Sonntag, 31. Dezember 2023

3500 Reise

 



Die erste Klasse ist gar nicht erstklassig. Keine Sorge: das wird keine soziologische Abhandlung, sondern wir sitzen im Zug von Graz nach Wien und unsere zweitklassig reservierten Plätze befinden sich in einem veralteten Erste-Klasse-Wagon, der als Ersatz zweitklassig genützt wird. Der Zug fährt los und ich will jetzt aus dem Fenster schauen. Das nämlich liebe ich beim Zugfahren. Ich kann Leute nicht verstehen, die während der Zugfahrt schreiben, lesen, Gespräche führen et cetera. Ich will auf die vorbeiziehende Landschaft blicken. Ich sinniere über den Plabutsch und seinen ehemaligen Sessellift – ihr seht, ich sitze auf der linken Seite. Links jetzt die schattigen Wälder und einige bizarre Felsen. Aber jetzt ist Schluß mit der Schreiberei! Ich will mich der meditativen Landschaftsbetrachtung hingeben.

Über den Himmel ziehen sich unzählige Kondensstreifen – würde mich interessieren, wer so signiert; vermutlich der ganz normale Wahnsinn. Fahrkartenkontrolle. Jetzt fällt mir ein: ich hätte einmal für ein ÖBB-Mysterie-Shopping einen Familienvater mit Frau und zwei Kindern mimen sollen – das wäre vielleicht noch gegangen - aber der noch dazu sein Auto mit dem Autozug nach was-weiß-ich-wohin versenden wollte – das ging nicht! Dieser Anforderung war ich nicht einmal schauspielerisch gewachsen. Da bin ich aus der Studie ausgestiegen. Übrigens: es herrscht herrlich sonniges Wetter. Und ich vermute, wir sind bei Fronleiten. Nein, noch nicht. Peggau/ Deutschfeistritz (im Unterschied zu Slovenski oder Ilirska Bistrica). Das stellenweise schluchtartige Murtal zwischen Graz und Bruck (oder umgekehrt). Jetzt habe ich die Mur links. Jetzt Fronleiten. Die beschissenen Lärmschutzwände stören. Sollen sie halt nicht zur Bahn hin bauen! Kalk, Zement, Müllentsorgung, Papier. Ah, wieder die Mur! Im grobm do scheint koa sunn. Eindrucksvolle Felsformationen. Die besonnten Wälder strahlen rötlich. Viel niedergeschnittenes Buschwerk am Murufer. Schneereste. Alte Gebäude neben denen Autos stehen – das tut den Augen weh. Eine gewisse Weite im Tal. Pernegg. Irre geformte Hügel. Erinnerung an einen hier absolvierten Rausch vor vielen, vielen Jahren (Wußte damals nicht, wie der Ort heißt, wo ich hin wollte; mußte das erst mit kompetenteren Fahrgästen ausdiskutieren und von Peggau nach Pernegg nachzahlen). Die gnadenlosen Straßenbauten. Kilometerlang schnurgerader, betonierter Strassenunterbau. Die Mur aufgestaut. Wir nähern uns Bruck an der Mur. Die Sonne scheint mir in dieser Kurve ins Gesicht, dann verschwindet sie hinter diesen bizarren Hügeln im Westen. Die Schlote und Dampffahnen von Bruck. Die Brücken schon vor Jahren reduziert. Der Bahnhof um zwölf Uhr Mittag. Mein Blick verliert sich in den typischen bahnhofsnahen Bauten und ihren gläsernen Durchblicken. Leute warten auf den Zug nach Villach, wir jedoch fahren weiter. Fabriken, dieses unerträgliche, unmögliche Gestellhafte! Das entwertet auch die wilde, chaotische Ufervegetation der Mürz. In dieser Tonart wird es das Mürztal hinauf weitergehen. Eine industriell eingeklemmte Kirche, fünf nach Zwölf. Kapfenberg. Ein Gegenzug fährt durch. Was war mit Triton? Ich habe die antike Gestalt vergessen, jetzt taucht sie öfters als Name auf Containern auf. Ist das Tal schön oder nur eigenartig? Mein Geist ist sonnenlicht- und eindrucksbenebelt. St.Marein/ St.Lorenzen; in beiden Orten war ich mal auf Party. Auf letzterer (Musik: nettesac redrocker) sehr, gar sehr betrunken. Ein interessanter flacher, interessant streifenweise bewaldeter Hügel. Das Tal wird auf langer Strecke von einer hellgrünen Lärmschutzwand durchgestrichen. In Kindberg taucht auch auf den Bahngleisen Schnee auf. In der Mürz ein einzelner Schwan. Der Mürzverband klärt Abwässer. Der Zug schleicht über die Mürz in den schattigen Schlurf. Das Bauernhaus auf der Leiten nicht unsympathisch (von der Weiten). Veitsch? Immer wieder diese hässlichen Industriebauten und ihr hässliches, hingeschmissenes Environment. Manchmal eine erholsame Baumgruppe im flachen Talboden, bevor sie von thujenbewehrten Gehäusel abgelöst wird. Die Eindrücke gehen sich alle nicht aus. Geräte, Gestelle, Baumaterial. Die Spazierwege durch die übrig gebliebenen Auwäldchen auch heimatschutzmäßig mißbraucht. Langenwang. Der Wald entlang des Bahndamms niedergelegt. Die Schneedecke wird stärker und geschlossener. Metallschrott. Oststeirisches Gekicher im Abteil. Mürzzuschlag. Die Zersiedelung klettert die Hänge hinauf. Und nun die Semmering-Basis-Tunnel-Baustelle. Da schau! Ein Schneemann hat sich gehalten. Spital am Semmering (wer ist hier krank?). Wir rollen ruhig den Berg hinan. Holzstapel am Waldesrand. Tunnel (wir betonen auf e). Wir fahren scheint’s nur mehr in Spiegelungen. Und schon oben, wo der Zug nicht stehen bleibt. Von nun an geht’s bergab. Der Eingang zur Unterführung unter die Bahntrasse wirkt wie der betonierte Einstieg in die Unterwelt. Tunnel. Der Wald in Bahngleisnähe gerodet. Die grünen (braunen) Schluchten des Semmering (noch keine Dämmerung). Aber Felsen. Viel winterliches Baumgestänge. Birken – ein ganzer Streifen entlang des Bahndamms. Ein leerer Feuerwehrschlauch hängt von einem Baum herab, läuft weiter über den Waldboden und geht unter den Bahndamm durch und verliert sich irgendwo im Wald (so weit ich sehen kann). Viele umgeschnittene Birken. Die große Kurve von Peyerbach (Reichenau hat sich bloß arrogant angehängt). Alles aper. Über Schlöglmühl auf Gloggnitz zua … das Schloss und die Ausstellung vor über einem viertel Jahrhundert (meine Frau zupft an meinem Gewand). Ohne Schnee ist der Winter eher hässlich; einzelne Bäume oder Baumgruppen stehen aber wunderschön da. Ein Flugzeug steht in der Luft.


(30.12.2023)


©Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3499 Vollkommene Stille

 



3:28 a.m. Vollkommene Stille. Ich seufze tief und erleichtert auf. Ich höre auch meine normalen Atemzüge. Irgendwo draußen jenseits der verwinkelten Altstadthinterhöfe fährt etwas und bleibt doch nur ein undeutliches, fernes Geräusch, das sofort wieder verklingt. Auch die Vorhänge, auf die ich durch meine Brille schaue, verschwimmen. Alles ist unglaublich aufgeladen – ich weiß nicht, ob von dem vielen Potential oder von den vielen Erwartungen. Verlegen blicke ich in das Hotelzimmer. Alles scheint möglich. Genau genommen gibt es nichts zu sagen. Die Uhr tickt verhalten. Die Zeit vergeht. Der Augenblick verweilt nicht – mir kommt vor, er hätte es können. Immer wieder meine tiefen Atemzüge dazwischen. Das Surren in den Ohren gibt sich als das Wesen der Stille aus. Ist es jedoch der Nachhall des täglichen Lärms da draußen? Ich weiß es nicht und will es gar nicht wissen. Es ist da und das genügt mir jetzt. In frommer Müdigkeit fallen mir die Augen zu. Ich will meinen Wachposten nicht aufgeben. Selbst das rote Licht am Rand des Fernsehbildschirms irritiert mich nicht. Ist die empfundene Dichte draußen? Ist sie drinnen? Ist sie räumlich? Ist sie zeitlich? Kommt sie aus einer anderen Dimension? Ist sie wie ein Kraftfeld zwischen den Dingen und Wesen?


(30.12.2023)


©Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3498 Basilica Minor

 



Linker Hand meine liebe Frau und die Basilica minor (seit 1999) Unserer Lieben Frau zu Maria Trost, rechter Hand die wintergesperrte Stiege hinunter in die Täler der Dualität sitze ich, sitzen wir in der warmen Wintersonne, der unvermeidliche Verkehrslärm rauscht herauf, optisch ist die Straße von hier nicht einzusehen (prinzipiell bleibe ich da auch uneinsichtig). Die Vögel zwitschern (Meisen?), die Bäume schlagen nicht aus, meine Glatze ungeschützt der Sonnenstrahlung preisgegeben. Meine liebe Frau schließt genüsslich die Augen, ich bleibe unruhig. Ach! Hinter einer Föhre sehe ich jetzt doch halb verdeckt ein Stück graue Straße über die ein Auto nach dem anderen fährt. Ein völlig schwarzer Hund zieht einen völlig schwarz gekleideten Mann an der Leine, dem wiederum eine Frau in rot folgt. Kirchplatz 3 steht über der Haustür des Pförtnerhäuschens gegenüber. (Kirchplatz try; Kirchplatz dry.) Die Schatten des aufwendigen alten Fenstergitters am alten Fenster rechts am alten Kirchengebäude (oder angebautem Kirchennebengebäude) machen sich auch nicht schlecht an der Hauswand in ihrer bläulich-grauen Linienführung. Am Fassadenvorbau des Kirchendaches natürlich die typische Spirale der mitteleuropäischen Gegenreformation. Jetzt lenke ich meine Aufmerksamkeit auf alle Schatten, die ich entdecke: die der Blendsäulen, die der an die Wand gelehnten Dachlawinenwarnstäbe, die schon sehr zershatterten der kahlen Baumäste an der Kirchenwand, den meiner rechten Schreibhand inklusive dem des Pilotstiftes auf der Notizbuchseite, den geschnörkselten des Stiegengeländers, den großen, flachen des Pförtnerhäuschens (jetzt eine öffentliche WC-Anlage) auf dem gepflasterten Vorplatz, den der Sitzbank, auf der ich sitze (wenn ich den Kopf drehe, kann ich ihn sehen), die der Heiligenfiguren in den Nischen der Kirchenfassade, und da besonders den der Spitze eines Stabes, den die rechte Figur in der Hand hält; der sticht so deutlich hervor; die bewegten der PassantInnen - Zizibee! - die zackigen der Stufen zum Portal. Unten fährt eine Straßenbahn in ihre Endstation ein, die wieder zur Startstation einer neuen Tour wird. Jetzt starre ich auf die Schatten auf meiner linken Handfläche, die ich links von meinem Notizbuch in die Luft und ein wenig in die Sonne halte. Das Hauptportal schlägt zu. Meine Lebenslinien kann ich nicht lesen.


(29.12.2023)


©Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 28. Dezember 2023

3497 Ich trinke den Tee aus

 



Auf der Couch im Hotel-Salon (Lobby käme mir zu abwertend vor), neben dem wunderbaren Gemälde von Max Weiler. Vorm Fenster bereitet sich der Nachthimmel auf seinen Einsatz vor und läßt noch die dunklen, kahlen Äste der Muruferbäume ins grauglänzende Nichts greifen. Die Silhouetten der Häuser sind scharf wie Scherenschnitte, die Gebäude selbst nur mehr flache Dunkelheit. Ein Vogel fliegt schnell, ich nehme an in seinen Schlafbaum. Sanfter Bar-Jazz und beinah zur Unkenntlichkeit abstrahierter Verkehrslärm vermischt mit hausinternem Gerätegejammer. Ich drehe mich zum wunderschönen Weilerbild (1990) – so wunderbare Farbballungen, dunkel, intensiv, dicht im linken Randbereich; locker, hell und erfrischend im zentralen Bereich, dass einem das Herz aufgeht (mir zumindest).

In der zunehmenden Dunkelheit draußen spiegelt sich das innere Licht – will sagen: die leuchtenden Stehlampen des Salons in den Fensterscheiben. Und jetzt zum Tee.

Mehr möchte ich über das herrliche Weilerbild nicht schreiben, aus Angst alles zu verderben. Draußen gehen Leute, manche schauen herein, während ich hinausschaue. Vorm großen Spiegel eine mehrfach blühende Blume in großem, hellgrün glasiertem Blumentopf. Das Saxophon beklagt sich unaufdringlich und dezent – der moderne Mensch in der ausgeleerten, modernen Welt (immer noch besser als die beliebig vollgestopfte Postmoderne). (Aber so streng bin ich auch wieder nicht. Man muß nehmen, was da ist.) Die Straßenbahn jault eindringlich vorbei, bevor sie abbremst. 3 Andritz. Jetzt klimpert das Klavier höflich verhalten und zurückgenommen. Nun wieder das Saxophon, vom gezupften Bass bestätigt. Blau blinkendes Tatü rast vorbei. Es ist ganz finster geworden. 3 Andritz. Zu meiner Kastner&Öhlergeschichte vor 46 Jahren fällt mir der Begriff „Überschlagshandlung“ ein. „30 Jahre VinziDorf“ fährt Richtung Puntigam vorbei. Vorgebeugt sehe ich den angestrahlten Turm der Mariahilferkirche. Manche Passanten schauen beim Fenster herein, während ich von der Rückwand des Salons aus hinausschaue. Fast alle Männer tragen Hauben. Den Pianisten auf dem Tonträger, der in seiner zurückhaltenden Bescheidenheit beinah vergißt weiterzuspielen, treibt der Bassist mit seinen sanften, aber bestimmten Gezupfe wie in zarten Schlägen weiter. Ich trinke den Tee aus.


(28.12.2023)


©Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3496 Der Himmel über dem Weihnachtsmarkt

 



Ich sitze in einem kleinen Café am Fenster, schaue raus auf das kleine Riesenrad in einem dieser überkitschten Weihnachtsmärkte und bewundere die feine, dünne Wolkenmalerei am Himmel: wie mit gekonnt absichtslosen Pinselstrichen ist das dünne Weiß über das ansatzweise schon dunkelnde Blau lasiert. Die kahlen Bäume am Murufer und eine gitterhafte ausgeschaltete Weihnachtsbeleuchtung auf einem noch nicht eingeschalteten Lichtmasten heben sich umso deutlicher ab; und wenn ein Vogel durchs Ambiente fliegt, dann auch der. Nicht als Kontrast, aber deutlich sichtbar ziehen sich die Kondensstreifen der Flugzeuge durch das atmosphärische Gemälde, das sich zunehmend auflöst und immer mehr Himmelsblau schwächlich, aber doch überdeckt. An manchen Stellen ist das Weiß der Wolken dunkler und grau geworden. Das kleine Riesenrad dreht sich, das Ringelspiel weiter drüben noch nicht. Aber es blinkt und leuchtet alles schon provokant auf fröhlich und künstlich. Das Ringelspiel dreht sich jetzt auch und der Minizug ist auch schon gestartet. Ich stehe nicht an zuzugeben, dass das Ganze hier vergleichsweise bescheiden ausfällt und die Eindrucksüberlastung vergleichsweise gering. Vergleichsweise! (Ich bin noch ohne Auto, ohne Fernseher, ohne Comics aufgewachsen.) Die grauen Wolkenteppiche, tendenziell ein V bildend, haben sich quer zu den weißen Wolkenstreifen über diese gelegt. Das Blau ist fast völlig verschwunden.

Und nun ist das Blau neuerlich flächenmäßig erstarkt, ohne seine Zartheit zu verlieren – obwohl im tiefen Hintergrund schon die Dunkelheit ahnbar wird. Die grauen Wolken sind zum Horizont herabgesunken und das Weiß ist nur mehr schleierhaft. Ein paar Kondensstreifenreste sind noch Verdichtungen, die dabei sind sich aufzulösen.


(28.12.2023)


©Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3495 Das Zimmer verlassen

 



Ich sitze im Bademantel auf dem Bett im Hotelzimmer, ein Handtuch auf dem Kopf wegen der nassen, noch nicht rossgeschwänzelten Haare; die Füße in Wollsocken, auf dass sie nicht kalt werden und dämmere vor mich hin, wie es auch der Tag bald tun wird. Still ist es hier am Fuße des Schlossberges inmitten der Stadt; punktuell dringen auch Sonnenlichtflecken herein: einer auf dem Gazevorhang südseitig (genau: 166° Süd), ein paar glänzen auf dem Messingbilderrahmen, vom kleinen Nordfensterchen her beleuchtet – über wie viele Spiegelungen weiß ich nicht. Dann ist auch innen Funkstille, oder lediglich ein Patt der verschiedenen Assoziationsketten. Die blau-gelb-braune Zeichnung gefällt mir, wiewohl immer wieder eine Gestalt in eine andere kippt (beim Betrachter induzierter Kippeffekt). Ich gehe nicht hin, um mir das genauer anzuschauen. Später dann. Immer wieder schleicht schwacher Lichtschein in den schattigen, sonnenunzugänglichen Hinterhöfen herum. Diese Gaze-Netz-Vorhänge machen mit ihrer vielfachen Faltigkeit auch interessante sinnlich betörende Licht-Schatten-Spiele. Die Lüftung im Bad surrt schwächer als es bei mir in den Ohren macht. Ich gehe jetzt zur Zeichnung. Zu meiner Freude entdecke ich auch gekonnt hingekritzelte weibliche Brüste. Die Signatur des Künstlers kann ich nicht entziffern; nur die Jahreszahl 1961 (Nachtrag: Peter Bischof, 1967). Ich glaube drei Frauen-, zwei Männer-Akte. Nein, vier Frauen. Vielleicht sind es auch drei Männer. Die Zeichnung gefällt mir immer mehr. Vielleicht sind es auch acht oder neun nackte menschliche Gestalten. Und jetzt heißt es aufbrechen und das Zimmer verlassen.


(28.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 22. Dezember 2023

3494 Der Christbaum ist gekommen

 



Es ist winterlich düsterer Nachmittag, ich habe eine Zeitung durchgeblättert und warte auf die Christbaumlieferung, die – möglicherweise – heute um vier Uhr stattfinden könnte. So genau weiß man das nicht. Die Zeitungslektüre hat mir nicht gut getan, ein übler Nachgeschmack von Leere und Überdruß bleibt zurück (ich mußte im veralteten Österreichischen Wörterbuch nachschauen, ob man „Überdruß“ mit scharfem S schreibt; anscheinend setzt sich bei mir langsam die neue Rechtschreibung durch – aber noch wehre ich mich außer beim „dass“). Ich bemühe mich so eine Art inneres Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, nichts leichtfertig aufzuwühlen, mein labiles System nicht sinnlos ins Wanken zu bringen, nirgends gedankenlos anzuecken und meine ängstliche Seele nicht allzusehr zu verstören. Ich starre in die leidlich weiße Wand und registriere die an der Stelle, an der mein Blick auftrifft, erscheinenden optisch fragwürdigen Gestalten und Formen. Die Bewußtmachung vertreibt sie wieder. Ich wiederhole das Narrenkastlspiel. Es funktioniert nicht mehr richtig (es merkt die Absicht und ist verstimmt). Ideenlos zupfe ich an der papierenen Etikette auf dem Pilotstift herum, die schon jahrelang dranklebt, bis ich sie endlich vorsichtig und ohne sie zu zerreißen ablöse. Übrigens: „ich“, das ist der, der händisch ins Notizbuch schreibt; „der Eintipper“ ist der, der den handgeschriebenen Text in das Laptop tippt (da muß er sich wieder mit seinen unnötigen Ansagen wichtig machen; noch dazu im falschen Text; das hätte wenn schon dann eher in den vorigen gehört! - der Eintipper). (Halt! Geschwindelt! Das hat der „ich“ von vornherein selber händisch ins Buch notiert! Das giltet nicht! - der Eintipper!)

Ah! Der Christbaum ist gekommen. Ganz pünktlich um vier Uhr. Ich befreie ihn von seinem Netz. Der Geruch ist schon mal nicht schlecht. Und wie er die Äste ausbreitet: prächtig.

Auf der einen Seite bleiben die Zweige von der Netzgefangenschaft noch nach oben gebogen und es ist unglaublich, wie groß meine Hemmung ist, in diesen natürlichen Vorgang (das Ausbreiten der befreiten Äste des Baumes) einzugreifen. Ich müßte mir sicher sein, dass der Baum meine Hilfe will. Es fällt mir auch schwer, den Baum im Wissen, dass er ein Lebewesen mit Bewußtsein ist und jetzt stirbt, arglos anzuschauen. Aber das werde ich schon noch zur Seite schieben; nur in stillen Momenten kommt es mich an (und solche wird es in den nächsten Tagen wenige geben).

Ach ja! Zehn Minuten später habe ich doch an dem Baum herumgezupft und herumgegriffen, ohne Hemmungen und meine vorgegebene Sensibilität war schon perdu.


(22.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3493 Gesundheitskassenzahnambulatorium

 



8:29 a.m. Ich bin seit 6:12 auf. Der leidige Zahnarzttermin. Vorher fünfzig Drohmails, dass ich den Termin um 8h ja nicht vergesse und ja hinkomme. Als ich hinkomme stellt sich heraus, dass er ausfällt. Warum werde ich nicht vorher informiert? (Also: „Drohmails“ ist genauso übertrieben wie 50. Eine Erinnnerungsmail. Und nachträglich hat sich herausgestellt, dass die einen Fehler in seiner Telephonnummer hatten, deshalb hatte der Absageanruf nicht geklappt. Wer schuld an dem Fehler ist, kann ich nicht sagen – der Eintipper) Das war also der Acht-Uhr-Parodontose-Beratungstermin. Um 10:30 habe ich noch einen normalen Behandlungstermin bei der Zahnärztin im selben Haus (ÖGK-Zahnambulatorium). Die Dame am Schalter meinte es gut mit mir und schickt mich gleich zur Zahnärztin, damit ich nicht umsonst so früh gekommen bin. Ich von mir aus – brav, demütig, fügsam und handsam wie ich bin - wäre einfach gegangen und knapp vor 10:30 wiedergekommen. Ich freue mich aber über das freundliche Entgegenkommen und über die sinnvolle, kundenfreundliche und unbürokratische Vorreihung - nicht ohne die Dame vorher noch sicherheitshalber darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass der Termin erst um 10:30 ist - und steige die Stiegen in den ersten Stock hinauf. Dort werde ich aber angepflaumt, warum ich zweieinhalb Stunden zu früh komme. Jetzt zucke ich aus (und das verheißt nie was Gutes – der Eintipper), denn ich habe eine Vorreihung doch überhaupt nicht eingefordert, sondern bin nur brav der Anweisung der Dame unten gefolgt. Aber das ist mir jetzt zu viel! Ich komme mir vor wie ein Ochs, den die einen mit „hä! hä! Hä!“ in die eine Richtung, die andern mit „du Trottel! Marschier gefälligst in die andere Richtung!“ wieder zurück treiben. Das ist der Unverschämtheit zu viel. Ich schreie herum, nenne das hier einen Sauhaufen, wo die eine Hand nicht weiß, was die andere tut, und sage noch anderes, das ich schon wieder vergessen habe. Kurz: ich rege mich furchtbar auf. (Wie immer ist das sinnlos und im Nachhinein stellt sich heraus, dass er sich zum Deppen gemacht hat – der Eintipper.)

Ich sitze jetzt im Versuch, mir irgendwas Gutes zu tun, im überteuerten Innenstadtkaffehaus und will so die Wartezeit bis zum Termin um 10:30 absitzen. Ich kann mich kaum beruhigen. Ich hasse die Welt. Ich kann mich selbst in ihr nicht mehr aushalten. Die Zeitungslektüre hat nichts geholfen. Ich bin auch hier schon nervös und angespannt, weil ich befürchte, schon zu lange bei meinem einen Cappuccino zu sitzen – schließlich wollen die hier auch ein Geschäft machen. Mit mir ist aber kein richtiges Geschäft zu machen. Ich schaue nun zum Fenster auf die Straße hinaus (auch das noch! Als schlechter Kunde auf einem begehrten Fensterplatz sitzen!) und beobachte flüchtig, schlampig, unkonzentriert und undeutlich die Innenstadtpassanten, alle die, die es anscheinend oder scheinbar geschafft haben. Ich habe es nicht geschafft. Naja, ich werde dem Schuldgefühl nachgeben und den Ort wechseln; ein wenig bleibe ich noch, trinke noch aus, dann werde ich die Wartezeit auf den Straßen der Stadt abgehen, wie es Leute wie mir zusteht: raus aus dieser Komfortzone, in die du dich geschwindelt hast, als Dalit ist dein Platz im Öffentlichen draußen vor der Tür. Ich versuche mein Selbstmitleid – hinter dem immer Selbstüberschätzung steckt – in den Griff zu bekommen – es gelingt nicht.

Gut, ich seh schon: ein Passant hat gerade geschluckt. Keine Speise, keinen Trank, sondern die Angst vielleicht oder Unsicherheit. Ein anderer wollte gerade etwas zu sich selber sagen – eine Aufforderung, einen Befehl sich zusammenzureißen zum Beispiel – aber als er mich hinter der Fensterscheibe sieht, wie ich hinausschaue, versucht er sofort seine Mundbewegung zu stoppen. Einer schaut mit gesenktem Kopf zu Boden, so, als könnte er nicht mehr anders. Einer fletscht seine Zähne, als würde er sich auf einen Kampf vorbereiten wollen, in den er jetzt hineingehen muß und der ihn überfordert. Na und?! Weil die andern auch leiden, leidest du weniger? Das hilft mir auch nichts!

Eine Frau (die Frauen sind mir meistens zu schnell um sie zu erfassen) trinkt im Gehen aus einem Coffee-to-go-Becher, auch sie schreitet tapfer in bewußter Vermeidung der andrängenden, angstgesteuerten Hektik in eine für sie unhaltbare Situation in der Arbeit zum Beispiel und will sich so dafür noch rüsten. Manche Passanten schauen drein, als würden sie gleich losheulen. Die sich in ihren Autos verstecken und abschotten sehe ich natürlich nicht. Die würde ich gerne aus ihren Sicherheitscontainern herausholen und verprügeln. Schließlich finanzieren wir Steuerzahler ihren Psychopanzer mit und bezahlen die Folgen ihres destruktiven Verhaltens. Eine Frau schaut im Vorbeigehen beim Fenster herein, sieht mich und ihre Augen verraten: sie hat Angst. Ein junger Mann träumt sich im Gehen in eine andere Wirklichkeit - ich sehe es an seinem zu Boden gerichteten Lächeln. Ich muß hier raus! Regnet es jetzt?

Jetzt sitze ich im Freien Am Gestade, fast umzingelt von Christbäumen. Die frühneuzeitlichen Häuser vor mir: warum wohne ich nicht darin? Würde mir zustehen. (Ja wer weiß, wie es sich darin wohnt.) Die dünnen weißen Wolken jagen über den Himmel, sogar mehrschichtig, die niederen schneller als die höheren, aber mein Verbitterung kriege ich trotzdem nicht los. Der Wind zupft und zerrt an den Bäumchen und an ihren papierenen Markierungsstreifen. Oh mein Grant! - will nicht und nicht aufgeben! Eine Krähe schreit zornig. Die Müdigkeit nach einer schlecht verschlafenen Nacht kommt jetzt. Vielleicht läßt die meinen Grant versiegen. Dreiviertel Zehn schlägt die Uhr von Maria am Gestade. Beim polnischen Institut geht ein Fenster auf. Ich pisse auf den Katholizismus! Auf Evangelische und Konsorten sowieso. Ahja! Am Hintern wird mir auf der Sitzbank kalt und ich werde bald aufs Klo müssen. Also doch klein beigeben und demütig mit gesenktem Haupt und eingezogenen Schwanz zum kranken Gesundheitskassenzahnambulatorium schleichen.

Nun sitze ich im ÖKG-Zahnambulatorium und betrachte am Bildschirm die verkündeten Coronaregeln und die Wetterprognose für den 20.10.2020 (sic!). Ja, das haben die nicht geschafft, den Scheiß auf den neuesten Stand zu bringen oder wenigstens – das wäre noch besser – diese Belästigung abzuschalten. Zimmer 113; Uranus-Neptun: die versunkene Wahrheit. Heute bilde ich mir ein, dass ich das bin: eine versunkene Wahrheit. Mein Grant läuft natürlich ins Leere, bewirkt nichts, bringt nichts, kann nichts, vielleicht geht ihm bald die Luft aus. Ich lese am verhassten ÖKG-Infobildschirm, dass demnächst die elektronische Gesundheitsakte ELGA eingeführt werden soll und sehe das Grinsen in Zeitlupe einer Frau Doktor Soundso, die etwas ganz Wichtiges zu sagen hat. Die Wetterprognose bezieht sich jetzt auf den 25.10.2020 (sic!) (Essling: 12 Grad). Und dann wieder ganz banale, grausliche, demütigende Werbung - und man kann so einen Bildschirm im Gesichtsfeld kaum ignorieren. Ich halte meinen Kopf weggedreht, aber an den Rändern meines Gesichtsfeldes zuckt und zappelt es ständig und irgendwann verliere ich die wache Aufmerksamkeit und meine Beherrschung und schaue unwillkürlich und ungewollt hin. Ich ertrage die Welt nicht mehr und mich nicht darin. Diese östlich-südlich-orientalische Frau, die so taff und selbstbewußt ausschaut, und dann mit übertrieben hohen Stimmchen den Mann daneben anzirzt! Verdammt! Ich wer’s nicht los! Ich werd’s nicht los! (diesen letzten, verdoppelten Satz habe ich von Chlodwig Poth gestohlen). (Und andere wartende Kunden als die zwei sind jetzt nicht da.) In Graz wird es am 15.10.2020 (sic!) 9 Grad haben.

Natürlich hat das Ganze damit geendet, dass ich mich für meinen Auszucker oben und unten (zu ebener Erde und im ersten Stock) entschuldigt habe. Brav, handlich und in verlogener, verquälter Bescheidenheit habe ich gesagt, dass es mir leid tut. Ich komme mir jetzt ganz deppert und wie ein Volltrottel vor (das war bei seinen Auszuckern schon immer so; aber er merkt sich’s nicht! - der Eintipper). Mit solchen Aktionen gewinnt man keine Millimeter Terrain – im Gegenteil, man verliert.


(22.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 21. Dezember 2023

3492 Ich fürchte mich vor Weihnachten

 



10:40 a.m. Ich muß das Bad putzen. Heute. Sonst ist es zu spät für Weihnachten. Mir ist schlecht vor Aufregung und Stress, morgen früh noch den finanziell ungeklärten Zahnarzttermin. Meinen Lebensausklangstrott will ich nicht aufgeben und mag es überhaupt nicht, wenn er gestört wird (für nichts und wieder nichts). Jetzt ist es eindeutig: ich habe mich vor Angst ins Bett geflüchtet und will vor Angst nicht aufstehen. Ich zittere innerlich. Bei der Angst vorm Badezimmerputzen geht es auch um die Angst vor Kreuzschmerzen (momentan geht’s grad). Und beim Zahnarzttermin geht’s nicht nur um das verhasste frühe Aufstehen, sondern dass ich eventuell eine vereinbarte Behandlung absagen muß, wenn sie nicht von der Krankenkasse (bei mir ist die seit der türkisblauen Reform erst recht krank) abgedeckt wird. Das war nämlich bei der Vereinbarung unklar und ich habe mich unter zahnärztlichem Druck zum Einverständnis breitschlagen lassen. Ich halte das alles kaum noch aus. Frühstücken wäre als Stärkung von Seele und Leib nicht schlecht, aber auch da habe ich den Stress, ob und wann ich die Tageskinder und die Tagesmutter bei ihrer Arbeit störe, wenn ich unten auftauche, und ob ich eine anständige Hose anziehen muß und nicht die weite, bequeme, warme, schon ein wenig desolate und von einem fürchterlichen dicken Knoten vorm Bauch so halbwegs gehaltene Yogahose (die mir eh meine Yoginifrau geschenkt hat!). Und ob ich vorm Runtergehen das Gebiss reingeben muß, was ich beim Frühstücken gar nicht mag, da die Plastikplatte am Gaumen das Schmecken hindert und das schlecht sitzende Gebiss schnell schmerzt, weil irgendwas unter das Zeug rutscht. Nein, ich will meine Kemenate nicht verlassen, meinen Fluchtort, mein Versteck, mein Asyl; dort, wo ich bei mir sein kann. Und vor Weihnachten fürchte ich mich auch, mehr denn je. Dabei liebe ich dieses Fest.


(21.122023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3491 Floskelautomat

 



2:43 a.m. Die Zeit vergeht, doch nicht der Schmerz wollte ich gerade schreiben aber da ist wohl so ein extern installierter interner Floskelautomat losgegangen. Also: ungültig! Dieser erste Satz ist ungültig! (Die Uhrzeit stimmt.) Ich bin jetzt schon nervös, weil ich in 29 Stunden einen Zahnarzttermin habe, aber nicht, weil ich mich vor der Zahnbehandlung besonders fürchte (ich bin schon als Volksschulkind alleine zum Zahnarzt gegangen), sondern weil die Situation unklar ist und ich ganz früh aufstehen muß. Ich rege mich jetzt schon darüber auf, wie das mit der Bezahlung ablaufen wird, obwohl mir meine Erfahrung sagt, dass es immer ganz anders kommt als vorhergesehen. (Erfahrung: „Peter! Es kommt immer anders, als du denkst! Meistens lullen sie dich gekonnt ein.“ Ich: „Ja, meistens wird alles weniger elegant und weniger sexy, um nicht zu sagen: schwächlicher. Ich wehre mich dann nie und schrei dann meistens nicht wirklich voller Wut herum und hau niemandem in die Goschn.“) Weil der Husten mich wieder heimsucht, habe ich wieder eine halbierte Zwiebel aufs Nachkastel gelegt und der Hustenreiz hat sofort nachgelassen. Das ist eigentlich alles. (Den letzten Satz habe ich von Daniil Charms gestohlen.)


(21.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 20. Dezember 2023

3490 Der Punch

 



10:38 a.m. „Lassen Sie sich durch nichts vom Schreiben abhalten!“ Aber was? Ah, danke: jetzt kommt heftiger Wind auf; da wird es im Bett besonders gemütlich. Der Wind braust um das Haus und erzeugt seine beim genauen Hinhören recht eigenartigen Geräusche. Brummen? Dröhnen? Heulen? Wir bleiben bei „Brausen“.

Der Wind hat sich wieder gelegt. Ein paar Regentropfen am Fenster, eine unidentifizierte, aber ausdauernde Baumaschine aus der Nachbarschaft. Von unten die lebhaften Stimmen der lebhaften Tageskinder. Zack! Plötzlich taucht ein Erinnerung auf – ohne jeden erkennbaren Zusammenhang mit dem Gedankenstrom davor – und trifft mich ganz stark in der Körpermitte. Aber gleich darauf hat sie sich wieder aufgelöst und ich verstehe den emotionalen Punch vorhin nicht. Ich versuche, die Szene zurückzuholen um zu verstehen, was sich da abgespielt hat. Aber mein Geist verliert sich und geht wieder woanders hin.


(20.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3489 „ Alois, wir vergessen dich nicht!“

 



Es ist ja so, dass meine Vergeßlichkeit immer ärger wird. Heute zum Beispiel, wie ich zum Frühstück hintergehen will, denke ich mir: ich nehme die Kalebasse … nein, wie heißt das schnell? … die Karaffe und das Glas, lege sie in den Wäschekorb, trage diesen mit jenen hinunter, weil ich ja heute Waschtag habe und bereite mir unten das Frühstück. Wie ich unten war – nur einige Sekunden später, bemerke ich, ich habe zwar Kaleb … Karaffe und Glas mit, aber nicht den Wäschekorb mit der oberen Schmutzwäsche. So geht das. Und abgesehen davon hatte ich immer ein Chaos in meinen Erinnerungen und meinen historischen Fakten (Wie war das? Wann war das? War das zuerst oder das andere? Oder habe ich es nur geträumt?).

Eine meiner Töchter borgt sich manchmal ein Hemd von mir aus. Meistens vergesse ich das, aber es kann schon sein, dass mir eines Tages, irgendwann, irgendwo, irgendwie so ein Gedanke kommt wie: ich hatte doch so ein Hemd? Ein recht buntes, wo habe ich das hingetan? Dann kann es sein, dass ich es suche und nicht finde (auch in meinen Kleiderablagen herrscht Unübersichtlichkeit und Chaos). Dann kann es sein, dass nach ein paar Stunden oder Tagen eine vage Erinnerung auftaucht, dass ich es meiner Tochter geborgt haben könnte, hmm, da war doch was (oder habe ich das nur geträumt? Oder war das früher einmal? ein anderes Hemd? Oder bilde ich mir das nur ein?). Sicher also bin ich mir meistens nicht. Na gut, ich könnte ja nachfragen. Beim nächsten Kontakt – wenn ich es bis dahin nicht wieder vergessen habe – kann es dann schon sein, dass ich frage: „Könnte es nicht sein, dass du von mir noch ein Hemd hast?“ Vorsichtig frage ich das, denn es ist schon vorgekommen, dass ich es ihr geschenkt hatte und genau das wiederum vergessen.

Letztens in der Kälteperiode ist mir ein besonders warmes Winterhemd abgegangen. Beim nächsten Familienessen frage ich meine Tochter, ob sie noch ein Hemd von mir hat. Die Kälteperiode war schon vorbei, deswegen ging es mir gar nicht darum, das Hemd unbedingt zurück haben zu wollen, sondern vor allem mein Erinnerungschaos zu ordnen. „Ja“, antwortet sie, „ich habe noch eins. Beim nächsten Mal bringe ich es dir mit“. Was sie dann noch genau gesagt hat, habe ich schon vergessen (oder sollte ich nicht mehr richtig zugehört haben?).

Bei einem Essen im erweiterten Familienkreis - nicht bei uns, nicht bei meiner Tochter - hat meine liebe Tochter das Hemd mitgebracht, in der Garderobe abgelegt, mich aufgesucht und ganz genau erklärt, wo sie es hinterlegt hat, auf dass ich es beim Nachhausegehen mitnehme. Das Essen ging – wenn ich diese schräge Floskel verwenden darf – seinen Gang und ich hatte das Hemd völlig vergessen. Meine Tochter verließ die Runde früher als ich und als ich beim Aufbrechen war – und ich trinke seit 20 Jahren keinen Alkohol! - war vom Hemd nichts mehr in meinem Bewußtsein. Den Gastgebern fiel später das zurückgelassene Hemd auf und nach einiger Recherche war ihnen klar: das muß mein Hemd sein. So bekomme ich nach ein paar Tagen eine Nachricht aufs Handy, dass ich mein Hemd vergessen habe und ich es jederzeit abholen kann. „Welches Hemd!“, denke ich mir, „ich habe dort mein Hemd doch gar nicht ausgezogen! Komisch!“ Aber auch da bin ich mir nicht wirklich sicher, wie gesagt: ich bin mir meiner geschichtlichen Fakten nie ganz sicher und rechne immer mit Überraschungen, als würde es einen Doppelgänger geben, der zeitweise an meiner Statt handelt und von dessen Eskapaden ich nichts genaues weiß. Ich schaue auf den Kleiderhaken und dort hängt das Hemd, von dem ich glaube, ich hätte es an besagtem Abend angehabt. Also rufe ich an und frage verwundert wegen dem mysteriösen Hemd nach. Nach einigem Hin und Her fällt mir doch die ganze Geschichte an diesem Abend wieder ein und dass mein Töchterchen das Hemd mitgebracht hatte und so weiter. Interessant: ich hatte nicht nur vergessen, das Hemd mitzunehmen, ich habe das Hemd selbst in seinem Wesen und mit seinen Ingredienzien, seiner Existenz und seiner Geschichte komplett vergessen.

Also fahre ich gestern am späten Nachmittag hin, um das Hemd abzuholen. Die U-Bahnen und Straßen sind völlig überfüllt und überrannt, die Sache selbst ist jedoch schnell erledigt, ich habe keine Zeit, weil ich noch Einkaufsaufträge abzuarbeiten habe („Mein Gott! Jetzt übertreibt er wieder!“ - der Eintipper), entschuldige mich für die Umstände, die ich gemacht habe (zumindest innerlich, falls ich es auszusprechen vergessen haben sollte) und bringe noch die lustige Geschichte von der Alois-Alzheimer-Gedenktafel an dessen Geburtshaus an, wo ein/e geniale/r Spaßvogel/vögelin hingesprayt hat: „Alois! Wir vergessen dich nicht!“ , eile dann in dem ganzen Weihnachtstrubel auf die Mariahilferstraße, kämpfe mich durch zur U3, als sie kommt dränge ich mich in den Waggon, der auch recht voll ist und wo alle Sitzplätze besetzt sind. Eine Frau will aufstehen um mir Platz zu machen, ich winke gnädig in jovial-großzügiger Geste ab, aber innerlich denke ich mir: „Verdammt! Schau ich wirklich schon so alt aus? Naja, mit dem Erfolg bei den Frauen ist es endgültig vorbei!“ (Ich sehe mich selber viel jünger als ich bin). Bei der nächsten Haltestelle steigen einige Leute aus und viele ein, es wird zwar kurz ein Sitzplatz frei, aber ich bleibe stehen. Ein Mann setzt sich auf den freien Platz und da er in mittlerem Abstand schräg mir gegenüber sitzt, schaut er mich an und nach ein paar Sekunden deutet er mir mich fragend, ob ich den Platz haben wolle. „Verdammt“, denke ich, „schon wieder!“ und winke freundlich ab. Dann aber gehe ich näher zu dem Mann hin, auf dass er meine Worte verstehen kann und sage: „Sie brauchen sich nicht schrecken! Ich schaue einfach sooo grantig drein!“ und grinse und er lacht auch unter seiner Maske.

Ach ja! Bevor ich es vergesse: das Hemd, das mir meine Tochter mitgebracht hat, war gar nicht das Winterhemd, das ich die ganze Zeit im Kopf hatte, wenn ich es im Kopf hatte, sondern ein weißes, das auch schon längst in meiner Vergeßlichkeit versunken war.


(20.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 19. Dezember 2023

3488 Nehmen was kommt

 



3:24 a.m. Also: Hallo! Ich bin putzmunter. Ihr schläft, ich bin wach. Ich bin der Nachtwächter. Ich beschütze den geistigen Raum. Zugegeben: ein bißchen blödle ich schon drin herum; ganz korruptionsfrei bin ich nicht. Zum Beispiel spiele ich während der asketischen Nachtwache Computerspiele. Eh nur zwei harmlose: Majong Festung und Solitaire. Dabei höre ich Musik über den Kopfhörer (heute: eine Live-CD von The Smiths). Jaaaa, und ein paar unnötige Krimis sind auch passiert (es gibt nötige und unnötige Krimis. Die unnötigen sind meisten die alten). Der Bettdeckenstaub hat sich beinahe schon gänzlich gelegt; nur mehr einzelne Stäubchen tanzen noch im Lichtkegel der Leselampe. Auch bei mir legt sich allmählich die Aufregung, die sich beim Wechsel des Aggregatzustandes – vom Schreibtisch übers Bad ins Bett – aufgebaut hatte.

Das ist jetzt schwer zu beschreiben: Am CD-Ständer, wo ich vom Bett aus die unterste der oberen CDs von unten sehe, weil ich die Spalten darunter frei gelassen habe – gehalten werden sie von einer Metall- – hm! Wie heißt das? - spange (?) … die sieht aus wie die Kontur eines Dreiecks ohne Hypotenuse … und die … und diese Unterseite mit den drei sichtbaren Metallspangen (eine vierte versteckt sich) – eine hält die CD, die zwei darunter sind leer und fügen sich optisch in das von mir gesehene CD-Unterseiten-Bild, das meine unscharfe Wahrnehmung zusammengefügt und ein wenig Richtung Gesicht verändert hat – sicherlich komisch, weil weiterhin eckig – aber irgendwie hat mir da mein Geist einen Streich gespielt – und auf einmal erscheint es so, als würde sich die dritte Metallspange - von oben gezählt - schon teilweise von der CD darunter verdeckt - bewegen und für den Bruchteil einer Sekunde (sagen wir ein Drittel bis höchstens die Hälfte) sehe ich darin ein eckiges Gesicht, das redend den Mund bewegt. Ich weiß, das klingt sehr weit hergeholt und ist nicht so wichtig wie ein Reissack, der in China umfällt, aber ich habe es gesehen. Ich mein, ich bin nicht dumm, ich weiß, dass das eine optische Täuschung war und noch dazu eine befremdliche. Und wenn ihr meine aufrichtige Meinung dazu hören wollt: eine richtig schlechte. Aber man muß halt nehmen, was kommt.


(19.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3487 Keine Sorge

 



10:57 a.m. Im Atelier kündigt sich ein sonniger Tag an, während hier in meiner Kemenate es nach einem grauen Tag ausschaut. Damit bin ich am Ende mit meiner Angeberei, aber mein Ego wird sich schon noch andere Vergnügungen finden. Keine Sorge.


(18.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3486 Endlich gähne ich

 



2:43 a.m. Und was jetzt? Die Ansage der Sprachbox läßt sich nicht abstellen und wiederholt den Satz immer und immer wieder und wie ich die geforderten Ziffern eingeben kann, weiß ich auch nicht. Ah! Jetzt hat sie aufgehört. Ich bin noch ganz aufgeregt. Maschinen lösen bei mir immer gleich Stress aus, und Panik, wenn ich mit ihnen nicht umgehen kann. Meinen Puls spüre ich in den Schläfen und am Hinterkopf. Meine linke Hand in verkrampfter Haltung, ich bemühe mich um Lockerung, jetzt spüre ich den Puls auch dort in der Hand. Im Schritt juckt es (obwohl ich ruhig liege). Jaaa! Jetzt kommt der tiefe Atemzug, ganz von selbst. Und schon wieder in irgendwelche Erinnerungen und Phantasien abgeglitten. Jetzt belehre ich jemanden und dann mich selbst. Das Ganze ist schon ein Spaß: dafür bleibe ich so lange wach! Nun spüre ich meinen Puls wieder großflächiger im Körper, mehr noch: als säße ich mitten in diesem Pulsieren und werde davon eingehüllt. Ein Kleinflugzeug fliegt über die Leopoldstadt hinweg. Kaum ist sein Lärm vorbei, fällt es mir schwer zu glauben, dass ich so etwas gehört habe. Irgendetwas in der gesamten Akustik scheppert wie ein loses Metallteil im Wind, aber dieses Geräusch – so will ich glauben – ist nicht von dieser Welt. Endlich gähne ich, heftig. Es ist Zeit zu schlafen.


(18.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3485 Meditation über Dalei Lama

 



Ich sitze mit meiner lieben Frau in der Lucy-Bar im Belevedere 21 und reflektiere über die Nächstenliebe des Dalei Lama, die er angeblich (sagt meine Frau) auf die Frage, wie er denn Nächstenliebe ausübe, so erklärt habe soll: wenn ich furze beuge ich mich so zur Seite, dass der Furz in der vom Nebensitzenden weggehenden Richtung gelenkt wird. Daleilei Lama wäre kichernde-kärntnerische Inkulturation und Leider Lahmer eine bösartige Frechheit. Diese Nächstenliebe hat schon was, wiewohl auch der oberösterreichische Spruch gilt: „a hustata schoas und sBett wird hoaß“. Ich gebe ja zu, dass ich Kaffee getrunken habe und mein Geist deshalb ein wenig ausufert (Kaffee ist eine Droge!). Und dann noch die Geschichte von den zwei Mantrasängern, die vorm Dalei Lama singen durften (hat mir auch meine Frau erzählt) und nach der Zeremonie durften sie vor Seiner Heiligkeit erscheinen und diese hat sich bei den zwei Mantrasängern bedankt und ausgedrückt, wie sehr ihr ihr Gesang gefallen hat. Beim Hinausgehen sagt dann der eine Sänger zur anderen: „Whow! Unser Gesang hat Seiner Heiligkeit gefallen!“ worauf die andere antwortet: „Dem Dalei Lama gefällt alles!“

Wunderbar, dann bin ich ja auf Facebook mit meiner Klickerei auf daleilamischen Spuren! Wenn ich wohl auch eher eine Heuligkeit bin.

Die Architektur des Zwanzgerhauses: funktionale, moderne Schönheit. Ein echter Stil im Gegensatz zum postmodernen Architekturgepansche und Architekturgekritzel (der Architekt kritzelt auf seiner Architekturzeichnung herum und macht ein paar zusätzliche Striche und die Bauarbeiter müssen dann diese Angeberstriche als metallene Dekoration oder in Plastik auf das Gebäude montieren). Angenehmer Bar-Jazz, Versinken in den Sesseln. Hier komme ich Modernitätsverlierer mir ganz modern vor. „Modern“ war bis höchstens in die Sechzigerjahre, vor der Verpopung, deren Folge auch solche neuen rechten, neoliberale Bewegungen sind (Superstar; David Bowie: „H. war der erste Popstar“). Ich gehöre auch zu den Popfans, obwohl mich deren optische und literarische Ästhetik immer etwas irritiert hat, während mir die Musik gefallen hat. Mit einem Fuß bin ich immer im vorkonziliaren Reformkatholizismus der Fünfzigerjahre hängen geblieben. Erlösung erst durch den strikten Anti-Drogen-Castaneda, die ich allerdings nicht durchgestanden habe. Lieber witzle ich über den Dalei Lama und gehe in Graz bis zum Restaurant Himalaya („Ironie ist ein Idealismus, der sich nicht traut“ Romano Guardini). Und jetzt kommt eine Passage in meinem handschriftlichen Notizbuch, die ich nicht mehr entziffern kann. Ich habe es schon gesagt: Kaffee ist als starke psychoaktive Substanz eine Droge, die bei mir solche postmodernen Texte bewirkt.


(17./19.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 15. Dezember 2023

3484 In weite Ferne

 



10:07 a.m. Sehr finster ist es hier in meinem Zimmer für diese Uhrzeit. Das Sirenensurren will mich weglocken. Die junge Katz’sche Frau starrt mich missbilligend an, die Lippen fest verschlossen. Meine Existenz steht inhaltlich und konkret wirklich auf schwachen Füßen. Mein Blick verliert sich jetzt links bei den Bildchen der Hausaltarwand und sieht nichts. Ein lichtglühendes Staubteilchen schwebt am Rand meines Gesichtsfeldes (ein ungewisses Terrain!). Mein Geist ist auch nicht so toll, wie er sich hinstellt. Ich muß kurz husten (fühlt sich an wie Wasser in der Lunge; allerdings weiß ich nicht, wie sich so etwas anfühlt, wenn man es denn überhaupt fühlen kann) und meine linke Hand hält krampfhaft das Notizbuch. Alles verschwimmt und auch mein Notizbuch rückt in weite Ferne.


(15.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3483 Da ist alles gut

 



3:12 a.m. Ach! Meine Ze(c)hen! Gut, halb so schlimm. Meine Zähne schon schlimmer. Auch wurscht. Ich werde ja bald schlafen. Diese junge Frau vom Katz habe ich gerade so aus den Augenwinkeln gesehen, da hat sie verschmitzt gelacht; jetzt schaue ich direkt hin: da schaut sie wieder arrogant drein. Die Bücher fangen auch schon an sich zu bewegen, wenn ich nicht genau hinschaue. Ich klopfe mit den Zähnen einen langsamen Rhythmus, mit Absicht: das habe ich soeben entdeckt; wie willkürliches (also vom Willen ausgewähltes) Zähneklappern in extremer Zeitlupe. Nun huste ich: weil ich vorhin kurz gelüftet habe, ist die Luft im Zimmer kalt und schon geht’s los. Es beginnt mir alles unbequem zu werden. Das bin ich im Bett nicht gewohnt. Normalerweise ist da alles gut.


(15.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 14. Dezember 2023

3482 Es fehlt nichts

 



Durchs Atelierfenster schaut ein verhalten strahlender Wintertag herein, hinter der verschlissenen Wolkendecke staut sich das gleißende Sonnenlicht und will durchbrechen. Die Bäume im Hof stehen blattlos und starr und schwanken nur ganz leicht im kleinen, kaum wahrnehmbaren Wind. Meine Ohren surren auch jetzt am hohen Tag ihren Alarm zu ich-weiß-nicht welcher Gefahr. Das helle Grau der Hauswände und des Himmels und das zurückgehaltende Rot der Dachziegel und das uneindeutige Graubraun der Baumrinden ergeben ein schönes Farbzusammenspiel, noch dazu, wo ein paar Blätter der Zimmerpflanzen hier vor der Fensterscheibe in die Szenerie greifen. Ein schönes, beinahes Stilleben, in dem ich mich nicht rühren will. Die Wolken sind dichter geworden und der Glanz zieht sich an die Ränder zurück, vorübergehend. Die eine Astgabel da in der großen Weide … und die Essigbäume drehen sich nun verhalten und fast kokett hin und her. Es fehlt nichts. Alles ist da.


(14.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3481 Ur anstrengend

 



3:33 a.m. Wenn mich jemand fragt, wie’s mir geht, sage ich „gut!“. Momentan geht’s mir wirklich nicht schlecht. Allein heute eine Ausstellung mit Lesung besucht, ein Bild als Geschenk angeboten bekommen, angenehmes Geplauder (Unangenehmes habe ich halbwegs umschifft), zwei interessante geschichtliche Dokumentationen (Armenien, Bergkarabach) gesehen, eine Natur (Universum), zwei Krimis (Soko Köln und Soko Wismar) und überhaupt im Internet herum und ich bin immer noch nicht müde. Fröhlich hänge ich im Bett, im Kreuz sticht’s nur wenig, ich seufze vor biederer Zufriedenheit … eines ist doch: ich merke immer mehr, dass ich im Grunde meiner Seele ein biederer Spießer und feiger Langweiler, ein schlichter Dampfplauderer bin. Besser gesagt: ich kann es vor mir immer weniger verbergen (der Texttipper wollte irgendwas vom tiefsten Seelengrund einfügen, der - wirklich ganz tief unten – ganz anders wäre, aber ich erlaube es ihm nicht!). Das zu erkennen stört mich schon ein wenig. Ich mein: man gönnt sich ja sonst nichts! (als ein überzogenes Selbstbild – der Tipper! (Ätsch!)). Aber gut: Schuster bleib bei deinem Leisten. Den Duschkopf im herobenen Bad habe ich auch entkalkt, einige Besorgungen gemacht und am Morgen vor dem Aufstehen den Guardini „ausgelesen“. Ich könnte grunzen vor Behaglichkeit. Die Stille der Nacht jetzt ist mir beinah zu feierlich; davon geht immer so ein Appell zu Ernsthaftigkeit und für persönliche Größe aus. Nein, nein, nein: warm zugedeckt im Bett vom Lottogewinn träumen – das genügt mir. Diesen Traum als Realität in Echtzeit erleben wäre sicherlich ur anstrengend.


(14.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3480 Ausklang

 



1:39 a.m. Ich hocke halb liegend im Bett und will ein paar Zeilen schreiben, denn die Lust zu schreiben hat mich wieder. Ich weiß zwar nicht was und die in zwei Hälften geschnittene Zwiebel, die neben meinem Bett auf der kleinen Stellage liegt, um mit ihrer Ausdünstung meine Erkältung zu bekämpfen, stinkt, aber ich bin fröhlicher Zuversicht, dass ein kleines Textlein gelingen wird. Der Regen klopft am Fenster herum und erzeugt so seine nicht ganz unmusikalischen Tonreihen. Ich will so gerne etwas sagen, etwas mitteilen, am besten eine große Botschaft an die Welt, aber mein Geist erfaßt nicht, was sich herandrängt. Vielleicht ist er auch ein wenig arrogant, denn wenn ich einen Ansatz andenke, verwirft er ihn sogleich mit einem „Aaaahhh!!“ und einer wegwerfenden Geste. Dennoch bleibe ich freundlich.

Ich bleibe besser beim Regen. Neben dem Regen und meinem in der Stille üblichen Surren meine ich auch ein pochendes Pulsieren akustisch wahrzunehmen, das eindeutig von außen zu kommen scheint. Noch ein Geräusch macht sich von Zeit zu Zeit bemerkbar, keine Ahnung, was es ist; es klingt, als würde jemand ein elektrisches Gerät abschalten, das dabei einen kurzen, elektrisch klingenden Akkord von sich gibt, irgendwo zwischen „Piep“ und „tüüt“. In meinem Inneren höre ich noch Passagen von „The Somnambulist“von XTC nachklingen.


(13.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 12. Dezember 2023

3479 Die Bilderrahmen

 



11:04 a.m. Ich liege im Aufwachen so im Bett, ich höre von unten schon die Tageskinder, schlafe wieder ein und döse vor mich hin, gerate in Traumfragmente, treibe in diesem unbestimmten Ambiente, die Gedanken, wenn sie sich durchsetzen, wandern anscheinend ziellos umher und können sich auch irgendwo verlieren … da fallen mir diese zwei alten Bilder im Haus meiner Eltern ein, Erbstücke aus der Familie meiner Mutter, ungarische Reiter- und Hirtenszenen, schon etwas lädiert, vermutlich Barock, vermutlich keine Meisterwerke aus dieser Zeit, aber die Bilderrahmen! Die waren wirklich barocke Meisterwerke, aus einem Stück Holz gearbeitet, ein unglaublich üppiges Geflecht, pompös, ein Gewurl aus dünnen, sich windenden, gekrümmten und gedrehten Holzverstrebungen (Ohne Stückelung und Verleimung!). Nebenbei angemerkt - wie meine Assoziationen halt so ablaufen – ist mir dazu ein Rahmen eingefallen, den sich Hannes Priesch damals im REM aus Nägeln zu einer seiner Zeichnungen gemacht hat. Nicht dass sich die Rahmen ähnlich geschaut hätten – Metall – Holz – aber die Parallele ist die schon ins Absurde kippende Üppigkeit, die unglaublich mächtige Einfassung des beherbergten Bildes und der Aufwand in der Herstellung. Freilich, handwerklich gesehen ist der barocke Holzrahmen viel aufwendiger – es muß daran wochenlang gearbeitet worden sein – und weitgehend weiß man heutzutage nicht, wie so ein Werk technisch hergestellt wurde.

Eines Tages – ich lebte schon in Graz oder Wien, ich war also nicht anwesend – hat ein Antiquitätenhändler und Restaurator meine Eltern heimgesucht und ihnen angeboten, die Bilder zu restaurieren. Dabei hat er ihnen eingeredet, dass die Rahmen für die Bilder viel zu groß und optisch zu schwer, viel zu üppig seien und ihnen schlichtere Rahmen angeboten. Er werde dafür die alten Rahmen übernehmen und mit dem Preis für die Restaurierung runtergehen. Meine Eltern haben sich auf diesen Deal eingelassen und ich vermute, sie wurden dabei richtig über den Tisch gezogen.

Als ich heut im Aufwachen so daliege – und das ist jetzt das Interessante, weswegen ich diese Episode erzähle – und vor meinem inneren Auge diese Bilderrahmen auftauchen und die Geschichte dazu, gibt es mir einen Stich. Ich spüre in meiner Leibesmitte den Schock darüber, dass meine Eltern so schwach und untüchtig waren. Das ist doch komisch! Jetzt bin ich fast siebzig Jahre alt und ertrage es kaum, meine Eltern so in ihrer Hilflosigkeit zu sehen. Und diese Erinnerung löst tatsächlich ein körperlich spürbares ungutes Gefühl, ein richtiges Unbehagen aus. Und nicht nur das: es ist das beklemmende Gefühl, dass ich als Erwachsener meinen Eltern gegenüber immer noch eine so kindliche Haltung eingenommen hatte und da weder eingreifen, noch die Abzocke verhindert konnte.

Korrekterweise muß ich noch anfügen, dass ich mich in der Abschätzung des Wertes der Bilder und der Bilderrahmen geirrt haben könnte, denn ich bin kein Fachmann. Aber ob das wirklich so war oder nur für mich so ausgesehen hat, ist in diesem Fall, was die Pointe betrifft, nebensächlich.


(12.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3478 Die lange Nacht der Kirche

 



2:32 a.m. Ich komme gerade aus dem Bad, wo ich meine Abendtoilette erledigt habe und wenn ich die Brillen nach dem Reinigen des Gebisses vergesse abzunehmen und mich umschaue, merke ich schon, dass es höchst Zeit wäre, das Badezimmer zu putzen, weil es schon ganz schön verdreckt ist. Aber ich warte noch, bis ich mir meines Kreuzes einigermaßen sicher bin. Es schaut eh gut aus, dass sich mein Kreuz für meine Verhältnisse gut erholt hat, aber so lange ist der letzte Anfall noch nicht her. Wenn mir beim Reinigen der Badewanne wieder die Kreuzschmerzen einfahren – und ich geniere mich nicht, so weit es arbeitstechnisch geht, mich dabei hinzuknien um das Vorbeugen des Oberkörpers zu vermeiden – aber wenn die einfahren, kann ich nur mehr auf allen Vieren das Bad verlassen (gut, das ist jetzt übertrieben). Wie gesagt, es schaut gut aus: ich hocke im Bett und habe dabei keine Schmerzen. Ich werde noch ein wenig lesen.

Ich lese Romano Guardini, „Das Ende der Neuzeit“, 1950 erschienen. Ich habe schon Jahrzehnte keinen Guardini mehr gelesen und habe nur zum Buch gegriffen, um ein Zitat zu suchen. Trotz allem packt mich der Guardini doch wieder: seine nüchternen und gewissenhaften Analysen, sein gründliches Durchdenken der behandelten Materie, seine Sprache. Im Grunde – so kommt mir jetzt vor – bin ich doch ein gläubiges, katholisches Kind – ich meine nicht wie die familiär dort Hingetretenen – sondern weil mich – wie damals – irgendetwas davon auf einer tiefen Ebene berührt und ergriffen hat. Und gerade der Guardini ist ja wirklich nicht ohne (zum Beispiel hier: schon damals sehr luzide das baldige Ende der Neuzeit konstatierend) und im Moment empfinde ich doch, dass es schade ist, nicht rechtzeitig in dieses Denken hineingewachsen zu sein, was immer ich dann damit gemacht hätte. Es hätte mir eine gute Basis und eine gute Orientierung gegeben, mein Leben groß anzusetzen, es besonnen zu ordnen, die Verantwortung dafür zu übernehmen und es hätte mich wohl auch vor dem Zynismus speziell der verdorbenen Kriegsgeneration geschützt. Ja, jetzt in der Nacht um diese späte Zeit (2:50 a.m.), wo fast alle schlafen und ihre lauten und destruktiv lebenstüchtigen Bewußtseine ganz wo anders sind und nicht ihre dumpfen Selbstverständlichkeiten in diese nächtliche Welt hineinstrahlen, traue ich mich sogar herschreiben, dass ich damals „zur Heiligkeit berufen“ war (die Versuchung ist jetzt riesengroß, mit irgendeinem Witz die ungeheure Spannung, die diesen Satz herzuschreiben in mir auslöst, abzuleiten. Aber ich widerstehe ihr um meiner letzten Würde willen; ich möchte mich jetzt nicht zum Dodel machen, weil die Welt möglicherweise eine solche Ansage nicht erträgt). Damals als Kind wäre ich zu einem solchen Weg bereit gewesen; wie fragwürdig meine Motive und meine Gemengelage auch gewesen sein mögen (Jetzt ist es zu spät. Ich bin alt und könnte das Ganze nicht mehr so unschuldig und naiv annehmen).

Ja gut! Lassen wir das! Es ist spät und ich will noch ein wenig lesen.

Aber es hat mich sehr aufgewühlt. Jetzt ist es 4:26 a.m. und ich konnte noch nicht einschlafen. Das macht aber gar nichts! Ich mache mir wegen einer schlaflosen Nacht überhaupt keine Sorgen.

Ich bin noch lange wach gelegen.


(12.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 11. Dezember 2023

3477 Der Krähentest

 



8:12 a.m. Ich fahre mit der Zunge im Mund herum und verteile so das legale Cannabisöl (CBD), während mein Geist in weggeschobenen und verdrängten unsicheren Erinnerungen wühlt, bis ihm schlecht wird. Ich weiß in diesem Bereich nicht, was Erinnerung ist und was Einbildung. Hat der das wirklich so gesagt, oder habe ich mich verhört? Noch ein paar unangenehme Erinnerungen aus einer ganz anderen Ecke, nicht Familie. Der Morgen surrt aus der Dämmerung (Flucht ins Sprachspiel). Der kleine harmlose Gong, als ich unabsichtlich mit meinem Pilotstift an den Lampenschirm anstoße, als ich mich im Gesicht kratze. Im Hof werkt die Müllabfuhr. Meine Ränder gehen bis ins Innerste. Ich schließe die Augen und gebe mich ganz dem inneren Lärm hin. Mein Magen knurrt. „Der Zweite geht!“ ruft eine innere Stimme. (Ich bin erleichtert, dass ich mich doch zum Schreiben zwingen kann.) Mein Lieblingsautor will nicht mit meinem Lieblingsverweigerer streiten. Meine Fensterkrähe steht zuerst erstaunlich still, erst als ich sie ernster und aggressiver in den Blick nehme, tanzt und schaukelt sie sanft in der Aufwärme (schon wieder weiß ich nicht, was jetzt Wahrnehmung und was Einbildung ist). Ich wiederhole den Krähentest und das Ergebnis bleibt genauso unsicher (Realitycheck! - das ich nicht lache!).


(11.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 5. Dezember 2023

3476 Meine frühesten Erinnerungen

 



Einige frühere Erinnerungen habe ich schon in verschiedenen Texten beschrieben; ich glaubte auch, ich hätte schon alles erzählt, aber habe einiges im Textarchiv nicht gefunden. Also versuche ich jetzt, alle meine frühen Erinnerungen zu sammeln. Da wir - als ich im Alter (wenn meine Berechnungen stimmen) von dreieinhalb Jahren war, von Admont nach Irdning übersiedelt sind, brauch ich nur meine Admonter Erinnerungen zusammensuchen und ich bin bei den ältesten.

Welche Erinnerung die älteste ist, weiß ich nicht und ich kann die einzelnen Erinnerungsstücke auch in keine genaue zeitliche Abfolge bringen. Es sind nur einzelne Szenen, die aus dem Vergessenen auftauchen. Vielleicht ist diese ganz vage Erinnerung, wo ich im Kinderwagen liege und mich von der durchsichtigen Plastikfolie als Regenschutz vor meinem Gesicht endlich geschützt fühle, die älteste. Das war keine der heute üblichen als ganzes durchsichtigen Plastikfolien, die über den gesamten Kinderwagen gezogen werden, sondern durchsichtig war nur der Bereich direkt vor meinem Gesicht, wodurch das Bild, an das ich mich erinnere, wirkt, als säße ich in einem Auto hinter der Windschutzscheibe. „Auto“ soll ja auch das erste Wort gewesen sein, das ich gesprochen habe. Meine Lieblingsbehauptung ist, dass das „Autonomie!“ heißen sollte und ich damit mein „Selbst“ einfordere. Aber Spaß beiseite: gab es damals schon solche Kinderwagen-Regenschutzabdeckungen? Das Plastikzeitalter war noch nicht voll ausgebrochen und diese Erinnerung ist vage wie ein Traum. So bin ich mir ihrer nicht sicher.

Dann ist da eine Erinnerung, wie meine Mutter mit mir zu einem hinkenden oder einbeinigen Kriegsversehrten geht, irgendetwas abzuholen. Der Vater war ja nur selten da, weil seine Arbeitsstelle schon von Admont nach Irdning verlegt war, aber die Buwogsiedlung für die Angestellten noch im Bau. Meine Mutter trug mich am Arm und irgendwie war ich alarmiert und ich hatte das Gefühl, dass sie mich als Schutzschild benutzt (wie es Frauen immer wieder gegen Übergriffe so versucht haben). Der Mann hat in seinem Dialogverhalten freundlich, aber aufgeregt gewirkt, zumindest habe ich so etwas abgespeichert. Mehr weiß ich dazu nicht mehr. Doch: der Mann hatte einen Motorroller.

Es muß ein Sonntag gewesen sein, denn mein Vater war da (damals arbeitete man noch am Samstag, die erste Zeit noch bis zum Abend und wegen der schlechten Verkehrsverbindungen und den teuren Fahrkarten kam er nur alle zwei Wochen am Wochenende auf Besuch). Wir – Vater, Mutter, Kind – gingen über den großen Platz vorm Stift. Irgendetwas Faszinierendes muß ich dort gesehen haben, denn ich bin hinter meinen Eltern nachgezoggelt, meinen Kopf immer noch nach hinten gedreht mit Blick auf – vielleicht! - eine Baustelle, meine Eltern rufen mich, ich gehe ohne zu ihnen hinzuschauen in ihre Richtung und als ich – wie ich meinte – wieder bei ihnen bin ergreife ich die Hand meines Vaters – immer noch mit Blick zum Faszinosum. Dann will ich ihm etwas sagen und schaue zu ihm auf und merke: der Mann ist nicht mein Vater! Sondern ein fremder Mann und ich erschrecke. Die Eltern schauen aus einer für mich damals großen Entfernung her und lachen. Oder: eigentlich ist es nur mein Vater, der lacht. Von meiner Mutter habe ich nur die Erinnerung, dass sie dort steht, aber keine an ihre Gestik oder Mimik; sie verschwimmt neben meinem Vater.

Der Vater muß im Urlaub gewesen sein, denn es war an einem Werktag: mein Vater geht mit mir an der Hand in ein kleines, kioskartiges Geschäft im Park vorm Stift, um mir ein Spielzeug zu kaufen. Vielleicht einen Baustein aus Holz. Dort im Park tost ein Bach (oder fließen zwei zusammen?), es ist sehr laut und ich erlebe zum ersten Mal bewußt, wie es mir die Ohren verschlägt. Ein fremdartiges Gefühl. Auch mein Vater ist mir irgendwie fremd und nicht ganz geheuer. Er führt mich ins kleine Geschäft und ich soll aus dem Angebot einen Baustein auswählen. Ich bin jedoch überfordert und kann nicht sagen, welchen ich will. Möglicherweise weiß ich gar nicht, welchen ich will (oder wollen soll). Ich bin im Stress, der eigenartige Zustand mit den Ohren, der mich sehr beschäftigt, die ungewohnte Situation: der Vater länger anwesend; selbst entscheiden müssen … ich bringe kein Wort heraus. Da sagt mein Vater zum Verkäufer (irgendwie enttäuscht?) „Er ist halt noch nicht so weit!“

Wir haben damals bei Familie Ernecker (Schreibweise?) in Untermiete gelebt. Das war seit meiner Geburt die zweite Untermiete. An die erste bei der Familie Holzmeister (?), wo ich als Hausgeburt auf die Welt gekommen bin, habe ich keine Erinnerungen. Ich bin mir ziemlich sicher, wir haben bei den Erneckers im oberen Stock gewohnt, wenn ich es richtig im Kopf habe, auf Küche Kabinett. Ich erinnere mich noch an das Abwaschkastl mit den zwei Blechwannen, die man an Griffen herausheben konnte, denn Fließwasser und Ausguß gab es oben nicht. Bad mit Badewanne gab es in der unteren Wohnung (ob wir die mitbenutzen konnten, weiß ich nicht) bei den Erneckers. Klo vermute ich auch. Die Erneckers hatten zwei Buben, etwas älter als ich und richtige Lausbuben, ihre Mutter auch eine eher resolute und laute Person. Einmal bin ich mit meiner Mutter unten und die Buben wollen mir etwas zeigen und fragen meine Mutter, ob sie mich mitnehmen dürfen. Ihre Mutter – schon ahnend, was jetzt kommt - schimpft schon im Vorhinein, aber die Buben lassen sich nicht beeindrucken, führen mich in ihr Badezimmer und pinkeln vor mir in die Badewanne. Als wir zu den Müttern zurückkommen, fragt mich ihre Mutter, ob die Buben in die Badewanne gepinkelt haben und ich nicke zustimmend, obwohl mir die Buben eingeschärft hatten, ja nichts zu sagen. Ihre Mutter schimpft mit ihnen, aber allzuviel dürfte es ihnen nicht ausgemacht haben. Als ich mit meiner Mutter oben in unserer Wohnung war, schimpft diese mit mir, weil ich die Buben „verraten“ habe. „Warum hast du das getan?“ Sie ist sichtlich von mir enttäuscht (und von den lebhaften Ernecker-Buben angetan).

Das Ernecker-Haus, in dem wir wohnten, lag ein Stück Richtung Kaiserau, südlich der Bahntrasse. Ich kann mich noch vage erinnern, dass unser Weg in den Ort (einkaufen) an einer Baracke (oder waren es mehrere?) vorbeigeführt hat, wo „eigenartige“ Leute wohnten, zumindest habe ich das atmosphärisch so wahrgenommen, dass mit dieser Baracke etwas seltsam war, dass das „andere“ waren, denen man mißtrauisch begegnete, ein Ort, der mir beim Vorbeigehen ein wenig unheimlich war. Ich habe da noch so ein Bild vor mir, wie dort ein Bub herumläuft und eine Frau die Holztreppe herunterkommt und den Buben ruft. Heute vermute ich, dass da Vertriebene aus den ehemaligen „Ostgebieten“ lebten und hege den Verdacht, dass diese Baracken auch in der Nazizeit als Lager gebaut wurden.

Meine schnelle Recherche nun im Internet hat ergeben, dass auf diesem Gelände nach dem „Anschluß“ 1939 eine Kaserne mit Baracken angelegt wurde, die nach dem Krieg als Lager für Displaced Persons benutzt wurde. Zunächst waren dort polnische, jugoslawische und andere ehemaligen Zwangsarbeiter untergebracht, auch Ausgebombte und vertriebene, sogenannte „Volksdeutsche“, ab Mai 1946 haben die englischen Besatzungsbehörden bis zu 2500 jüdische „Displaced Persons“, also Überlebende der KZs, hier angehalten, im Versuch, zu verhindern, dass sie nach Palästina auswandern. Insgesamt waren in Admont bis zu 3000 Flüchtlinge bei einer Ortsbevölkerung von 1400 Menschen und es gab extreme Spannungen, Konflikte (Nahrungsbeschaffung!), Übergriffe, Schlägereien etc in dieser angespannten Lage. Im Sommer 1949 wurde das Lager, nachdem den meisten die Flucht in die nahe amerikanische Zone gelungen ist, von wo aus sie nicht ohne Schwierigkeiten, aber doch nach Palästina auswandern konnten, aufgelöst und die Baracken zu Brennholz gemacht. Jedenfalls eine Baracke soll bestehen geblieben sein und erst viel später abgetragen. Also könnte meine Erinnerung schon stimmen, wenn ich auch nicht herausgefunden habe, welche Menschen dort lebten, ob vertriebene Deutsche, denen man damals ja auch mit Mißtrauen begegnete, oder andere Familien. Ich bin ja der Auffassung, dass Plätze vom Geschehen, das auf ihnen passiert ist, und von den Menschen dort und was mir ihnen geschehen ist, energetisch etwas abkriegen können und davon etwas hängen bleiben kann. Es spricht für meine Sensibilität, dass ich als kleines Kind davon so viel aufgenommen habe.

Meine Mutter hatte im Nacken eine große Warze, an der ich, wenn sie mich auf dem Arm trug, ständig gedankenlos herumdrückte und zupfte. Das wurde mir so erzählt. Anscheinend hat ihr mein Herumgetue recht weh getan, denn eines Tages – und das ist jetzt Erinnerung – gingen wir zum Arzt und ich stehe daneben, wie ihr der Arzt – ich war völlig ahnungslos, was jetzt kommt – die Warze ausbrannte. Wir sind noch mitten in den Fünfzigerjahren und damals wurden solche Sachen noch ohne Narkose oder lokale Betäubung durchgeführt. Ich höre noch, wie meine Mutter vor Schmerzen schreit und sich windet und das Zischen und mein Bild davon ist, als würde der Arzt mit einem Lötkolben die Stelle bearbeiten. Ich meine, mich auch an Rauch und Verbrennungsgeruch zu erinnern. Ich war völlig erschrocken; erst recht, als mir meine Mutter sagt, dass sie das nur wegen mir hat mitmachen müssen.

Und da ist noch die Erinnerung an die Wanderung mit den Eltern in die Kaiserau zu einem Gasthaus. (Diese Passage kopiere ich einfach aus meinem alten Text.) Ich weiß nicht mehr, wie alt da ich war. Ich bin gegangen. Nach einem ordentlichen Stück des Weges fragte mich mein Vater, ob ich schon müde sei und er mich ein Stück tragen solle. Ich verneinte. (Und das ist jetzt interessant: heute, wie ich diesen Text schreibe und den alten reinkopiere, erinnere ich mich anders: Ich habe ihn gefragt, ob er mich trägt und er hat gemeint, ein Stück könne ich noch gehen! Weiter im ersten Text:) Später, als ich dann doch müde war, traute ich mich nicht, es ihm zu sagen. Also ging ich tapfer zu Fuß bis in die Kaiserau. Das sind einige Kilometer. Ich weiß noch, daß mein Vater stolz auf mich war, daß ich kleiner Knirps ohne zu Jammern so weit gegangen bin und er hat es auch öfters erzählt.
Dort kehrten wir irgendwo ein. Ob es ein Gasthaus war oder ein Privatbesuch, das weiß ich nicht mehr. Es müßte schon das Schloß gewesen sein. Ich glaube, es war doch ein Gasthaus.
Jedenfalls saß da ein Mädchen – etwa im gleichen Alter wie ich – auf dem „Thron“. So nannten wir diese Stühle mit eingebautem „Topferl“ zur Verrichtung der Notdurft.
Ich hatte auch so einen „Thron“ aus Holz zuhause, mit einer Sperre gegen das Herunterfallen vorm Bauch, auf der sich ein paar bunte Holzkugeln auf einer Metallspange befanden, die man hin- und herschieben konnte. Ich liebte meinen „Thron“ und fand ihn ganz super.
Das Mädchen hatte aber einen noch tolleren Stuhl - die Sperre bestand nämlich nicht bloß aus einer schmalen Holzleiste wie bei mir, sondern war eine richtige Holzfläche, wie ein kleines Reißbrett, eine kleine Tischplatte und sie konnte daher beim Verrichten der Notdurft zeichnen! Am Thron sitzen und zeichnen! Und Kugeln zum Verschieben hatte sie auch!
Ich stellte es mir ganz großartig und genußvoll vor, darauf zu sitzen und zu zeichnen.
Da verspürte ich zum erstenmal klar und deutlich Neid. Ich war ihr das neidig. Der Neid fraß sich richtig brennend in mein Gedärm.
Nur schwer konnte ich es aushalten, daß sie dieses Wunder an Stuhl hatte und ich nicht.
Ich glaube nicht, daß ich etwas gesagt habe, etwa in der Art: das will ich auch. Oder doch? Hier verdunkelt sich meine Erinnerung, wie ein Traumfragment, das sich an seinen Rändern auflöst. Auch an den Rückweg habe ich überhaupt keine zugängliche Erinnerung.


(5.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 1. Dezember 2023

3475 Schmerzliche Erkenntnisse

 



Ich frage mich oft, warum ich so weltfremd bin, und auch mir fällt als Antwort gleich ein: weil ich im Aufwachsen nicht genügend Welterklärung bekommen habe. Aber das stimmt höchstens oberflächlich, wie mir aktuell an meinem weltfremden Umgang mit meinen Kreuzschmerzen aufgegangen ist.

Vorige Woche hatte ich einen heftigen Anfall von Kreuzschmerzen, so dass ich mich nur mehr mit Abstützen und mit Hilfe eines Stockes aus der Sitzposition erheben konnte und selbst einfaches Gehen nur voller Schmerzen und in Zeitlupe möglich war. Da mir das Schmerzmittel, das ich sehr sparsam eingesetzt hatte (10 Tabletten, November 2020 gekauft), ausgegangen war, schrieb ich per E-mail an meine Hausarztpraxisgemeinschaft – früher wäre ich einfach hingegangen, aber jetzt geht es nur mehr nach Voranmeldung – und bat um ein Rezept für ein Schmerzmittel. Einer der Ärzte dort hat dann angerufen und das Rezept freigegeben und mir empfohlen, das Medikament 5 Tage je 2 Tabletten einzunehmen. So weit so gut. Noch dazu, wo die Schmerzen fast zur Gänze verschwunden gewesen sind. Am Telephon hatte der Arzt noch gesagt: ich solle, wenn nach den fünf Tagen Symptome wie Taubheitsgefühle in den Beinen auftreten, gleich ins Spital gehen.

Gestern sind die Schmerzen in alter Heftigkeit zurückgekommen und seid dem bin ich voll in meiner typischen Weltfremdheitsproblematik und grüble herum, was ich tun soll: Ins Spital? Wie (ich war noch nie als Patient in einem Spital)? Einfach hingehen? Habe ich nicht gehört, dass man so nicht aufgenommen wird? Doch zum Hausarzt? Was hat der Arzt am Telephon genau gesagt (Schmerzen machen dumm und verringern die Aufnahmefähigkeit von Informationen)? Nur bei Taubheitsgefühlen ins Spital oder überhaupt bei Schmerzen? Wie komme ich ins Spital? Muß ich vorher einen Notarzt rufen und der weist mich ein? Oder rufe ich einfach eine Rettung (das so zu tun, damit hatte ich vor Jahren bei meinem Neffen ganz schlechte Erfahrungen (Arbeitersamariterbund))? Oder gehe ich einfach zu den Barmherzigen Brüdern? Wäre ich dort richtig? Diese ganze Grüblerei nicht ohne mich innerlich zu beschimpfen, dass ich so weltfremd bin und so überhaupt keine Ahnung von den Abläufen da draußen habe. Aber genauer betrachtet liegt der zentrale Punkt woanders: nicht draußen, sondern in mir: ich weiß unmittelbar von mir und meinen Empfindungen zu wenig; ich wohne nicht richtig in meinem Körper und spüre und verstehe seine Impulse zu wenig: da liegt die Wurzel meiner Unsicherheit: mein Körper gehört nicht mir; er ist teilweise fremdbesetzt. Damit sind auch meine eigenen Erfahrungen schlecht abgespeichert und mir nur teilweise zugänglich. So kann ich auch nicht zu einem Arzt gehen und klar sagen, was los ist, weil ich mir der Wahrnehmung meiner inneren (körperlichen und seelischen) Impulse nicht sicher bin, sondern permanent alles in frage stelle: ist das, was ich da empfinde, wirklich ein heftiger Schmerz, oder bin ich Hypochonder und übertreibe? (Hat nicht die Reaktion des Arztes damals vor Jahren so ausgeschaut, als hielte er mich für einen Hypochonder?) Steht es mir überhaupt zu, wegen Kreuzschmerzen den ganzen Apparat zu belästigen? Notarzt? Den ruft man doch nur in Todesgefahr, wenn man mit einer Schusswunde daliegt oder bei einem Herzinfarkt; aber wegen Kreuzweh? Was würden Menschen in Kriegsgebieten dazu sagen, wenn ich wegen Kreuzschmerzen Notärzte und Rettungen blockiere (ja, ja, die Söhne der Väter der Kriegsgeneration: du brauchst dich mit deinen Wehwehchen gleich gar nicht melden!)? Etcetera, etcetere, etcetera. (Und jetzt beim Eintippen bin ich nahezu schmerzfrei. Also: viel Wind um nichts?)


(1.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

3474 Fünf Berichte

 



14:30. Bericht 1

Nachdem ich den ganzen Vormittag, der bei mir so gegen Mittag beginnt – auf dem Bett gelesen hatte (Dorothy L. Sayers, The Five Red Herings (auf Deutsch), drehe ich die Leselampe ab, das Zimmer jedoch verdunkelt sich nur zögernd; als bräuchte das Licht – geschwindigkeitsmäßig nicht auf vollen Touren – eventuell etwas verschlafen – Zeit um zu verschwinden. Ein unglaublich langsamer Abgang! Gleich werde ich ins Bad gehen, dann hinunter in die Küche, ins untere Badezimmer, die Wäsche sollte fertig sein. Das nur als erster Bericht.

(28.11.2023)


13:40. Bericht 2

Ich bin beim Lesen auf – nicht im – Bett mit dem Krimi auf der Brust eingeschlafen. Das Lichtphänomen habe ich soeben gelöst: es ist nicht das Licht, das erheblich langsamer als mit Lichtgeschwindigkeit verschwindet, sondern es sind meine Augen, die vor Müdigkeit zuzufallen beginnen und dadurch den Lichteinfall auf die Netzhaut verringern. Und übrigens: die Kreuzschmerzen sind nach einer fünftägigen Schmerzmittelkur wieder zurück und ich bin weit im vorigen Jahrhundert in Admont in der Steiermark geboren.


16:27. Bericht 3

Ich war beim Denns meine falschen Kaffees kaufen und hatte mich aus meinem Zimmer gelockt, indem ich mir versprochen hatte, danach ins Katscheli auf Kaffee und Zeitung zu gehen. Aber beim Gehen hat mir mein Kreuz so geschmerzt, dass ich alle Lust verloren habe und demütig, grantig und brav nach Hause getrippelt bin.


17:29. Bericht 4

Ich hatte gehofft, das herumgehen wird meine Schmerzen lindern, aber das Gegenteil war der Fall. Als ich mich zuhause nach dem Ausrasten von der Couch erheben will, kann ich mich kaum aufrichten (ich hatte noch keinen Stecken dabei). Nachdem ich mich mühsamst unter Abstützen und Anklammern - was ambientetechnisch nur bis zur halben Höhe ging – aufgerichtet hatte, mußte ich mich wieder ein wenig hinabbeugen, um Lesebrille und Pilotstift am Couchtisch aufzugreifen und dann in kleinen, schmerzvollen Schrittchen an den Aufbewahrungsort zu bringen und abzulegen. Und dann mußte ich – wiederum am Couchtisch – nochmals ein wenig in die Knie gehen (beugen besser meiden!), um mein Notizbuch zu ergreifen, das aber – verdammt noch mal! - an einem ein wenig hervorstehenden Nagelkopf hängen geblieben ist. Unter Fluchen konnte ich mein Notizbuch befreien und es bei meiner Flucht mit hinauf in mein Zimmer nehmen.

(30.11.2023)


2:43 a.m. Bericht 5

Sturm Graz hat gegen Raków Częstochowa verloren.

(1.12.2023)


Peter Alois Rumpf November/Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com