152 Am See
Eine kleine Libelle hatte sich auf
meinen Unterschenkel gesetzt. Die typischen Geräusche einer
Badeanstalt, schreiende Kinder, durchaus vergnügt, vorbeifahrende
Autos, redende Erwachsene, das Säuseln des Windes in den Birken; die
dominanten Geräusche bleiben Autos und Kinder. Der Wind legt zu. Wir
lagern am Tangelsee, unweit der Stelle meines ganz persönlichen
Größenwahns, nur ein paar Meter, allerhöchstens zehn.
Ich sitze mit nasser Badehose im Gras,
ohne Decke, ohne Luftmatraze, ohne Liege. Der Wind wird noch stärker.
Eigenartige Wolken ziehen über den Himmel, weiß, aber ich kann sie
nicht zuordnen.
Kinder rennen, Frauen gestikulieren
oder gehen in Barfußlangsamkeit, ein kleines Mädchen ist von der
Schaukel gefallen und weint und windet sich und will wieder auf die
Schaukel zurück. Eine andere Mutter liest ihrer Tochter vor. Männer
stehen herum und einer breitet ein Handtuch aus. Das Geräusch von
Schlapfen respektive Flip-Flops.
Wieder säuselt der Wind in den Bäumen,
auch in der Linde dort drüben und in der Weide hinter mir. Einer
gähnt genüsslich und laut. Eine Frau schmiert ihrem Mann den Rücken
ein. Eine ältere Frau steigt ganz vorsichtig ins Wasser, Burschen
springen mit Anlauf vom Sprungturm. Offensichtlich mit dem Ehrgeiz,
möglichst viel Wasser aufzuspritzen und möglichst laut. Das
Mädchen-ins-Wasser-werfen gilt immer noch als passender
Pubertierendensport.
Lauter als Autos die Motorräder.
Hinter mir wird gelacht und gekichert. Das Platschen der
TurmsprigerInnen. Eine Frau mit Sonnenbrille schreitet wie im
abwesenden Traum vorbei, ihre Bewegungen scheinen zu fünfzig Prozent
einer anderen Welt anzugehören.
Die Zelte am anderen Ufer ducken sich
hinter das Schilf, wo sie können. Ein Schatten läuft die
gegenüberliegende Leite hinunter in den See, dort taucht er unter,
ich kann ihn nicht mehr sehen. Ein zweiter Schatten macht es ihm
nach. Andere Schatten bleiben bei ihren Bäumen – sie scheinen kein
Bedürfnis zu haben, sich im See abzukühlen.
Eine Tochter sorgt liebevoll
aufdringlich für ihren alten Vater. Ich habe eine Bremse getötet.
Der grimmige Berg lugt ein wenig hinter dem Kulm hervor. Ich liebe
den grimmigen Berg. Und auch den Kulm, den alten Vulkan, schon
Millionen Jahre im Ausgedinge. Wer weiß, ob das stimmt? War er
überhaupt ein Vulkan?
Flugzeuggeräusche, sportliche
Motorflieger, manche mit Segelflieger im Schlepptau. Der Wind hat
sich gelegt, die Sonne wird heißer, nur mehr ein leichtes Lüftchen
streicht über Wiese und See.
Noch ein Schatten stürzt sich drüben
ins Wasser. Ich habe zu zählen vergessen. Jetzt ist einer aus dem
Wasser gekommen und hat sich über mich gelegt. Er war aber nicht
naß; schon ist er vorbei.
Eine große Libelle schaut mir beim
Schreiben zu. Die Schlapfen sind wirklich sehr laut.
Wieder steigt ein Schatten fast
unmerklich aus dem Wasser, eilt aber schnell weiter. Ich betrachte
zwei Damen im Wasser, die mit ihren Oberkörpern auf einer
Luftmatratze liegen und langsam mit ihren Beinen Tempi machen. Sie
haben es offensichtlich nicht eilig, wie es sich für den Urlaub
gehört oder den freien Samstag.
Leute kommen und gehen. Eine dicke Frau
zieht ihr Kleid aus und trägt ihren Badeanzug darunter. Zumindest
nehme ich das an, daß der Badeanzug ihrer ist. Ein Boot liegt träge
im Wasser.
Wieder stürzt ein Schatten in den See
– spielen sich da unbeachtete Tragödien ab? Oder sind das meine
inneren, unbeachteten Tragödien, die sich draußen Gleichnisse
suchen? Oder meine inneren, überbeachteten Tragödien. Oder
Geschichten, die uns Menschen einfach so umschwirren, aus den
Ablagerungen unserer Vorfahren, aus den feinstofflichen Müllbergen
der Jahrtausende?
Neben den bekannten weißen Quellwolken
trüben eigenartige weiße Wolken den Himmel, eine franst aus wie
Zacken eines Kamms. Mit der Kammspitze hinten im Westen hat das
nichts zu tun. Soviel ich weiß, aber soviel weiß ich nicht. Ein
paar Schneeflecken leuchten vom grimmigen Berg herüber.
Am Hang am anderen Ufer des Sees sehe
ich jetzt keine Schatten ins Wasser stürzen. Die Köpfe der
Schwimmenden bewegen sich langsam. Eine Frau, die vorbeigeht, greift
sich an den Busen; ein Mann auf einer Luftmatratze stützt seinen
Kopf mit dem linken Arm ab und schaut aufs Wasser hinaus. Zwei junge
Frauen reden vom Bauchgefühl. Ich denke, das ist nicht schlecht.
Obwohl es mich nichts angeht.
Ein gelber Hahnenfuß und ein paar
kurze Schilfpflanzen wiegen sich am Seeufer im Wind. Ich würde so
gern die Welt erforschen; ich glaube, dazu ist es zu spät. Hier
heißt glauben wirklich nichts wissen. Ich schaue mich um und will
sehen und verstehen. Aber immer bleibe ich hintennach. Klar, den
Gedanken können nur nach dem Jetzt kommen. Das Jetzt selber ist ohne
Gedanken. Wieder setzt sich eine kleine Libelle auf mich, diesmal auf
den Unterarm, nahe beim letzten Stern.
Wieder legt sich der Schatten einer
Wolke auf mich, aber ich habe nicht darauf geachtet, ob er aus dem
Wasser gekommen ist oder vom Hügel herunter, von dem hinter mir. In
der Konsistenz des Schattens habe ich keinen Unterschied bemerkt.
Ich nehme einen Schluck Wasser, es ist
noch erstaunlich kühl. Bei einem Schwimmreifen wird die Luft
ausgelassen. Inside eines Schlauchbootes, das outside heißt, sitzen
vorne eine Frau und hinten ein Mann. Die Frau lacht und der Mann hält
sich stumm; sie paddeln ruhig über das Wasser. Ich bin nicht der
einzige Mann, der herumschaut. Sucht auch der da drüben Erkenntnis?
Eine Frau mit zwei Mädchen balanciert
auf einem Surfbrett, dann fallen alle drei ins Wasser und lachen.
Jetzt klettern sie wieder hinauf. Und jetzt ist sie absichtlich und
elegant ins Wasser geköpfelt.
In den Gesichtern der Menschen hier
suche ich eine Erinnerung, ob ich sie oder ihre Eltern oder
Großeltern aus meiner Kindheit kenne; ob ich irgendwelche vertrauten
Gesichtszüge finde.
Der gegenüberliegende Hang, der am
anderen Ufer des Sees liegt, diese schöne Leite, erstrahlt so
herrlich im Sonnenlicht, in einem hellen, sonneninspirierten Grün,
während die Bäume vor ihm, herunten am Ufer, noch dunkel im
Schatten stehen. Ich kann von hier aus sehen, wie Wellen aus Wind
durch diese Bäume gehen. Jetzt ist die Wolke, die sie im Schatten
gehalten hat, weitergezogen und sie werden von links oben beleuchtet.
Der Wind legt sich immer wieder, um
dann von neuem in heftigen Stößen aufzukommen, überraschenderweise
manchmal von Ost und manchmal von West.
Wellen von Hitze und Wellen von Kühle
treibt der unruhige Wind auf mich, über mich, fast möchte ich sagen
– durch mich.
Plötzlich ist eine dunkle Wolke da,
die Sonnenschirme flattern gleich ganz aufgeregt, bevor sie wieder
ganz ruhig werden. Ein Moped heult im Oberton vorbei.
©Peter
Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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