Donnerstag, 23. Juli 2015

155 Drei Geschichten aus meiner Schulzeit


Es gibt Momente, in denen sich ein ganzes Leben zeigt. Das können alltägliche, müssen gar keine besonderen Momente sein, aber irgendetwas leuchtet plötzlich auf, oder ein grundlegendes Lebensmuster erhält ein deutliches, klares Bild. Das können Lebensmuster sein, die man sich besser abgewöhnen sollte, und dieses Bild oder Gleichnis verstärkt es noch, macht es fester, unveränderlicher als es ist. Oder auch umgekehrt. Oder ein übernommenes und nie in Frage gestelltes Verhaltensmuster wird plötzlich fragwürdig oder lächerlich und funktioniert nicht mehr so wie bisher. In solchen Momenten kann sich eine Lebenstragödie verfestigen oder auch auflösen – jedenfalls sind solche Momente deren Kistallisationspunkte. Ich will drei solcher Momente aus meiner Schulzeit erzählen.

Wer meine Geschichten hier gelesen hat, wird wissen, daß ich in meiner Kindheit und Jugend – um es ganz vorsichtig auszudrücken – in Gefahr war, mich als Opfer zu definieren. In der dritten Klasse Gymnasium habe ich dafür ein Gleichnis bekommen. Wir haben im Deutschunterricht den Schimmelreiter von Theodor Storm gelesen. Alles habe ich vergessen, nur den Satz „Was Lebigs muß rein!“ nicht. Dabei geht es um den Dammbau gegen das Meer und die Vorstellung, daß an besonders heiklen Stellen ein Damm nur dann halten kann, wenn etwas „Lebigs“, also Lebendiges, geopfert wird.
Ich zitiere: „Als ich ein Kind war, (…) hörte ich einmal die Knechte darüber reden. Sie meinten, wenn ein Damm dort halten solle, müsse was Lebigs da hineingeworfen und mit verdämmt werden; bei einem Deichbau auf der anderen Seite, vor wohl hundert Jahren, sei ein Zigeunerkind verdämmt worden, das sie um schweres Geld der Mutter abgehandelt hatten.“
Und an einer anderen Stelle geht es darum, daß die Arbeiter beim Dammbau einen Hund in den Damm reinwerfen wollten und ihr Aufseher, der Schimmelreiter, es verhindert hat.

Wir haben im Unterricht auch kurz darüber gesprochen, was, weiß ich nicht mehr, aber ganz genau weiß ich, was ich in dem Moment dachte: „Wenn das heute noch so gemacht werden würde, dann wäre ich reingeworfen worden. Ich würde nicht mehr leben.“ Und das Gefühl der Erleichterung, daß es heute nicht mehr so ist, wurde gleich und immer stärker verdrängt von einem Gefühl der Scham – ja, wie kann ich das ausdrücken? - daß ich sozusagen auf unehrenhafte Art überlebt habe. Daß die zivilisiertere Gesellschaft eine dekatente Form sei und die archaische die stärkere, echtere, der menschlichen Natur entsprechendere sei und ich mit meiner schwachen Existenz gegen diese Natur verstoße.

Dieses Gefühl sitzt tief in mir verankert und immer, wenn ich mich nicht lebensberechtigt fühle, fällt mir die Geschichte vom Schimmelreiter ein. Damit es kein Mißverständnis gibt – ich bin froh, daß ich diese Geschichte kennengelernt habe und es ist wichtig, das dieses mein Lebensgefühl ein Bild gefunden hat, denn dadurch kann ich es von außen betrachten und leichter einordnen. Jetzt kann ich mir sagen, was ich bei Döbereiner gelernt habe, daß nämlich immer dann, wenn Leben geopfert wird, nicht der Himmel, sondern das Böse, also das Falsche, Verdrängte angebetet wird. So ungefähr drückt es Döbereiner aus. Dadurch kann ich mir klar machen, daß dieses mein internalisiertes Urteil über mich nicht gilt und eben nicht den dem Dasein zugrundeliegenden Lebensgesetzen entspricht. Das sich klarzumachen ist in der Situation der Verzweiflung durchaus harte Arbeit und die Versuchung, dieses Bild einfach gelten zu lassen und nicht zu bearbeiten, ist manchmal groß. Aber es gelingt.

Die zweite Geschichte spielt im Zeichenunterricht. Wir hatten in der Unterstufe einen sehr strengen Zeichenprofessor. Wenn man etwas von den Malutensilien vergessen hatte, gab es als Strafe seitenlanges Schreiben von Sätzen wie „Ich darf meinen Malbecher nicht zu Hause vergessen!“ und ähnliches. Er war im Grunde ein humorvoller Mensch, ein scharfer, unbestechlicher Beobachter und meisterhafter Porträtist und konnte meisterhaft Menschen nachäffen – ihre Gestik, Stimme, Sprache, Ausdrucksweise, und gerüchteweise hörten wir davon, wie er beim Lehrerfasching die ganze Runde mit seinen Persiflagen seiner Kollegen unterhielt und zum Lachen brachte.

In seiner Rolle als Lehrer – und ich vermute, auch in seiner Rolle als Vater und zu sich selbst als Künstler – war er streng. „Schlimme“ Schüler konnten sich durchaus Ohrfeigen einfangen – diese verräterische Ausdruckweise, als würde der Schüler freiwillig die Ohrfeigen suchen! - oder „Knackwatschen“, garniert mit dem Satz „Ein Schlag in das Genick erhöht das Denkvermögen!“.
Seine Unbestechlichkeit zeigte sich auch darin, daß der Sohn des Schuldirektors von ihm genauso Ohrfeigen abbekam und er mir – obwohl er mir wohlgesonnen war – aufgrund meiner ausdrucksschwachen, verklemmten Zeichnungen immer höchstens eine Drei ins Zeugnis gab. Trotzdem ich von ihm nie geschlagen oder bloßgestellt oder verspottet wurde, fürchtete ich ihn sehr.

Wenn man etwas vergessen hatte, mußte man gleich zu Beginn der Unterrichtsstunde aufzeigen, und nachdem einen der Professor aufgerufen hatte, etwas in der Art sagen: „Herr Professor, ich bitte um Entschuldigung, ich habe meinen Malbecher vergessen.“ Darauf er: „Als Strafe schreibst du hundertmal....“. Es nicht zu melden zog eine strengere Strafe nach sich, denn Durchschwindeln war erst recht verpönt.

Einmal ist mir auf dem Weg in die Schule mein Plastikmalbecher zerbrochen, vermutlich beim Transport im überfüllten Autobus, aber an diesem Tag fiel überraschenderweise der Zeichenunterricht aus. Eine Woche später, als wir wieder Zeichnen hatten, hatte ich zwar das Sackerl mit den Malsachen mitgenommen, aber vergessen, einen neuen Malbecher einzustecken. Da habe ich dann geschwindelt. Ich habe aufgezeigt und nach Aufruf gesagt: „Entschuldigung, Herr Professor, mir ist im Autobus der Malbecher zerbrochen.“ Die Entschuldigung wurde angenommen. Ah, dachte ich, das war jetzt eine gute Idee!
Dasselbe dachte sich auch ein Mitschüler und sagte dem Professor – im Ablauf desselben Rituals – daß auch ihm der Malbecher zerbrochen sei. Jetzt wollte der Professor die zerbrochenen Teile sehen. Und der Schüler wurde streng bestraft, weil er nicht nur den Malbecher vergessen, sondern auch noch gelogen hatte.
Ich selber bin mit hochrotem Kopf und gesenktem Blick in der Bank gesessen und bin mir richtig schäbig vorgekommen, weil auch ich keine Scherben vorweisen hätte können, denn was ich als Entschuldigung angeführt hatte, war ja vor einer Woche passiert; an diesem Tag habe ich den Malbecher ganz klassisch einfach vergessen. Und ich schämte mich auch vor dem Mitschüler, daß der Professor mir meine Lüge geglaubt hatte, ihm die seine aber nicht.

Irgendwann bekamen wir dann einen jungen Zeichenprofessor, und wie ich wieder einmal den Malbecher vergessen hatte, zeigte ich dem eingeübten Ritual gemäß auf und sagte brav mein Sprücherl: „Bitte um Entschuldigung, Herr Professor, ich habe meinen Malbecher vergessen.“ Worauf er antwortet: „Na und? Was habe ich damit zu tun? Tauchst halt den Pinsel beim Nachbarn ein!“ Durchaus mit dem Unterton, wie ich denn dazukomme, ihn damit zu belästigen.
Aber da hat sich in mir etwas gedreht; ich war überrascht und perplex, daß man diese Sache, die mich jahrelang in Angst und Schrecken versetzt hatte, so leicht und unproblematisch handhaben kann.

Wichtig aber auch: auch hier fühlte ich mich schuldig, nicht weil ich den Malbecher vergessen, sondern weil ich in meiner naiven Zurückgebliebenheit und schon längst überholten Autoritätsgläubigkeit den Professor mit so etwas belästige, oder anders ausgedrückt, weil ich mich nicht den neuen Anforderungen der neuen Zeit entsprechend als ein freier, aufgeweckter, selbstsicherer, kecker, souveräner, eigenverantwortlicher, selbständiger „Bürger“ erwiesen habe, der alles selber managen kann und nicht die Obrigkeit mit seinen Psychosozialproblemen und seinen mangelnden Kompetenzen belästigt. Sie wissen schon: wer nicht zurecht kommt, ist selber schuld.

Die dritte Geschichte hat auch mit einem Zeichenprofessor zu tun. Der war auch von der alten Schule, aber ein Gegenpol zu ersterem. Milde, gütig, charmant, nachsichtig, ein bißerl zu Kitsch neigend. Er besserte gern unsere Zeichnungen aus und konnte einem beim nächsten Vorlegen der Arbeiten dafür loben. Ich glaube, er hatte wirklich vergessen, daß er es selber gemacht hatte. Bei ihm hatte ich meistens einen Einser und ich mußte mich überhaupt nicht vor dem Zeichenunterricht fürchten. Und trotzdem mochte ich ihn nicht.

Einmal hatte ihm nämlich ein Mitschüler irgendeine Tube zurückgegeben und sie nicht „korrekt“ gedrückt. Also statt am hinteren Ende der Tube mit dem Rausdrücken des Klebstoffs oder der Farbe zu beginnen, hatte er einfach irgendwo in der Mitte der Tube reingedrückt, was an den zurückgebliebenen Dellen deutlich zu sehen war. Der Professor stellte den Schüler deswegen zur Rede und in seiner Belehrung über das korrekte Tubendrücken und der Zurechtweisung fragte der Professor den Schüler. „Macht ihr das bei euch zu Hause auch so?“ Der Schüler antwortete „Ja!“, worauf der Professor eine verächtlich machende Tirade losließ, so in dem Sinn, aus welchem Haus er denn komme, wo man nicht wisse, wie man Tuben richtig drückt, was für eine Familie das sein soll, offensichtlich kein Niveau und ungebildet.

Mir wäre das nicht passiert, daß ich „Ja“ gesagt hätte; ich hätte die Falle gerochen und „Nein“ gesagt – obwohl auch wir daheim die Tuben unkorrekt gedrückt haben – und damit die ganze „Schuld“, nicht nur meine eigene, sondern auch die der Familie, auf mich genommen.

Ab diesen Zeitpunkt habe ich diesen Professor verabscheut, dafür, daß er so hochmütig und arrogant auf Kosten seines Schülers seinen Standesdünkel ausgelebt hatte. Mir hatte der Professor nichts getan, aber ich hatte eine regelrechte Aversion gegen ihn. Diese Geschichte hat natürlich auch viel mit gesellschaftlichen Platzzuweisungen zu tun, wer oben und wer unten landet, oder meinetwegen in der Mitte, denn solche Erfahrungen können sich ja in einem noch wachsenden Wesen als starre Bilder und Zuschreibungen verfestigen.








©Peter Alois Rumpf Juli 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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