Montag, 20. Juli 2015

152 Am See


Eine kleine Libelle hatte sich auf meinen Unterschenkel gesetzt. Die typischen Geräusche einer Badeanstalt, schreiende Kinder, durchaus vergnügt, vorbeifahrende Autos, redende Erwachsene, das Säuseln des Windes in den Birken; die dominanten Geräusche bleiben Autos und Kinder. Der Wind legt zu. Wir lagern am Tangelsee, unweit der Stelle meines ganz persönlichen Größenwahns, nur ein paar Meter, allerhöchstens zehn.

Ich sitze mit nasser Badehose im Gras, ohne Decke, ohne Luftmatraze, ohne Liege. Der Wind wird noch stärker. Eigenartige Wolken ziehen über den Himmel, weiß, aber ich kann sie nicht zuordnen.

Kinder rennen, Frauen gestikulieren oder gehen in Barfußlangsamkeit, ein kleines Mädchen ist von der Schaukel gefallen und weint und windet sich und will wieder auf die Schaukel zurück. Eine andere Mutter liest ihrer Tochter vor. Männer stehen herum und einer breitet ein Handtuch aus. Das Geräusch von Schlapfen respektive Flip-Flops.

Wieder säuselt der Wind in den Bäumen, auch in der Linde dort drüben und in der Weide hinter mir. Einer gähnt genüsslich und laut. Eine Frau schmiert ihrem Mann den Rücken ein. Eine ältere Frau steigt ganz vorsichtig ins Wasser, Burschen springen mit Anlauf vom Sprungturm. Offensichtlich mit dem Ehrgeiz, möglichst viel Wasser aufzuspritzen und möglichst laut. Das Mädchen-ins-Wasser-werfen gilt immer noch als passender Pubertierendensport.

Lauter als Autos die Motorräder. Hinter mir wird gelacht und gekichert. Das Platschen der TurmsprigerInnen. Eine Frau mit Sonnenbrille schreitet wie im abwesenden Traum vorbei, ihre Bewegungen scheinen zu fünfzig Prozent einer anderen Welt anzugehören.

Die Zelte am anderen Ufer ducken sich hinter das Schilf, wo sie können. Ein Schatten läuft die gegenüberliegende Leite hinunter in den See, dort taucht er unter, ich kann ihn nicht mehr sehen. Ein zweiter Schatten macht es ihm nach. Andere Schatten bleiben bei ihren Bäumen – sie scheinen kein Bedürfnis zu haben, sich im See abzukühlen.

Eine Tochter sorgt liebevoll aufdringlich für ihren alten Vater. Ich habe eine Bremse getötet. Der grimmige Berg lugt ein wenig hinter dem Kulm hervor. Ich liebe den grimmigen Berg. Und auch den Kulm, den alten Vulkan, schon Millionen Jahre im Ausgedinge. Wer weiß, ob das stimmt? War er überhaupt ein Vulkan?

Flugzeuggeräusche, sportliche Motorflieger, manche mit Segelflieger im Schlepptau. Der Wind hat sich gelegt, die Sonne wird heißer, nur mehr ein leichtes Lüftchen streicht über Wiese und See.

Noch ein Schatten stürzt sich drüben ins Wasser. Ich habe zu zählen vergessen. Jetzt ist einer aus dem Wasser gekommen und hat sich über mich gelegt. Er war aber nicht naß; schon ist er vorbei.
Eine große Libelle schaut mir beim Schreiben zu. Die Schlapfen sind wirklich sehr laut.

Wieder steigt ein Schatten fast unmerklich aus dem Wasser, eilt aber schnell weiter. Ich betrachte zwei Damen im Wasser, die mit ihren Oberkörpern auf einer Luftmatratze liegen und langsam mit ihren Beinen Tempi machen. Sie haben es offensichtlich nicht eilig, wie es sich für den Urlaub gehört oder den freien Samstag.

Leute kommen und gehen. Eine dicke Frau zieht ihr Kleid aus und trägt ihren Badeanzug darunter. Zumindest nehme ich das an, daß der Badeanzug ihrer ist. Ein Boot liegt träge im Wasser.

Wieder stürzt ein Schatten in den See – spielen sich da unbeachtete Tragödien ab? Oder sind das meine inneren, unbeachteten Tragödien, die sich draußen Gleichnisse suchen? Oder meine inneren, überbeachteten Tragödien. Oder Geschichten, die uns Menschen einfach so umschwirren, aus den Ablagerungen unserer Vorfahren, aus den feinstofflichen Müllbergen der Jahrtausende?

Neben den bekannten weißen Quellwolken trüben eigenartige weiße Wolken den Himmel, eine franst aus wie Zacken eines Kamms. Mit der Kammspitze hinten im Westen hat das nichts zu tun. Soviel ich weiß, aber soviel weiß ich nicht. Ein paar Schneeflecken leuchten vom grimmigen Berg herüber.

Am Hang am anderen Ufer des Sees sehe ich jetzt keine Schatten ins Wasser stürzen. Die Köpfe der Schwimmenden bewegen sich langsam. Eine Frau, die vorbeigeht, greift sich an den Busen; ein Mann auf einer Luftmatratze stützt seinen Kopf mit dem linken Arm ab und schaut aufs Wasser hinaus. Zwei junge Frauen reden vom Bauchgefühl. Ich denke, das ist nicht schlecht. Obwohl es mich nichts angeht.

Ein gelber Hahnenfuß und ein paar kurze Schilfpflanzen wiegen sich am Seeufer im Wind. Ich würde so gern die Welt erforschen; ich glaube, dazu ist es zu spät. Hier heißt glauben wirklich nichts wissen. Ich schaue mich um und will sehen und verstehen. Aber immer bleibe ich hintennach. Klar, den Gedanken können nur nach dem Jetzt kommen. Das Jetzt selber ist ohne Gedanken. Wieder setzt sich eine kleine Libelle auf mich, diesmal auf den Unterarm, nahe beim letzten Stern.

Wieder legt sich der Schatten einer Wolke auf mich, aber ich habe nicht darauf geachtet, ob er aus dem Wasser gekommen ist oder vom Hügel herunter, von dem hinter mir. In der Konsistenz des Schattens habe ich keinen Unterschied bemerkt.

Ich nehme einen Schluck Wasser, es ist noch erstaunlich kühl. Bei einem Schwimmreifen wird die Luft ausgelassen. Inside eines Schlauchbootes, das outside heißt, sitzen vorne eine Frau und hinten ein Mann. Die Frau lacht und der Mann hält sich stumm; sie paddeln ruhig über das Wasser. Ich bin nicht der einzige Mann, der herumschaut. Sucht auch der da drüben Erkenntnis?

Eine Frau mit zwei Mädchen balanciert auf einem Surfbrett, dann fallen alle drei ins Wasser und lachen. Jetzt klettern sie wieder hinauf. Und jetzt ist sie absichtlich und elegant ins Wasser geköpfelt.

In den Gesichtern der Menschen hier suche ich eine Erinnerung, ob ich sie oder ihre Eltern oder Großeltern aus meiner Kindheit kenne; ob ich irgendwelche vertrauten Gesichtszüge finde.

Der gegenüberliegende Hang, der am anderen Ufer des Sees liegt, diese schöne Leite, erstrahlt so herrlich im Sonnenlicht, in einem hellen, sonneninspirierten Grün, während die Bäume vor ihm, herunten am Ufer, noch dunkel im Schatten stehen. Ich kann von hier aus sehen, wie Wellen aus Wind durch diese Bäume gehen. Jetzt ist die Wolke, die sie im Schatten gehalten hat, weitergezogen und sie werden von links oben beleuchtet.

Der Wind legt sich immer wieder, um dann von neuem in heftigen Stößen aufzukommen, überraschenderweise manchmal von Ost und manchmal von West.
Wellen von Hitze und Wellen von Kühle treibt der unruhige Wind auf mich, über mich, fast möchte ich sagen – durch mich.

Plötzlich ist eine dunkle Wolke da, die Sonnenschirme flattern gleich ganz aufgeregt, bevor sie wieder ganz ruhig werden. Ein Moped heult im Oberton vorbei.




©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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