Dienstag, 5. Dezember 2023

3476 Meine frühesten Erinnerungen

 



Einige frühere Erinnerungen habe ich schon in verschiedenen Texten beschrieben; ich glaubte auch, ich hätte schon alles erzählt, aber habe einiges im Textarchiv nicht gefunden. Also versuche ich jetzt, alle meine frühen Erinnerungen zu sammeln. Da wir - als ich im Alter (wenn meine Berechnungen stimmen) von dreieinhalb Jahren war, von Admont nach Irdning übersiedelt sind, brauch ich nur meine Admonter Erinnerungen zusammensuchen und ich bin bei den ältesten.

Welche Erinnerung die älteste ist, weiß ich nicht und ich kann die einzelnen Erinnerungsstücke auch in keine genaue zeitliche Abfolge bringen. Es sind nur einzelne Szenen, die aus dem Vergessenen auftauchen. Vielleicht ist diese ganz vage Erinnerung, wo ich im Kinderwagen liege und mich von der durchsichtigen Plastikfolie als Regenschutz vor meinem Gesicht endlich geschützt fühle, die älteste. Das war keine der heute üblichen als ganzes durchsichtigen Plastikfolien, die über den gesamten Kinderwagen gezogen werden, sondern durchsichtig war nur der Bereich direkt vor meinem Gesicht, wodurch das Bild, an das ich mich erinnere, wirkt, als säße ich in einem Auto hinter der Windschutzscheibe. „Auto“ soll ja auch das erste Wort gewesen sein, das ich gesprochen habe. Meine Lieblingsbehauptung ist, dass das „Autonomie!“ heißen sollte und ich damit mein „Selbst“ einfordere. Aber Spaß beiseite: gab es damals schon solche Kinderwagen-Regenschutzabdeckungen? Das Plastikzeitalter war noch nicht voll ausgebrochen und diese Erinnerung ist vage wie ein Traum. So bin ich mir ihrer nicht sicher.

Dann ist da eine Erinnerung, wie meine Mutter mit mir zu einem hinkenden oder einbeinigen Kriegsversehrten geht, irgendetwas abzuholen. Der Vater war ja nur selten da, weil seine Arbeitsstelle schon von Admont nach Irdning verlegt war, aber die Buwogsiedlung für die Angestellten noch im Bau. Meine Mutter trug mich am Arm und irgendwie war ich alarmiert und ich hatte das Gefühl, dass sie mich als Schutzschild benutzt (wie es Frauen immer wieder gegen Übergriffe so versucht haben). Der Mann hat in seinem Dialogverhalten freundlich, aber aufgeregt gewirkt, zumindest habe ich so etwas abgespeichert. Mehr weiß ich dazu nicht mehr. Doch: der Mann hatte einen Motorroller.

Es muß ein Sonntag gewesen sein, denn mein Vater war da (damals arbeitete man noch am Samstag, die erste Zeit noch bis zum Abend und wegen der schlechten Verkehrsverbindungen und den teuren Fahrkarten kam er nur alle zwei Wochen am Wochenende auf Besuch). Wir – Vater, Mutter, Kind – gingen über den großen Platz vorm Stift. Irgendetwas Faszinierendes muß ich dort gesehen haben, denn ich bin hinter meinen Eltern nachgezoggelt, meinen Kopf immer noch nach hinten gedreht mit Blick auf – vielleicht! - eine Baustelle, meine Eltern rufen mich, ich gehe ohne zu ihnen hinzuschauen in ihre Richtung und als ich – wie ich meinte – wieder bei ihnen bin ergreife ich die Hand meines Vaters – immer noch mit Blick zum Faszinosum. Dann will ich ihm etwas sagen und schaue zu ihm auf und merke: der Mann ist nicht mein Vater! Sondern ein fremder Mann und ich erschrecke. Die Eltern schauen aus einer für mich damals großen Entfernung her und lachen. Oder: eigentlich ist es nur mein Vater, der lacht. Von meiner Mutter habe ich nur die Erinnerung, dass sie dort steht, aber keine an ihre Gestik oder Mimik; sie verschwimmt neben meinem Vater.

Der Vater muß im Urlaub gewesen sein, denn es war an einem Werktag: mein Vater geht mit mir an der Hand in ein kleines, kioskartiges Geschäft im Park vorm Stift, um mir ein Spielzeug zu kaufen. Vielleicht einen Baustein aus Holz. Dort im Park tost ein Bach (oder fließen zwei zusammen?), es ist sehr laut und ich erlebe zum ersten Mal bewußt, wie es mir die Ohren verschlägt. Ein fremdartiges Gefühl. Auch mein Vater ist mir irgendwie fremd und nicht ganz geheuer. Er führt mich ins kleine Geschäft und ich soll aus dem Angebot einen Baustein auswählen. Ich bin jedoch überfordert und kann nicht sagen, welchen ich will. Möglicherweise weiß ich gar nicht, welchen ich will (oder wollen soll). Ich bin im Stress, der eigenartige Zustand mit den Ohren, der mich sehr beschäftigt, die ungewohnte Situation: der Vater länger anwesend; selbst entscheiden müssen … ich bringe kein Wort heraus. Da sagt mein Vater zum Verkäufer (irgendwie enttäuscht?) „Er ist halt noch nicht so weit!“

Wir haben damals bei Familie Ernecker (Schreibweise?) in Untermiete gelebt. Das war seit meiner Geburt die zweite Untermiete. An die erste bei der Familie Holzmeister (?), wo ich als Hausgeburt auf die Welt gekommen bin, habe ich keine Erinnerungen. Ich bin mir ziemlich sicher, wir haben bei den Erneckers im oberen Stock gewohnt, wenn ich es richtig im Kopf habe, auf Küche Kabinett. Ich erinnere mich noch an das Abwaschkastl mit den zwei Blechwannen, die man an Griffen herausheben konnte, denn Fließwasser und Ausguß gab es oben nicht. Bad mit Badewanne gab es in der unteren Wohnung (ob wir die mitbenutzen konnten, weiß ich nicht) bei den Erneckers. Klo vermute ich auch. Die Erneckers hatten zwei Buben, etwas älter als ich und richtige Lausbuben, ihre Mutter auch eine eher resolute und laute Person. Einmal bin ich mit meiner Mutter unten und die Buben wollen mir etwas zeigen und fragen meine Mutter, ob sie mich mitnehmen dürfen. Ihre Mutter – schon ahnend, was jetzt kommt - schimpft schon im Vorhinein, aber die Buben lassen sich nicht beeindrucken, führen mich in ihr Badezimmer und pinkeln vor mir in die Badewanne. Als wir zu den Müttern zurückkommen, fragt mich ihre Mutter, ob die Buben in die Badewanne gepinkelt haben und ich nicke zustimmend, obwohl mir die Buben eingeschärft hatten, ja nichts zu sagen. Ihre Mutter schimpft mit ihnen, aber allzuviel dürfte es ihnen nicht ausgemacht haben. Als ich mit meiner Mutter oben in unserer Wohnung war, schimpft diese mit mir, weil ich die Buben „verraten“ habe. „Warum hast du das getan?“ Sie ist sichtlich von mir enttäuscht (und von den lebhaften Ernecker-Buben angetan).

Das Ernecker-Haus, in dem wir wohnten, lag ein Stück Richtung Kaiserau, südlich der Bahntrasse. Ich kann mich noch vage erinnern, dass unser Weg in den Ort (einkaufen) an einer Baracke (oder waren es mehrere?) vorbeigeführt hat, wo „eigenartige“ Leute wohnten, zumindest habe ich das atmosphärisch so wahrgenommen, dass mit dieser Baracke etwas seltsam war, dass das „andere“ waren, denen man mißtrauisch begegnete, ein Ort, der mir beim Vorbeigehen ein wenig unheimlich war. Ich habe da noch so ein Bild vor mir, wie dort ein Bub herumläuft und eine Frau die Holztreppe herunterkommt und den Buben ruft. Heute vermute ich, dass da Vertriebene aus den ehemaligen „Ostgebieten“ lebten und hege den Verdacht, dass diese Baracken auch in der Nazizeit als Lager gebaut wurden.

Meine schnelle Recherche nun im Internet hat ergeben, dass auf diesem Gelände nach dem „Anschluß“ 1939 eine Kaserne mit Baracken angelegt wurde, die nach dem Krieg als Lager für Displaced Persons benutzt wurde. Zunächst waren dort polnische, jugoslawische und andere ehemaligen Zwangsarbeiter untergebracht, auch Ausgebombte und vertriebene, sogenannte „Volksdeutsche“, ab Mai 1946 haben die englischen Besatzungsbehörden bis zu 2500 jüdische „Displaced Persons“, also Überlebende der KZs, hier angehalten, im Versuch, zu verhindern, dass sie nach Palästina auswandern. Insgesamt waren in Admont bis zu 3000 Flüchtlinge bei einer Ortsbevölkerung von 1400 Menschen und es gab extreme Spannungen, Konflikte (Nahrungsbeschaffung!), Übergriffe, Schlägereien etc in dieser angespannten Lage. Im Sommer 1949 wurde das Lager, nachdem den meisten die Flucht in die nahe amerikanische Zone gelungen ist, von wo aus sie nicht ohne Schwierigkeiten, aber doch nach Palästina auswandern konnten, aufgelöst und die Baracken zu Brennholz gemacht. Jedenfalls eine Baracke soll bestehen geblieben sein und erst viel später abgetragen. Also könnte meine Erinnerung schon stimmen, wenn ich auch nicht herausgefunden habe, welche Menschen dort lebten, ob vertriebene Deutsche, denen man damals ja auch mit Mißtrauen begegnete, oder andere Familien. Ich bin ja der Auffassung, dass Plätze vom Geschehen, das auf ihnen passiert ist, und von den Menschen dort und was mir ihnen geschehen ist, energetisch etwas abkriegen können und davon etwas hängen bleiben kann. Es spricht für meine Sensibilität, dass ich als kleines Kind davon so viel aufgenommen habe.

Meine Mutter hatte im Nacken eine große Warze, an der ich, wenn sie mich auf dem Arm trug, ständig gedankenlos herumdrückte und zupfte. Das wurde mir so erzählt. Anscheinend hat ihr mein Herumgetue recht weh getan, denn eines Tages – und das ist jetzt Erinnerung – gingen wir zum Arzt und ich stehe daneben, wie ihr der Arzt – ich war völlig ahnungslos, was jetzt kommt – die Warze ausbrannte. Wir sind noch mitten in den Fünfzigerjahren und damals wurden solche Sachen noch ohne Narkose oder lokale Betäubung durchgeführt. Ich höre noch, wie meine Mutter vor Schmerzen schreit und sich windet und das Zischen und mein Bild davon ist, als würde der Arzt mit einem Lötkolben die Stelle bearbeiten. Ich meine, mich auch an Rauch und Verbrennungsgeruch zu erinnern. Ich war völlig erschrocken; erst recht, als mir meine Mutter sagt, dass sie das nur wegen mir hat mitmachen müssen.

Und da ist noch die Erinnerung an die Wanderung mit den Eltern in die Kaiserau zu einem Gasthaus. (Diese Passage kopiere ich einfach aus meinem alten Text.) Ich weiß nicht mehr, wie alt da ich war. Ich bin gegangen. Nach einem ordentlichen Stück des Weges fragte mich mein Vater, ob ich schon müde sei und er mich ein Stück tragen solle. Ich verneinte. (Und das ist jetzt interessant: heute, wie ich diesen Text schreibe und den alten reinkopiere, erinnere ich mich anders: Ich habe ihn gefragt, ob er mich trägt und er hat gemeint, ein Stück könne ich noch gehen! Weiter im ersten Text:) Später, als ich dann doch müde war, traute ich mich nicht, es ihm zu sagen. Also ging ich tapfer zu Fuß bis in die Kaiserau. Das sind einige Kilometer. Ich weiß noch, daß mein Vater stolz auf mich war, daß ich kleiner Knirps ohne zu Jammern so weit gegangen bin und er hat es auch öfters erzählt.
Dort kehrten wir irgendwo ein. Ob es ein Gasthaus war oder ein Privatbesuch, das weiß ich nicht mehr. Es müßte schon das Schloß gewesen sein. Ich glaube, es war doch ein Gasthaus.
Jedenfalls saß da ein Mädchen – etwa im gleichen Alter wie ich – auf dem „Thron“. So nannten wir diese Stühle mit eingebautem „Topferl“ zur Verrichtung der Notdurft.
Ich hatte auch so einen „Thron“ aus Holz zuhause, mit einer Sperre gegen das Herunterfallen vorm Bauch, auf der sich ein paar bunte Holzkugeln auf einer Metallspange befanden, die man hin- und herschieben konnte. Ich liebte meinen „Thron“ und fand ihn ganz super.
Das Mädchen hatte aber einen noch tolleren Stuhl - die Sperre bestand nämlich nicht bloß aus einer schmalen Holzleiste wie bei mir, sondern war eine richtige Holzfläche, wie ein kleines Reißbrett, eine kleine Tischplatte und sie konnte daher beim Verrichten der Notdurft zeichnen! Am Thron sitzen und zeichnen! Und Kugeln zum Verschieben hatte sie auch!
Ich stellte es mir ganz großartig und genußvoll vor, darauf zu sitzen und zu zeichnen.
Da verspürte ich zum erstenmal klar und deutlich Neid. Ich war ihr das neidig. Der Neid fraß sich richtig brennend in mein Gedärm.
Nur schwer konnte ich es aushalten, daß sie dieses Wunder an Stuhl hatte und ich nicht.
Ich glaube nicht, daß ich etwas gesagt habe, etwa in der Art: das will ich auch. Oder doch? Hier verdunkelt sich meine Erinnerung, wie ein Traumfragment, das sich an seinen Rändern auflöst. Auch an den Rückweg habe ich überhaupt keine zugängliche Erinnerung.


(5.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

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