um, als hätte er sich ein Stück Landschaft ausgesucht, auf die er sich legen will, oder auf die er mit ewiger Gelassenheit allmählich stürzt, in seinem eingebremsten Tempo, ein ganz langsam fallender Turm.

Der fallende Turm scheint sich bereits auf seine Landschaft gelegt zu haben, denn er ist hinter den Bergen schon fast verschwunden. Ob aus Lust oder vor Erschöpfung – ich weiß es nicht. Vom Westen her kommen feine, dünne Wolkenflächen daher, wie ausgedünnte Nebelschwaden, aber hoch oben am Himmel. Ein Wettersturz ist angesagt.







©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 16. Juli 2015

146 Feuerstelle


Ich bin die ganze Zeit beim Feuer gewesen. Beim Feuer im Freien. Jetzt stinke ich nach Rauch und schaue in die übriggebliebene Glut. Die Glut wirkt lebendig, sie dehnt sich aus und zieht sich wieder zusammen, wird heller und wieder dünkler; es gehen auch immer wieder wellenartige Bewegungen durch die Glutnester im heruntergebrannten Feuer. Feuer und Glut – das liebe ich schon seit langem. Daran kann ich mich nicht so schnell satt sehen.
Eine Kuh brüllt kurz und laut in die Abenddämmerung. Wolken ziehen über einen schon milchigen Himmel. Es schaut nicht so aus, als würde ich heute Sterne sehen.

Ein kurzer, sanfter Windhauch hat es geschafft, irgendetwas da in der Glut kurz aufflammen zu lassen. Der nähere Bach rauscht ganz laut und sozusagen an mehreren Stellen. Weiter oben klingt dieses Rauschen tiefer und dunkler, hier in der Nähe höher und heller. Immer wieder fliegen kleine Funken über den Steinkreis der Feuerstelle hinaus. Ich habe mich wärmer angezogen, aber kalt ist es nicht. Ich werfe ein kleines Stück Brot, einen übriggebliebenen Rest, ins Feuer, um es irgendwelchen unbekannten Göttern zu opfern. Der Rauch ist nicht zum Himmel aufgestiegen, sondern zum Wald hinübergekrochen. Vielleicht wohnen diese unbekannten Götter auch dort. Vielleicht sind es auch keine Götter, sondern Waldgeister, die meine bescheidene Gabe annehmen. Mir soll es recht sein.

Am heißen Nachmittag bin ich viermal im Bach untergetaucht und habe eine ganze, fröhliche Meute mitgelockt in das eiskalte Wasser. Jetzt höre ich ihre lustigen Schreie von der Nachbarhütte, wo sie spielen, die jüngeren und die Teenager. Sie sind glücklich hier auf der Alm.

Es ist schon ziemlich dunkel, aber noch nicht Nacht. Stern sehe ich keinen durch eine der Wolkenlücken blitzen. Venus und Jupiter müßten schon zu sehen sein. Arktur vermeine ich jetzt dort ganz schwach leuchten zu sehen, und hinten vermute ich Wega. Vielleicht täuschen mich aber die Wolken.

Der Wald dort im Dunkeln vexiert zwischen unheimlich und heimelig, ständig hin und her. Ich könnte mich darin geborgen fühlen oder auch fürchten. Momentan bin ich froh, die Hütte im Rücken zu haben. Bevor ich hineingehe, werde ich die Glut löschen müssen.
Die Glutnester sind schwächer geworden, aber immer noch kann ein Windhauch sie aufblühen lassen. Meine Brille ist wie ein Heuschreck davongehüpft, nachdem mir ein übermütiges Wesen über den Kopf gefahren ist. Das klingt mysteriös, war aber ein ganz irdischer Vorgang.

Immer wieder halte ich Ausschau nach irgendeinem Stern. Es macht aber gar nichts, wenn ich keinen entdecke. Ich meine da drüben im Dunkeln eine Gestalt zu spüren; gerade fliegt ein Glühwürmchen vorbei. Ich will jetzt die Glut löschen, bringe es aber nicht übers Herz; es geht immer noch Wärme von ihr aus.

Jetzt habe ich die Glut gelöscht; das Zischen des Wasserdampfes war laut und störend, aber plötzlich war der halbe Himmel wolkenfrei und ich konnte den ganzen großen Wagen sehen. Und Wega mit ihrer Leier und die zwei hellsten Sterne vom Adler. Jetzt, wo ich das aufschreibe, ist auch Arktur frei und ein paar seiner Begleiter sind es auch.

Einige Wolken zeigen schon das Glitzern des Mondlichts, aber der Mond selber ist noch nicht aufgegangen. Eine nächtliche „Morgenröte“ in Silber. Für dieses schiefe Bild hat mich gleich ein kleines Insekt ins Augenlid gestochen; solche Vergleiche werden bestraft. Möglicherweise war dieses kleine Wesen mit der Sonne verbündet, und weil es sich hinter meinem Brillenglas versteckt hatte, konnte ich es beim Schreiben nicht wegwischen. Bei einem solchen Vergleich sagt eben die Sonne „Halt!“

Es ist vollkommen still hier, bis auf das Rauschen der Bäche, das sich in die Stille fügt. Nichts regt sich, nur hin und wieder ein Lufthauch. Die Wolken verdecken mir abwechselnd die Sternbilder, nur den großen Wagen lassen sie frei.

Jetzt ist ein großer Käfer auf mein Heft gelandet. Sicher vom Licht der Taschenlampe angezogen. Mit Herkules komme ich nicht zu Rande, ich weiß zwar ungefähr, wo er ist, aber merke mir nicht und nicht seine Gestalt.




©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

145 Die Leite


Der Bach unten im Graben rauscht. Am gegenüber liegenden Hang steht der Wald still wie eine im Heranrücken erstarrte Armee. Dabei ist es dort weich und feucht und im Moment wohl auch heiß. Bloß von Weitem kann man den Wald für eine Armee halten. Nichts rührt sich, nur ein paar Insekten und die Zweige der Fichte links neben mir. Wenn man genau schaut, dann sind es viele Insekten, und auch am Gegenhang geht manchmal eine ganz leichte Brise an ganz bestimmten, einzelnen Stellen. Die Brise ist ein wenig stärker geworden und ich höre ihr sanftes Rauschen im Geäst. Nein, das war das kleine Bacherl, das die Forststraße begleitet. Oder doch auch der Wind?

Hier in diesem ebenerdigen Hochstand im Steilhang, gleich über der Forststraße, die den Steilhang durchschneidet, komme ich mir wie ein Wegelagerer vor, der auf Beute lauert, die unter mir vorbeikommen kann.

Die schlaffe Müdigkeit der Hitze erfaßt mich und der Wald vor mir beginnt zu verschwimmen. Ich fühle mich wohl und geborgen in diesem Unterstand und verliere den Faden. Das Vogelgezwitscher höre ich erst jetzt, eine heranfliegende Fliege erinnert mich daran, auch die für das Summen der Insekten zuständigen Wahrnehmungskanäle einzuschalten. Ein Teil des Summens, das ich jetzt höre, scheint in meinen Ohren zu sein, es kommt aus meinem Inneren und ich trage es überall mit.

Am Gegenhang wird ein ganz bestimmter kleiner Busch von der Brise geschüttelt, während sich die Bäume um ihn herum nicht rühren. Trauen sie sich nicht? Halten sie die Luft an, damit der Wind nicht über sie kommt? Damit der Wind nicht auf sie aufmerksam wird und sie nicht ins Zentrum seines Rüttelns geraten? Oder ist es gar kein Angriff, sondern eine heftige Liebeserklärung? Wer weiß das schon. Jetzt scheint die Brise bis zu mir herangetanzt zu sein, denn ein zarter, warmer Windhauch weht durch die Fugen der Bretterwand vor mir und streicht milde liebkosend über meine Unterschenkel. Irgendwas war mit dem Rauschen vom wilden Bach tief unten im Graben, denn jetzt klingt es anders.

Meine Gedanken werden wieder konkreter und schweifen ab. Und wieder rüttelt es den kleinen Busch am Gegenhang und jetzt ist es wieder an meinen Unterschenkeln. Aus dem Wald gegenüber leuchten immer wieder kleine Lichtungen hervor. Und weiter rechts auf diesem Hang gegenüber zieht sich überhaupt eine unbewaldete Leite bis zum Bach ganz unten im Graben herab, für mich von atemberaubender Schönheit.

Ein sanftes Wiegen geht durch den Gegenhang, ich glaube von oben nach unten. Jetzt ist es da! Es könnte der Wind sein, der das Rauschen des Baches verändert. Jetzt hüllt die Brise meine ganze Gestalt ein. Nur kurz, dann wandert sie weiter. Ja, es ist auch das Rauschen des leichten Windes in den Bäumen, das ich höre. Ich sehe Grün und Gelb, und manchmal ein weißliches Glitzern. Jetzt werde ich weitergehen.





©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 15. Juli 2015

144 Alm

Die weißen Bänder des elektrischen Weidezauns blinken regelrecht im Wind, wenn er sie hin und her dreht. Die beiden Bäche rauschen. Die Vögel zwitschern. Es ist ein heißer Sommertag, aber hier auf der Alm geht eine angenehme Brise. In der schaukeln sich die Grashalme, bewegen sich die kräftigen Blätter vom jungen Hollerbusch, tanzen ganz leicht die Äste und Zweige der blitzgeköpften Fichte. Der kleine grüne Traktor steht ruhig da, als würde er uns zuschauen. Ein auffällig orangener Geländewagen kämpft sich wohlwollend den Almweg entlang. Er müßte gar nicht so kämpfen, er tut auch nur so, aus Sanftmut gegenüber dem Almboden fährt er ganz langsam. Fliegen probieren den Geschmack meiner Haut aus. Die Bäuerin ruft herüber, ob uns die Luna nicht lästig wird. Es ist nicht ein drängelnder Mond gemeint, sondern die Hündin vom Hof, die hier auf der Alm die Abwechslung liebt. Ob sie auch unten im Tal Abwechslung sucht, weiß ich nicht.

Das Herkommen war wie ein Heimkommen, obwohl uns hier nichts gehört. Der neue Stall nebenan glänzt noch hell und fast gelblich im Sonnenlicht. Er gehört einem anderen Bauern. Wie lang dauert es, bis das Holz vom Wetter grau geworden sein wird? Der rote Faden, der eigentlich ein Band ist, kitzelt im Wind meine nackten Beine. Eine Kuh schaut drüben aus dem alten Stall heraus, zuerst liegt sie noch, dann steht sie auf und kommt heraus. Sie geht schon schwer, jeden Tag wird das Kalb erwartet. Jetzt schaut eine zweite Kuh heraus und äugt neugierig herüber. Sie muß bemerkt haben, was ich schreibe, denn jetzt schaut sie auffällig desinteressiert drein. Sie reibt ihren Hals am Türpfosten und schaut wieder her. In der Ferne hört man ein Auto, das näher kommt. Dann ist es nicht mehr zu hören, obwohl es nicht näher gekommen ist. Ah! Jetzt ist auch die zweite Kuh aus dem Stall herausgestiegen. Sie schaut lange her und ich grüße sie bloß halblaut, aber ziehe die Kappe, die ich wegen der starken Sonne trage. Auch sie scheint trächtig.

Majestätisch sanfte Wolken ziehen in majestätischem Tempo nach Osten. Nicht zu langsam und nicht zu schnell. Nicht so langsam, daß man denkt, sie können nicht mehr weiter, und nicht so schnell, daß man meint, sie haben es auf unwürdige Weise eilig. Ein dichterer Schwall von Almgeruch, diese belebende Mischung aus Wiesenduft, Trockenheit, Feuchtigkeit und den Geruch von Kuhfladen, erreicht mich kurz und flüchtig.

Die Luna läuft nach Hause. Eine überirdische Trägheit kommt über mich. Oder steigt in mir auf. (Ich bin nicht so gut in der Energiekörperanatomie.)

Die langen Schatten der spätnachmittäglichen Bäume legen sich situationselastisch in die Almwiese. Wenn man sich umschaut, sind einige steinerne Köpfe dabei, sich aus den Gräsern empor zu heben, als würden alte, mythische Gestalten seit Jahrtausenden versuchen aufzustehen und sich aus der schweren Erde zu erheben, in einer schier unglaublich langsamen Bewegung. Oder es ist umgekehrt; sie versuchen schon seit Ewigkeiten, wieder in die schützende Erde zu versinken, und wir schnelllebig hektischen Wesen können das nicht erkennen.

Der milde Wind trägt das Rauschen des näheren Baches einmal stärker her, ein andermal treibt er es eher fort. Was ist die richtige Wahrnehmung? Welche Winde noch blasen Wahrnehmbares fort? Ein Flugzeug mit normalem Kondensstreifen rast nach Westen bis es hinter dem Hüttendach verschwunden ist. Was dahinter ist, weiß ich jetzt nicht. Fast an der gleichen Stelle kommt ein anderes Flugzeug hervor, das nach Osten fliegt. Sein Kondensstreifen ist vierfach und ich weiß nicht so recht. Nein, auch er verschwindet ganz schnell. Der Wind läßt seine Puppen aus Heu tanzen. In der Senke da vorn drehen sich alle im Kreis und legen sich dann hin. Wahrscheinlich wird auch dieses Ballett in die Erde verschwinden. Keine Ahnung, wie lange das braucht. Ich stehe nur da und schaue.
Ich kann mich nicht satt sehen. Ich weide meine Augen hauptsächlich auf grünlichen Flächen, schicke sie hinauf zum blauen Gewölbe, ein bißchen auf Weiß.Und manchmal streifen sie braun und grau des verwitternden Holzes. Dieses wundervolle Spiel von Sonnenlichtflecken und schattigen Stellen, Hide-and-Seek von Sonne und Wolken. Die kahlen Fichtenstämme leuchten in der Sonne, im Schatten glänzen sie fast bläulich, wenn sie nicht ganz im Dunkel des Waldes verschwinden. Eine Krähe schreit ihr typisches Krah im Baum dort und fliegt herunter zum Boden. Eine zweite folgt ihr auf dem Fuß oder Flügel. Was verhandeln die immer aus? Wer aufpaßt und wer frißt? Du bist dran zum Schmiere stehen! Nein, du!? Oder bettelt die eine die andere an? Vom Flügelschlag her kommt's mir so vor.

Meine Gedanken stürzen in einen wohltuenden Abgrund, wie beim Aufwachen die verfallenden Traumbilder. Werde ich aus dem Traum dieser Welt bald aufschrecken? Und wo?

Daß Buben es immer so lieben, mit Stecken auf Zäune zu schlagen! Eine Fliege, die sich als Wespe ausgeben will, landet auf meinem gelben, grantigen Leiberl. Die zweite Kuh ist übrigens nicht trächtig. Da habe ich mich geirrt.

Nun ist die Abenddämmerung herangeschlichen und ich halte Ausschau nach Sternen. Eine Zeitlang habe ich nichts gesehen, dann ist plötzlich Arktur aufgetaucht, so ziemlich im Süden und im Osten die Wega. Und ein dritter, den ich nicht kenne. Kühl ist es geworden, das Rauschen der Bäche lauter, das Läuten der Kuhglocken von jenseits des Baches dringt manchmal durch. Kann ich noch die Kondensstreifen der Flugzeuge sehen oder bilde ich mir das nur ein? Meine Brillen beschlagen sich mit der Feuchtigkeit der Abendluft. Jedenfalls ziehe ich mir die Kapuze meiner coolen Jacke auf den Kopf. Ich hebe den Kopf und den Blick vom Papierblatt, das die sanfte Brise umzublättern versucht, zum Himmel und sehe die Spica. Neben mir liegt die Sternenkarte und die ersten zwei Sterne vom Adler sind auch schon zu sehen. Dann müßten, wenn ich um die Hütte herumgehe, auch die drei hellsten vom Schwan zu sehen sein. Tatsächlich, ich sehe schon vier. Und jetzt leuchten allmählich beim Arktur seine Kompagnons auf, die anderen Sterne des Rinderhirten und die nördliche Krone ahnt man bereits.

Jetzt schimmert schon der Schlangenträger durch und Herkules dehnt sich aus und streckt seine Muskel. Eine Fledermaus flattert lautlos durch mein himmelwärts gerichtetes Blickfeld und ich lasse dann meine Augen da drüben bei den Büschen und Bäumen nach Glühwürmchen suchen. Sie finden aber keine.

Ich tappe im Dunkeln wieder auf die andere Seite der Hütte und sehe zu meiner besonderen Freude Kassiopeia, mein erstes Sternbild der zweiten Generation. Allmählich tanzen sie alle an: Kepheus, der Schlangenträger mit der Schlange. Der große und der kleine Wagen sind schon längst eingeparkt; .... der Drache... Und plötzlich schwebt ganz nah an mir ein Glühwürmchen vorbei und leuchtet groß und hell. Ein anderes hat sich vor mir in die Wiese gesetzt und erlischt fast zur Gänze und leuchtet wieder auf. Es blinkt herunten wie die Sterne oben, nur im Zeitlupenrhythmus. Jetzt wird mir kalt und ich gehe in die Hütte.

Später in der Nacht ist der Mond leise aufgegangen. Er hatte noch sehr wenig von seiner Fülle verloren und beleuchtete alles sehr hell. Ein wenig Dunst ist aufgekommen und die Sterne sind kaum noch zu sehen.



©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

143 Krähen und anderes Gerede


Die Krähen regen sich wahnsinnig auf. Sie schreien und schreien und schreien. Ich sitze neben dem kleinen Wasser, vermutlich ein künstliches Bacherl, das langsam vorbeifließt. Mein Gott, diese Krähen, sie hören nicht auf! Ich mag Krähen, ich bewundere sie. Ist es ein Streit, eine Konferenz, eine Protestversammlung? Einige der grünen Gitter sind geöffnet. Nebenan reden sie Italienisch. Aber auch Österreichisch. Die Krähen krähen laut. Jetzt fliegen viele Tauben davon und die Krähen werden ruhiger. War das ihr Manöver? Die Tauben vertreiben? Jetzt werden die Krähen wieder laut. Sie schreien und schreien und schreien. Eine Nebelkrähe ist ganz nah vorbeigeflogen. Sie sitzen in den Bäumen, rechts eine Ahorn, links ein riesiger Lindenbaum. Jetzt lärmen Polizei oder Rettung. Eher die Rettung, glaube ich. Jetzt sind wieder die Krähen und ein Handy dran. Ich genieße es, hier im Cafe zu sitzen, im volkseigenen Garten.

Angenehm und kühl plätschert das Bächlein. Die Italienisch reden, reden auch Österreichisch. - Oh, plötzlich kommt ein Gutschein daher; im Wert von 149,99 Euro; aber auf einer ganz anderen Rille der Realität. Das hat nichts mit dem Garten zu tun. Ende der Zwischenbemerkung. - Die Leute, die da herumgehen, sollten Touristen sein. Ich könnte auch als ein solcher durchgehen, so, wie ich gekleidet bin und herumsitze und herumschaue.

Eine Frau tippt entspannt-konzentriert in ihr Handy. Die Frau hat ein eigenes Gesicht und schöne Beine.

Gerade wurde die Musikanlage eingeschaltet. Die Musik ist dezent, die Männer sind meist kurzgeschoren. Eine angenehme Brise streicht über die Szene. Drüben, hoch oben, wehen die Fahnen von Österreich und die der EU.
Im Teich schwimmen Enten, am Himmel Kondensstreifen, die ihn eintrüben. Ansonsten ein schöner Sommertag. Eine Glocke läutet, noch eine – ich vermute von der geringeren Kirche. Der Erpel steht neben dem Wasser und wackelt mit seinem Schwanz. Hinter dem, wo kein Zutritt ist, findet eine männliche Besprechung statt. Ich tippe auf Ausbau oder Umbauplanung.

Die beiden Fahnen wechseln sich ab: einmal hängt die österreichische schlaff und die der EU weht stolz, und dann ist es umgekehrt. Jetzt aber flattern beide Fahnen majestätisch im Wind.

Die gehobene Partie nebenan verabschiedet sich, nach dem, was sie erzählen, waren sie in aller Herren und Frauen Länder. Eine Frau zieht ihren Pullover aus, eine andere scheppert mit einer russischen Rassel. Jetzt gibt es wieder Begrüßungen und geredet wird vom privaten Garten.

In einem Fenster der Burg steht eine Frau in roter Bluse und telefoniert; ich sehe sie nur von der Ferne. Mein Gott, jetzt reden sie nebenan vom steirischen Ennstal! Die Krähen haben die ganze Zeit weitergeschrien. Die Musik aus den Lautsprechern ist immer noch leise, aber nicht mehr dezent. Mir sind die normalen Menschen so fremd. Die nicht normalen eigentlich auch. Vielleicht gibt es nicht viel zu verstehen. Eine Baustelle ist auch in der Nähe und fängt jetzt mit ihrer Beschallung an. Ich tippe auf Bohren und Schleifen.

Die Schatten der Bäume sind angenehm. Die Frau am Brunnen gießt Wasser aus einem Krug. Eine Lindenbaumfrucht liegt plötzlich auf meinem Tisch; ich habe sie nicht kommen gesehen.

Ich sitze woanders. Ich höre die Turmuhr von Maria-am-Gestade schlagen, den Brunnen plätschern und schaue auf die schönen, alten Häuser der Neuzeit. Noch ist Polen nicht verloren. Unter drei Lindenbäumen. Beim Brunnen retten die Fischer einen der ihren, die Fische lassen vermutlich gelangweilt oder einfach nur stumm das Wasser aus ihren Mäulern rinnen. Ein dünner Wasserstrahl. An einem der Fenster oben scheint ein Lautsprecher montiert zu sein; das Kabel verläuft durchs Fenster nach Innen. Ein kleines Geschäftslokal steht leer. Was könnte man an so einem schönen Platz verkaufen? Geschichten? „Insomnia“ steht auf der Brunnenmauer. Mein Gott, das Nicht-Gelebte kommt so unbarmherzig daher. „Es geht schon!“ sagt der anzügliche Mann ins Handy. Ich werde gleich die Stufen hinaufsteigen.

Jetzt sitze ich in der Kirche in der letzten Bank. Es ist ganz still. Links von mir ein Heiliger, der etwas gestresst, desorientiert und verhuscht wirkt. Das kann auch am Maler liegen. Der andere Heilige stößt dem am Boden liegenden Teufel den Stab mit dem Kreuz in den Rücken und schaut dabei ziemlich irre drein. Ob aus Angst oder wegen dem Maler, das weiß ich nicht. Jedenfalls denke ich an meine Kreuzschmerzen.

Das Kreuz mit dem Strahlenkranz vorne am Altar schaut auf mich, beruhigend und friedlich. Endlich ist es vollbracht. Gebe ich zu schnell nach? Bin ich in der Komfortzone?
Eine ziemlich lange Strecke von hinten nach vorne. Ich gehe nochmals nach vorn.





©Peter Alois Rumpf Juni 2015 peteraloisrumpf@gmail.com