Sonntag, 31. Dezember 2023

3500 Reise

 



Die erste Klasse ist gar nicht erstklassig. Keine Sorge: das wird keine soziologische Abhandlung, sondern wir sitzen im Zug von Graz nach Wien und unsere zweitklassig reservierten Plätze befinden sich in einem veralteten Erste-Klasse-Wagon, der als Ersatz zweitklassig genützt wird. Der Zug fährt los und ich will jetzt aus dem Fenster schauen. Das nämlich liebe ich beim Zugfahren. Ich kann Leute nicht verstehen, die während der Zugfahrt schreiben, lesen, Gespräche führen et cetera. Ich will auf die vorbeiziehende Landschaft blicken. Ich sinniere über den Plabutsch und seinen ehemaligen Sessellift – ihr seht, ich sitze auf der linken Seite. Links jetzt die schattigen Wälder und einige bizarre Felsen. Aber jetzt ist Schluß mit der Schreiberei! Ich will mich der meditativen Landschaftsbetrachtung hingeben.

Über den Himmel ziehen sich unzählige Kondensstreifen – würde mich interessieren, wer so signiert; vermutlich der ganz normale Wahnsinn. Fahrkartenkontrolle. Jetzt fällt mir ein: ich hätte einmal für ein ÖBB-Mysterie-Shopping einen Familienvater mit Frau und zwei Kindern mimen sollen – das wäre vielleicht noch gegangen - aber der noch dazu sein Auto mit dem Autozug nach was-weiß-ich-wohin versenden wollte – das ging nicht! Dieser Anforderung war ich nicht einmal schauspielerisch gewachsen. Da bin ich aus der Studie ausgestiegen. Übrigens: es herrscht herrlich sonniges Wetter. Und ich vermute, wir sind bei Fronleiten. Nein, noch nicht. Peggau/ Deutschfeistritz (im Unterschied zu Slovenski oder Ilirska Bistrica). Das stellenweise schluchtartige Murtal zwischen Graz und Bruck (oder umgekehrt). Jetzt habe ich die Mur links. Jetzt Fronleiten. Die beschissenen Lärmschutzwände stören. Sollen sie halt nicht zur Bahn hin bauen! Kalk, Zement, Müllentsorgung, Papier. Ah, wieder die Mur! Im grobm do scheint koa sunn. Eindrucksvolle Felsformationen. Die besonnten Wälder strahlen rötlich. Viel niedergeschnittenes Buschwerk am Murufer. Schneereste. Alte Gebäude neben denen Autos stehen – das tut den Augen weh. Eine gewisse Weite im Tal. Pernegg. Irre geformte Hügel. Erinnerung an einen hier absolvierten Rausch vor vielen, vielen Jahren (Wußte damals nicht, wie der Ort heißt, wo ich hin wollte; mußte das erst mit kompetenteren Fahrgästen ausdiskutieren und von Peggau nach Pernegg nachzahlen). Die gnadenlosen Straßenbauten. Kilometerlang schnurgerader, betonierter Strassenunterbau. Die Mur aufgestaut. Wir nähern uns Bruck an der Mur. Die Sonne scheint mir in dieser Kurve ins Gesicht, dann verschwindet sie hinter diesen bizarren Hügeln im Westen. Die Schlote und Dampffahnen von Bruck. Die Brücken schon vor Jahren reduziert. Der Bahnhof um zwölf Uhr Mittag. Mein Blick verliert sich in den typischen bahnhofsnahen Bauten und ihren gläsernen Durchblicken. Leute warten auf den Zug nach Villach, wir jedoch fahren weiter. Fabriken, dieses unerträgliche, unmögliche Gestellhafte! Das entwertet auch die wilde, chaotische Ufervegetation der Mürz. In dieser Tonart wird es das Mürztal hinauf weitergehen. Eine industriell eingeklemmte Kirche, fünf nach Zwölf. Kapfenberg. Ein Gegenzug fährt durch. Was war mit Triton? Ich habe die antike Gestalt vergessen, jetzt taucht sie öfters als Name auf Containern auf. Ist das Tal schön oder nur eigenartig? Mein Geist ist sonnenlicht- und eindrucksbenebelt. St.Marein/ St.Lorenzen; in beiden Orten war ich mal auf Party. Auf letzterer (Musik: nettesac redrocker) sehr, gar sehr betrunken. Ein interessanter flacher, interessant streifenweise bewaldeter Hügel. Das Tal wird auf langer Strecke von einer hellgrünen Lärmschutzwand durchgestrichen. In Kindberg taucht auch auf den Bahngleisen Schnee auf. In der Mürz ein einzelner Schwan. Der Mürzverband klärt Abwässer. Der Zug schleicht über die Mürz in den schattigen Schlurf. Das Bauernhaus auf der Leiten nicht unsympathisch (von der Weiten). Veitsch? Immer wieder diese hässlichen Industriebauten und ihr hässliches, hingeschmissenes Environment. Manchmal eine erholsame Baumgruppe im flachen Talboden, bevor sie von thujenbewehrten Gehäusel abgelöst wird. Die Eindrücke gehen sich alle nicht aus. Geräte, Gestelle, Baumaterial. Die Spazierwege durch die übrig gebliebenen Auwäldchen auch heimatschutzmäßig mißbraucht. Langenwang. Der Wald entlang des Bahndamms niedergelegt. Die Schneedecke wird stärker und geschlossener. Metallschrott. Oststeirisches Gekicher im Abteil. Mürzzuschlag. Die Zersiedelung klettert die Hänge hinauf. Und nun die Semmering-Basis-Tunnel-Baustelle. Da schau! Ein Schneemann hat sich gehalten. Spital am Semmering (wer ist hier krank?). Wir rollen ruhig den Berg hinan. Holzstapel am Waldesrand. Tunnel (wir betonen auf e). Wir fahren scheint’s nur mehr in Spiegelungen. Und schon oben, wo der Zug nicht stehen bleibt. Von nun an geht’s bergab. Der Eingang zur Unterführung unter die Bahntrasse wirkt wie der betonierte Einstieg in die Unterwelt. Tunnel. Der Wald in Bahngleisnähe gerodet. Die grünen (braunen) Schluchten des Semmering (noch keine Dämmerung). Aber Felsen. Viel winterliches Baumgestänge. Birken – ein ganzer Streifen entlang des Bahndamms. Ein leerer Feuerwehrschlauch hängt von einem Baum herab, läuft weiter über den Waldboden und geht unter den Bahndamm durch und verliert sich irgendwo im Wald (so weit ich sehen kann). Viele umgeschnittene Birken. Die große Kurve von Peyerbach (Reichenau hat sich bloß arrogant angehängt). Alles aper. Über Schlöglmühl auf Gloggnitz zua … das Schloss und die Ausstellung vor über einem viertel Jahrhundert (meine Frau zupft an meinem Gewand). Ohne Schnee ist der Winter eher hässlich; einzelne Bäume oder Baumgruppen stehen aber wunderschön da. Ein Flugzeug steht in der Luft.


(30.12.2023)


©Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

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