Mittwoch, 20. Dezember 2023

3489 „ Alois, wir vergessen dich nicht!“

 



Es ist ja so, dass meine Vergeßlichkeit immer ärger wird. Heute zum Beispiel, wie ich zum Frühstück hintergehen will, denke ich mir: ich nehme die Kalebasse … nein, wie heißt das schnell? … die Karaffe und das Glas, lege sie in den Wäschekorb, trage diesen mit jenen hinunter, weil ich ja heute Waschtag habe und bereite mir unten das Frühstück. Wie ich unten war – nur einige Sekunden später, bemerke ich, ich habe zwar Kaleb … Karaffe und Glas mit, aber nicht den Wäschekorb mit der oberen Schmutzwäsche. So geht das. Und abgesehen davon hatte ich immer ein Chaos in meinen Erinnerungen und meinen historischen Fakten (Wie war das? Wann war das? War das zuerst oder das andere? Oder habe ich es nur geträumt?).

Eine meiner Töchter borgt sich manchmal ein Hemd von mir aus. Meistens vergesse ich das, aber es kann schon sein, dass mir eines Tages, irgendwann, irgendwo, irgendwie so ein Gedanke kommt wie: ich hatte doch so ein Hemd? Ein recht buntes, wo habe ich das hingetan? Dann kann es sein, dass ich es suche und nicht finde (auch in meinen Kleiderablagen herrscht Unübersichtlichkeit und Chaos). Dann kann es sein, dass nach ein paar Stunden oder Tagen eine vage Erinnerung auftaucht, dass ich es meiner Tochter geborgt haben könnte, hmm, da war doch was (oder habe ich das nur geträumt? Oder war das früher einmal? ein anderes Hemd? Oder bilde ich mir das nur ein?). Sicher also bin ich mir meistens nicht. Na gut, ich könnte ja nachfragen. Beim nächsten Kontakt – wenn ich es bis dahin nicht wieder vergessen habe – kann es dann schon sein, dass ich frage: „Könnte es nicht sein, dass du von mir noch ein Hemd hast?“ Vorsichtig frage ich das, denn es ist schon vorgekommen, dass ich es ihr geschenkt hatte und genau das wiederum vergessen.

Letztens in der Kälteperiode ist mir ein besonders warmes Winterhemd abgegangen. Beim nächsten Familienessen frage ich meine Tochter, ob sie noch ein Hemd von mir hat. Die Kälteperiode war schon vorbei, deswegen ging es mir gar nicht darum, das Hemd unbedingt zurück haben zu wollen, sondern vor allem mein Erinnerungschaos zu ordnen. „Ja“, antwortet sie, „ich habe noch eins. Beim nächsten Mal bringe ich es dir mit“. Was sie dann noch genau gesagt hat, habe ich schon vergessen (oder sollte ich nicht mehr richtig zugehört haben?).

Bei einem Essen im erweiterten Familienkreis - nicht bei uns, nicht bei meiner Tochter - hat meine liebe Tochter das Hemd mitgebracht, in der Garderobe abgelegt, mich aufgesucht und ganz genau erklärt, wo sie es hinterlegt hat, auf dass ich es beim Nachhausegehen mitnehme. Das Essen ging – wenn ich diese schräge Floskel verwenden darf – seinen Gang und ich hatte das Hemd völlig vergessen. Meine Tochter verließ die Runde früher als ich und als ich beim Aufbrechen war – und ich trinke seit 20 Jahren keinen Alkohol! - war vom Hemd nichts mehr in meinem Bewußtsein. Den Gastgebern fiel später das zurückgelassene Hemd auf und nach einiger Recherche war ihnen klar: das muß mein Hemd sein. So bekomme ich nach ein paar Tagen eine Nachricht aufs Handy, dass ich mein Hemd vergessen habe und ich es jederzeit abholen kann. „Welches Hemd!“, denke ich mir, „ich habe dort mein Hemd doch gar nicht ausgezogen! Komisch!“ Aber auch da bin ich mir nicht wirklich sicher, wie gesagt: ich bin mir meiner geschichtlichen Fakten nie ganz sicher und rechne immer mit Überraschungen, als würde es einen Doppelgänger geben, der zeitweise an meiner Statt handelt und von dessen Eskapaden ich nichts genaues weiß. Ich schaue auf den Kleiderhaken und dort hängt das Hemd, von dem ich glaube, ich hätte es an besagtem Abend angehabt. Also rufe ich an und frage verwundert wegen dem mysteriösen Hemd nach. Nach einigem Hin und Her fällt mir doch die ganze Geschichte an diesem Abend wieder ein und dass mein Töchterchen das Hemd mitgebracht hatte und so weiter. Interessant: ich hatte nicht nur vergessen, das Hemd mitzunehmen, ich habe das Hemd selbst in seinem Wesen und mit seinen Ingredienzien, seiner Existenz und seiner Geschichte komplett vergessen.

Also fahre ich gestern am späten Nachmittag hin, um das Hemd abzuholen. Die U-Bahnen und Straßen sind völlig überfüllt und überrannt, die Sache selbst ist jedoch schnell erledigt, ich habe keine Zeit, weil ich noch Einkaufsaufträge abzuarbeiten habe („Mein Gott! Jetzt übertreibt er wieder!“ - der Eintipper), entschuldige mich für die Umstände, die ich gemacht habe (zumindest innerlich, falls ich es auszusprechen vergessen haben sollte) und bringe noch die lustige Geschichte von der Alois-Alzheimer-Gedenktafel an dessen Geburtshaus an, wo ein/e geniale/r Spaßvogel/vögelin hingesprayt hat: „Alois! Wir vergessen dich nicht!“ , eile dann in dem ganzen Weihnachtstrubel auf die Mariahilferstraße, kämpfe mich durch zur U3, als sie kommt dränge ich mich in den Waggon, der auch recht voll ist und wo alle Sitzplätze besetzt sind. Eine Frau will aufstehen um mir Platz zu machen, ich winke gnädig in jovial-großzügiger Geste ab, aber innerlich denke ich mir: „Verdammt! Schau ich wirklich schon so alt aus? Naja, mit dem Erfolg bei den Frauen ist es endgültig vorbei!“ (Ich sehe mich selber viel jünger als ich bin). Bei der nächsten Haltestelle steigen einige Leute aus und viele ein, es wird zwar kurz ein Sitzplatz frei, aber ich bleibe stehen. Ein Mann setzt sich auf den freien Platz und da er in mittlerem Abstand schräg mir gegenüber sitzt, schaut er mich an und nach ein paar Sekunden deutet er mir mich fragend, ob ich den Platz haben wolle. „Verdammt“, denke ich, „schon wieder!“ und winke freundlich ab. Dann aber gehe ich näher zu dem Mann hin, auf dass er meine Worte verstehen kann und sage: „Sie brauchen sich nicht schrecken! Ich schaue einfach sooo grantig drein!“ und grinse und er lacht auch unter seiner Maske.

Ach ja! Bevor ich es vergesse: das Hemd, das mir meine Tochter mitgebracht hat, war gar nicht das Winterhemd, das ich die ganze Zeit im Kopf hatte, wenn ich es im Kopf hatte, sondern ein weißes, das auch schon längst in meiner Vergeßlichkeit versunken war.


(20.12.2023)


Peter Alois Rumpf Dezember 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

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