Donnerstag, 30. April 2015

124 Die gedankenlose Beschleunigung


Da geht frau oder man gemütlich nach Arbeitsschluß, nachdem frau oder man vorschriftsmäßig Headset und Computer mit dem Desinfektionstüchlein gereinigt hat, oder auch nicht, und alle ihre oder seine Kugelschreiber, Bleistifte, Zettel, Notizbücher und anderes nichtverbotenes Zeugs – private Sachen sind am Arbeitsplatz nämlich verboten – eingesteckt und ihren oder seinen Rucksack oder Tasche oder Sackerl oder ähnliches aus dem Spind geholt und eventuell ihre oder seine Jacke oder Mantel vom Kleiderbügel genommen und angezogen oder über den Arm gelegt oder was immer hat, da geht nach all dem also frau oder man – wie schon gesagt – gemütlich zum Ausgang des Großraumbüros - oder besser gesagt des Callcenters, hat noch ein paar Meter dorthin und dann steht so ein Idiot an der Tür und hält sie für die Nachkommenden auf. Jetzt fühlt frau oder man sich genötigt, schneller zu gehen, um den armen, überhöflichen Türaufhalter nicht zu lange warten zu lassen und legt die paar Meter beschleunigt zurück, obwohl frau oder man es nach der Arbeit langsam angehen wollte.
Heute war ich der Typ an der Tür. Nur um das klarzustellen.

Nachdem ich das Handy aufgedreht – während der Arbeit muß es abgedreht sein; das steht groß an der Tür – und die Toilette besucht habe, bin auch ich gemütlich die Stiegen hinuntergegangen und in den Regen hinaus.

Das war gestern. Heute wiederum saß Comuskra Dengli im Trockenen. Im Untergeschoß eines Einkaufszentrum und aß billiges Schnitzel mit Erdapfelsalat. An der Wand steht, daß es Schenkel-geschälten Spargel gibt. Wie geht das? Wie schenkelgerollte Zigarren? Nur umgekehrt? Nicht ernst nehmen! Nur ein Scherz mit einem Firmennamen.

Eine Stunde vorher ist er beim großen, schlanken Mann gesessen, hat geatmet und hat festgestellt, daß er zu dick ist. Ab jetzt wird er Asket. Das war sein Entschluß. Ab heute. Er wird alle seine überflüssigen Kilos runterfasten und jeden Bissen mindestens dreißigmal kauen, wenn es geht hundertmal. Er wird alle seine schlechten Eigenschaften rausfasten. Nur Reis essen. Das Gift wird es nur so raustreiben! „Ich werde die ganze Welt niederfasten!“, denkt er. Jetzt sitzt er beim Kaffee. Er nimmt einen Schluck. „Ab morgen ist der gestrichen!“ Sogar eine Thermoskanne für den Kräutertee hat er sich gekauft. Der Kaffee tut seine Wirkung und das Herz klopft.

In der Garage gegenüber hebt und senkt ein Elkaweh seinen Arm und wird gleich wegfahren. Irgendwer klatscht. Es tütet lästig und blinkt aufdringlich. Jetzt fährt er wirklich weg und hinterläßt einen Geruch. Eine Frau mit weißen Haaren fährt am Rad vorbei. Sie kann Chinesisch und ich habe sie vor fünfunddreißig Jahren zum letzten Mal im Makrokosmos gesehen.

Der Mann mit der extrem schräg aufgesetzten Baskenmütze kommt mir auch bekannt vor. Er hält sein Rad am Lenker wie ein sanfter Cowboy sein Pferd am Zügel.

Auf jeder Straßenseite geht ein Fotograf. Der eine dick, der andere normal. Der eine mit glatt rasiertem Kopf, der andere mit Haaren. Ich glaube, sie wissen nichts voneinander.

Jetzt kommt ein Elkaweh aus der Garage mit einer vollen Mulde auf dem Rücken. Ein Mann schiebt sein Rad und telefoniert, ein anderer geht ohne Rad und hält sein Handy vor sich. Der betrachtet es konzentriert. Ein kleiner Elkaweh fährt verkehrt in die Garage. Immer wieder stapfen tapfere Leute vorbei.

Eine zarte Dame schaut mißtrauisch aus der Tür. Wieder surrt und scheppert es, als würde sich ein Elkaweh beladen.

Auch ich trage zuviel Ballast am Bauch. „Friede den Hütten, Krieg den Ballästen!“
Manche Passanten stapfen nicht, sondern schleichen oder schieben sich vorwärts. Die meisten von rechts nach links. Jetzt kommt eine männliche Viererbande in Leder mitten auf der Straße von links nach rechts.

Camillo Zorres sagt. „Nein! Nein! Nein! Fasten kommt nicht in Frage! Ich will essen, saufen, rauchen, rülpsen, furzen ….. das volle Programm! Ne! Ne! Ne! Nichts da mit Verzicht! 'Verzichten ist die schlimmste Art sich gehen zu lassen',“ zitiert er Don Juan. „Nein! Dann bin ich viel zu schwach für die Welt! Voll in der Welt sein – das ja! Daß einem das Fett von Kinn tropft und man es mit dem Handrücken abwischt, und die Weiber voll Lust anschaut und dabei grinst. Und vor Vergnügen kichert und seine Fülle wälzt. Wer mich sieht, weiß sofort, was los ist. Ich bin sinnlich und korrupt. Ich bin zu jeder Schandtat bereit, inklusive Fett und Zucker.“ Das sagt Camillo Zorres.

„Bäh!“, denkt Comuskra Dengli, „ich will leicht wie eine Feder sein und trotzdem fest und drahtig. Wie ein gespannter Bogen. Der Pfeil abschußbereit. Ich bin schnell, beweglich und nicht zu fassen. Die Welt erwischt mich nicht; ich entwische ihr, wann ich will. Ich lasse mich nur auf Sachen ein, die ich will. Ich bin ganz schnell weg. Die Markwardstiege laufe ich in einem durch, ohne zu schnaufen. Mit den lauten Geräuschen habe ich es nicht so. Die schwerfällige Dame im leopardengemusterten Mantel ekelt mich an. Wenn ich noch dünner sein werde, dann nicht einmal das. Ich werde die ganze Welt und ihre Übergriffe wegfasten. Rein werde ich sein. Unberührt wie eine Jungfrau und keusch.“

„He, he“, sagt Camillo Zorres, „du redest nur und sagst das beim Kaffee. Du bist ein Schwindler. In Wirklichkeit hast du Angst vorm Leben. Saure Trauben! Schau mich an, ich bin super, ich...“

Ein mönchshaft frisierter und mürrisch dreinschauender älterer Mann geht vorbei. Camillo Zorres hat Ausschau nach schönen, prallen Weibern gehalten, aber keine gesehen. Comuskra Dengli lächelt überlegen. Auch wenn er Sex macht ist er keusch, so ätherisch ist er schon! Abgerechnet wird zum Schluß.

Ich selber sitze im Cafe und schaue dem fünfundzwanzigsten Lastwagen zu. Und wieder surrt und scheppert es. Und noch eine Maschine jault wie ein Zahnarztbohrer in Stimmlage Bass, drüben, in der Garage. Jetzt hört man, daß geschaufelt wird. Sehen kann ich es nicht.

„Excellence“ steht am Auto, gelb in Rot auf Gelb. Passt gut zu der frankophonen Umgebung. Die zarte Frau hält sich zwei Sekunden lang an der Stange an, dann zieht sie kraftvoll und fährt die Markise aus.
Jetzt bin ich ratlos. Should I Stay Or Should I Go? Wieder kommt ein Lastwagen und stellt sich her. Auf ihm steht. „we go – austria“. Also zahlen und gehen wir.

Am Weg hat sich der Dreizehn A zweimal leise von hinten angeschlichen, ganz knapp. Ich bin darauf aber nicht eingestiegen. Ich bin ein Pilger, der geht. Schon wieder die Sirenen der Rettung; mehrfach; das geht hier schon seit Tagen so.

Ich sitze bei meinen Lieblingsbäumen. Es stinkt wie so oft nach Hundescheiße. Irgendwer räumt sie nicht weg. Die unbekannten Sträucher blühen in Kolben. Eine Frau raucht in der Haustür. Müde Männer ziehen an ihr vorbei. Kontaktlos und ohne Achtung für sich und die Frau.
Ich sitze im Wind, der mich frisch macht. Kalt ist er und unberechenbar. Heute benutzt die gelbe Macht keine Wächter. Orange Frauen kommen heraus. Die Tauben mißverstehen mein Sitzen; sie glauben ich füttere sie. Ich schreibe nur stumm meine Sätze und der Wind spielt mit dem Papier.

Der Mann aus Selzthal geht wieder vorbei. Er hat mich angeschaut, vielleicht erinnert er sich. Ob er heute noch schreibt? Früher hat er geschrieben. Ich rede ihn nicht an.
Eine Frau in Rot schaut keck auf mein Buch, in das ich die Sätze schreibe. Ist sie nur neugierig oder will sie korrigieren? Eine Lehrerin in Pension?
 
Ich werde jetzt langsam aufstehen und mich vor den Bäumen verbeugen und dann weitergehen.

Die eine Pflanze legt ihre Zweige und Blätter wie feierlich schmückende Palmwedel an die Wand. Als käme ein Großer vorbei, auf einem Pferd oder einem Esel; von mir aus im Auto. Aber dann wird er zu schnell vorbeifahren und die Ehrung nicht sehen. Und überhaupt hier im Callcenter! Bei der Callcenteratmosphäre!





©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 28. April 2015

123 Im alten Haus


Es war in meiner Grazer Zeit als Student. Noch vor der „wilden Kommune von Geidorf“. Ich wohnte in einer typischen Studentenbude. Vorher hatte ich in einer reinen Männerwohngemeinschaft im größten Hochhaus von Graz gewohnt. Nachdem aber derjenige von uns, der den Mietvertrag unterzeichnet, monatelang keine Miete gezahlt hatte, flogen wir raus. Was er mit unseren Mietzahlungen an ihn gemacht hatte, weiß ich nicht. Viel ist uns nicht passiert, da er selber der Hauptmieter war – wir mußten nur schnell neue Zimmer finden. Und ich fand bei der Zimmervermittlung der Österreichischen Hochschülerschaft ein billiges Zimmer gleich gegenüber dem Hauptgebäude der Universität.

Das Haus war ursprünglich ein alleinstehender Gutshof außerhalb der Stadt, aus der Zeit der Renaissance, denkmalgeschützt wenn ich mich richtig erinnere, und gehörte einer älteren Dame, die gleich ums Eck wohnte. Das Zimmer war im Dachgeschoß, groß, aber dunkel, mit nur einem kleinen Fenster in den Innenhof. Das Wort „Innenhof“ ist mißverständlich, denn es war ein großer Garten. Die Häuser der Gassen, dicht aneinander gebaut, bildeten ein großes Rechteck, wo sich innen, an den Rückseiten der Häuser, lauter Gärten  befanden. Von meinem Fenster aus betrachtet ein einziger riesiger Garten.

Das war ein schöner Anblick und in der warmen Jahreszeit konnte ich ohne weiteres bei offenem Fenster schlafen. Der Verkehrslärm war von dieser grünen Oase so gut wie ausgeschlossen und wenn mich etwas geweckt hat, dann war es das Gezwitscher der Vögel. Das mochte ich aber.

Ansonsten war es eine typische Studentenbude aus der Vorstellungswelt der Fünfzigerjahre oder früher. Unterm Dach, dunkel, kleines Fenster, Klo im Keller, natürlich keine Dusche. Das Waschbecken hatte keinen Syphon und deswegen stank es vom Kanal direkt ins Zimmer, besonders bei Tiefdruck. Aber ich wußte mir zu helfen. Ich klebe den Überlauf im Waschbecken mit einem Klebeband zu, gab den Stöpsel auf den Ausguß und ließ immer etwas Wasser im Waschbecken stehen. So hatte ich mir einen improvisierten Syphon „nachgebaut“. Nur bei starkem Tiefdruck stank es trotzdem. Das Klebeband war nicht ganz luftdicht auf dem glatten, irdenen Waschbecken und drohte öfters - vom Kontakt mit dem Wasser gewellt – sich abzulösen.

Als ich das Zimmer besichtigt hatte, habe ich es gleich genommen, weil es billig und ich für so eine - wie kann ich sagen? - Neunzehntes-Jahrhundert-Romantik durchaus anfällig war.
Mein Freund Hannes, als er einmal auf Besuch war, fand das Zimmer schrecklich. Er hatte nichts mit rückwärtsgewandten Projektionen im Sinn. Ich glaube, letztlich hatte er recht. Denn abgesehen vom Garten habe ich von dort nur vage und verschwommene Erinnerungen. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals einen längeren Tag oder einen schönen Abend in diesem Zimmer verbracht zu haben. Ich war die ganze Zeit in Lokalen unterwegs und trank.
Weil mir der Weg ins Klo im Keller zu blöd war, pinkelte ich meistens ins Waschbecken. Und wenn ich am Morgen „groß“ aufs Klo mußte – der Morgen war immer recht spät – ging ich hinüber zur Uni, um die Toiletten dort zu benutzen. Für Vorlesungen benutzte ich diesen Weg auf die andere Straßenseite kaum noch. Die Toilette im Haus unten im Keller – muffig, feucht, kalt – habe ich nur sehr selten besucht.

Nur an einen Abend kann ich mich dunkel erinnern, den ich „zuhause“ verbrachte und der war schrecklich. Ich wußte mit mir in dem Zimmer nichts anzufangen und hatte extreme Angstzustände. Ich weiß nicht mehr, warum ich mich gezwungen hatte, im Zimmer zu bleiben, und ob ich spät in der Nacht nicht doch wieder davongerannt bin. Ich weiß es einfach nicht mehr.

Die Hausbesitzerin, die das Zimmer vermietete, war noch – wenn ich eine Floskel aus früheren Zeiten verwenden darf – vom alten Schlag. Damenbesuch war nur erlaubt, wenn man sie vorher mit der Vermieterin bekannt gemacht hatte. Wer sich da wie in einem Film spätestens aus den Fünfzigerjahren fühlt, liegt ganz richtig.
Am Sonntag alle zwei Wochen lud mich die Vermieterin zum Essen bei sich ein mit anschließendem Geplauder. Ich ging immer etwas befangen, mit unguten, fast schuldbeladenen Gefühlen hin.

Es gab da im Dachgeschoß noch einen studentischen Mieter, der im anderen Zweiwochenrhythmus zum Essen bei ihr eingeladen war. Der paßte besser in dieses Ambiente. Ich glaube, er war ein Burschenschaftler, jedenfalls stufte ich ihn als sehr rechts ein, und ihm gegenüber war ich sehr reserviert. Obwohl er mir eine elektrische Kochplatte geborgt hatte, die ich ihm beim Auszug verdreckt zurückgelassen hatte.
Er hatte im Stiegenaufgang zu unseren „Buden“ - man muß sich den als eine enge Dachbodentreppe vorstellen – ein Scherzplakat hängen, das einen jüdischen Superman vor der Kulisse New Yorks darstellte, mit Hut und Bejkeles und das „S“ von superman auf der Brust in hebräischer Schrift. Das verwendeten er und seine Kumpanen als Zielscheibe für Dartspiele, wie ich aus den vielen „Einschußlöchern“ schließen konnte. Und ein vages Bild, daß ich sie gesehen oder gehört habe, wie sie auf dieses Plakat ihre Pfeile geworfen haben, geistert in meinen Erinnerungen undeutlich herum.

Einmal bin ich im Rausch nach Hause gekommen und habe dieses Plakat heruntergerissen und ihm vor seine Tür gelegt. Am nächsten Tag, als er mich darauf ansprach, war ich total verkatert und ging ihm gegenüber vollständig ein. Er drehte es so, daß ich der Antisemit wäre, der ein „jüdisches“ Plakat heruntergerissen hat. Wobei er schon so argumentierte, daß ich, wenn mich das Plakat gestört hat, doch vorher mit ihm reden hätte können, er hätte es entfernt, aber es einfach herunterreißen – das geht nicht.
Also ich wußte damals nichts zu entgegnen und stand verkatert, unsicher und sogar schuldbewußt vor ihm. Vielleicht war es doch eine Unterstellung, daß das Plakat als Zielscheibe für Dartpfeile zu benutzen, antisemitisch gemeint war und die haben sich bloß wenig gedacht dabei? So ganz unschuldig. Ein schüchterner Besucher von ihm stand verlegen grinsend dabei und sagte nichts. Ich war wirklich verunsichert und mir fehlte die Sicherheit, die ich in der Nacht im Rausch hatte, und schließlich entschuldigte ich mich für meinen Übergriff.
Das Plakat als solches war sicher nicht antisemitisch, sondern entsprang – denke ich – jüdischer Selbstironie.

Ja, es hilft eben nichts, wenn man zwar im Denken radikal ist und doch als verklemmter, schuldbeladener Typ herumläuft, der erst nach ein paar Bier oder Achterl „aufblüht“.
In meinen Ansichten war ich damals extrem. So hatte ich meine Vermieterin bei einem der Sonntagsessen sehr irritiert. Sie hatte im Smalltalk über die Verkommenheit unserer Gesellschaften heutzutage geklagt und als Beispiel die Streichung des Inzestparagraphen aus dem Strafgesetzbuch in Schweden angeführt - so in dem übereinstimmungserheischenden Ton „Und stellen Sie sich vor! In Schweden....“ Und ich hatte bloß geantwortet: „Man muß das ja nicht tun, auch wenn es das Gesetz nicht verbietet. Außerdem soll sich da der Staat nicht einmischen.“ Sie hat mich völlig entsetzt und verwundert angestarrt – das von einem Theologiestudenten!

Mit dieser Lockerheit und Nonchalance würde ich heute das Thema Sexualität und Strafrecht nicht mehr behandeln; man denke nur an das Thema Kindesmißbrauch. Auch die deutschen Grünen hatten Probleme damit. Aber ich lebte damals – geistig – in diesem Kosmos und hatte auch brav die Kursbücher I und II über die „Verkehrsformen“ studiert, in denen es um die „Befreiung der Sexualität“ von allen gesellschaftlichen „Fesseln“ ging. Vielleicht war das erst etwas später, aber die „sexuelle Revolution“ hatte ich als Programm schon aufgenommen. Heute wird mir sehr unwohl dabei, wenn ich daran denke, und das Thema ist mir äußerst unangenehm.

Allein Bücher mit Aufsätzen über des Thema „Sexualität“ mit „Verkehrformen“ zu übertiteln, zeugt schon von einem völlig vom Leben, den Empfindungen und Gefühlen abgeschnittenen Intellekt, herzlos und ohne jede Empathie, ohne jede Fähigkeit, andere als eigenständige und empfindende, fühlende Wesen wahrzunehmen. Letztlich auch sich selber nicht. Das ist reine Ideologie. Und ein solcher Intellekt ist sehr gefährlich – egal ob er von rechts oder von links kommt.

Apropos Theologiestudent. In diesem Haus befand sich unter anderem auch das Institut für Altes Testament der theologischen Fakultät und ich bin einmal zu einer Prüfung einfach mit meinen Schlapfen vom Zimmer im Dachgeschoß hinunter ins Institut geschlurft. Bei dieser Prüfung bin ich dann durchgefallen, aber sicher nicht wegen meiner Schlapfen, sondern weil ich zu wenig gelernt hatte. Damals ging ich nicht mehr zu Vorlesungen, sondern schaute so ein, zwei Wochen vor den Prüfungsterminen nach, welche Prüfungen ich ablegen könnte – Stichwort Stipendium – und schaute mir die Skripten durch; meistens genügte das auch. Ich Wirklichkeit war aber mein Studium schon längst am Zerbröseln.

Jedenfalls war ich froh, als in der Geidorfer Wohngemeinschaft, wo ich schon oft als herumsitzender Besucher ein und ausging, ein Zimmer frei wurde.






©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 26. April 2015

122 Sonntagssplitter


Ich liege noch im Bett. Verschlafen genieße ich den Morgen. Ich habe schon ein Bad genommen, mich dann aber wieder hingelegt. Und tauche kurz wieder weg in den Traum. Ich sage: „Frau! Schick die Kinder mich aufwecken!“ Dann wache ich auf und muß lachen. So ein märchenhaftes Pathos! Das nehme ich dir niemals ab! Also mir. Nur mühsam komme ich aus dem Bett. Weil es da so schön ist.
Beim Frühstück sitzen alle beisammen. Ich schneide das Josefsbrot auf.

Jetzt sitze ich im Glashaus und werfe nicht mit Steinen. Der freie Kaffee ist noch nicht serviert.
Draußen im Freien, da werfen die Pappeln ihre Wollflocken ab, wie ein stilles, langsames Schneien im Frühling. Die Menschen gehen, laufen und sitzen, und liegen auf Decken im Gras. Das wurde schon einmal gemäht. Ich schreibe auf alten Kassazetteln, die ich in den Sakkotaschen fand, weil ich mein Notizbuch vergaß.

Ein Black-Out steht gelb an der Wand. Die Wolken ziehen langsam heran, noch nicht bedrohlich, doch bald. Ein Wind kommt auf und wird immer stärker. Der Rand der Wiese ist von Wollflocken übersät.
Noch bricht die Sonne immer wieder durch. Der Wind bewegt die Bambushecke stärker und mit mehr Kraft. Die einzelnen Wolkenfetzen verdichten sich zu Wolkenfeldern und dünkler werden sie auch. Die Pappeln blinken leisen Alarm mit ihren zitternden Blättern.

Die rote Frau macht ihrem Mann ein sanftes Kung-Fu. Die Tochter erklärt den Eltern die Sache, sie blickt dabei etwas streng.
Jetzt ist der Himmel verdunkelt.

Zuhause bin ich vorm Computer, verfolge ein Fußballspiel im Liveticker, spiele dabei Mahjongg. Gehe herum. Rede auch manchmal mit Frau und Kindern (lol). Zünde am Ofen eine Kerze an und mache eine Aufwärmübung, eine Übung zur Reinigung von Körper und Energie und die Quellübung. Aber nicht lange, nur kurz. Also sehr wenig.

Bis zum Abend hat der Wind die Wolken wieder verjagt. Nur im Osten liegt eine schwarze Wolkenbank. Ich gehe auf die Brücke um die Sterne zu begrüßen. Ich kann den Mond beim Jupiter sehen, weiter rechts die Venus. Den Oberteil von Orion mitsamt seinen Gürtel und Prokyon vom kleinen und Sirius vom großen Hund, seinen Begleitern. Jetzt um die Zeit legt sich Orion schon nieder. Ich kann auch den Aldebaran noch erkennen, für die Plejaden ist es zu hell, auch wenn ich mit den Händen die Augen gegen das Licht der Straßenlaternen abschirme. Von manchen Sternbildern kann ich nur ein paar wenige Sterne erkennen, darum bin ich mir manchmal unsicher, wer wer ist. So überlege ich lange, ob das da vorne gegen Norden die Cassiopeia ist, oder doch die Deichsel vom großen Wagen. So lange wars eigentlich auch wieder nicht. Zu Hause schaue ich dann im Internet nach. Es war schon die Cassiopeia. Ja und wieder Capella, die kleine Ziege vom Fuhrmann, die dort am stärksten aufleuchtet. Im Osten kann ich noch den Arktur erkennen, vom Bärenhüter, der manchmal auch Rinderhirte genannt wird. Er ist der älteste Stern, den man mit freiem Auge sehen kann und leuchtet über hundertmal heller als unsere Sonne. Mir wird etwas kalt und gehe nach Hause.

Wieder sitze ich vorm Computer und beginne auch, das da zu schreiben. Ich werde nachher noch eine Übung für die Verbindung zu Erde und Sternen machen und eine fürs Träumen. Dann gehe ich schlafen. Es war ein sehr schöner Tag. Im Bett dann sag ich noch Danke.


©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 25. April 2015

121 Die glühenden Augen


Am Morgen bin ich in Zeitnot geraten, ich war dann rechtzeitig da.
Mit federndem Schritt, den Rucksack im Rücken, bin ich nach Osten marschiert.

Die Bäume der langen Allee sind alle leicht schräg aufgestellt.
Im Raum im Haus drinnen da spiele ich viele verschiedene Rollen.
Ich bin ein Vater, der seine Tochter schlägt und sie verstohlen umschleicht. Ich schlage sie, weil es mir Angst macht, was sie bei mir auslöst. Ich trinke und will, daß wenigstens meine Füße im Licht sind.

Oder ich bin die Distanziertheit, die aufpasst, daß die Großfamilie auf Distanz bleibt. Ich zeige den Personen im Spiel, wo das Herz seinen Platz gefunden hat, ganz nah bei der kleinen Herde.
Und ich zeige, daß in ihren Augen eine ungeheure, tiefe Kraft strahlt.

Die Sonne kommt gerade über die Dächer, obwohl es schon über zwei Uhr ist.
Jetzt rutscht mein Kopf in die Sonne. Jetzt fällt mir gar nichts mehr ein.
Ich kann die Szenen nicht halten. Sie versinken wie Teile des Traums.
Die Sonne bescheint mich von vorne, von hinten bebläst mich der Wind.
Die Stämme der Bäume verschättern die Straße, soweit ich sie seh.

Ein alter Mann setzt sich vorsichtig nieder, nachdem er die Bank überprüft hat, mit leicht übers Holz streichenden Fingern. Oder bestehen die Bretter aus Plastik? Ich habe das nicht überprüft.
Jetzt liest er mit einer Lupe das Flugblatt eines Supermarktes und studiert aufmerksam die Sonderangebote. So vermute ich es zumindest.

Eine schöne Frau mit wiegenden Hüften geht leise an mir vorbei. Ich bemerke sie erst aus einer gewissen Distanz.
Der alte Mann blättert sorgfältig um, was im böigen Wind nicht ganz leicht ist.

Ich sitze wieder im Flur, und harre der Dinge, die kommen. Die Stille ringsum ist angenehm und surrt im Inneren laut. Das laute Läuten an der Tür hat das innere Geräusch leiser gestellt.

Ich bin viele Männer im Krieg. Wenn das Volk ruft, dann kämpfen wir stumm. Oder laut. Das ist gar keine Frage. Wenn wir die andern nicht erschießen, dann erschießen die anderen uns. Da kommt der Alarm, da geht’s wieder los. Ich greif zu den Waffen und ab in den Kampf.
Ich werde mir selber unheimlich und bitte die Choreographin mich aus dem Spiel zu schicken.

Ich habe ganz viele Helfer: den Peter, die Fähigkeit „ja“ zu sagen, die Fähigkeit „nein“ zu sagen, meinen eigenen Willen, die Schreiberei, das, worum es noch geht – das ist dann die Freiheit, die tanzt..... Die Schreiberei hatte ich fast vergessen, obwohl sie mir so viel Freude bereitet. Der Peter windet sich raus. Aber dann ist er wieder ganz da. Der Wille der andern steht gegenüber. Er macht meinen Willen zuerst schwach. Aber dann sind alle gestärkt und legen mir ihre Hände auf. Ich fühle eine ungeheure Kraft. Mir wird davon heiß. Selbst der Wille der anderen lacht. Ich bin im Moment wirklich glücklich.

Die Freiheit hat glühende Augen, und tänzelt verlangend herum.



©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 24. April 2015

120 Warten


Eine ganze Karawane von großen Platanen zieht durch das schrille, laute Licht.
Ein Mann spuckt seine verächtliche Miene aus. Es gelingt ihm nicht ganz, denn sie bleibt im Gesicht. Eine in der oberen Hälfte rote Frau läßt sich durch die Straßen ziehen.

Das schrille Dröhnen und Surren wird lauter und lauter und tut schon den Ohren weh. Stille, leicht schräg gestellte Quadrate beruhigen die Nerven.

Ich warte. Ich warte und warte geduldig und schreib das noch schnell in das Buch.
Ich schaue in den Flur und frage mich wie immer: wo führt er hin? Und wann werde ich aufgerufen? Wie schon tausende Male voller Erwartung und Angst. Durch welche Türe werde ich gehen? Und welcher Weg wird sich daraus ergeben? Ich bin schon sehr mit meinen Sachen beschäftigt.

Mit rutschenden Bewegungen radelt eine Frau vorbei. Auf meinen Blick hin kontrolliert eine Frau ihren Busen. Ab jetzt werde ich wegschauen. Ein Schatten legt sich über den Admiral in der Ferne. Längst wieder sitz ich im Freien.

Ein Auto sagt: „Go!“ Gilt das auch für den Fahrer? Oder nur für den deutschsprachigen Raum?
Das Grün der Platanen scheint bräunlich gelb. Die Männer im Auto sind cool.
Der Fahrtwind bewegt die T-Shirts. Der Mann trägt sein Brot ganz obszön.
„Ich halte, was ich verspreche!“ sagt ein Mann mit der Tasche. Spielwaren werden jetzt stark reduziert.

Durchtrainierte Oberkörper mit telefonierenden Köpfen lassen sich von durchtrainierten Beinen durch die Gegend tragen.
Eine Frau in Schwarz tritt aus dem Haustor und trifft auf einen Mann in Schwarz, ohne ihn zu erkennen.
Die Radfahrerin hatte ein Ikonengesicht unterm Helm. Ein junges Mädchen mit prächtigen Haaren tänzelt über die Stufen. Angestrengt vermeide ich den Blick auf die vorgebeugten Radfahrer. Innen. Sie rasen alle auf mich zu.
Eine Schulklasse mit breiter Lehrerin bewegt sich wie eine robbende Masse vorbei.
Der Putzdienst schaut streng, lächelnd, vertrauenerweckend. Er ist sicher ein guter Vater. Sie eine gute Frau.

Auf den Stufen der Kirche wird geraucht und händisch telefoniert. Drei Männer besteigen ein Auto. Im Kopf erklär ich dem Geisterradfahrer die Richtung. Der Bauch einer Frau hat vierundachzig. Was, steht nicht auf dem T-Shirt. Zwei vorüberschlurfende Frauen machen mich leicht nervös. Ich bin entsetzt, daß Frauen immer einen Mann suchen. Eine rote Frau benutzt das Fahrrad einer gelben Macht. Warum wundert es mich dann nicht, daß Männer nach Frauen gaffen?
Eine Taube überquert die Straße per Luft. Eine bestimmte Blase drängt mich zum Aufbruch.
Die Sonnenflecken sind gerade sehr interessant und sehr schön.

Plötzlich glaube ich, ich brauche nur schnipsen, und alle Frauen gehen mir zu. Aber ich verwechsle Leber und Milz. In diesem Spiel habe ich viele Rollen. Ein Vater als Rangierbahnhof. Und einmal starre ich gegen die weiße, nackte Wand. Ich sehe sie flimmern und pulsieren, ein ganzes Universum für sich.
Eine schöne Frau hat sich schon vor meine Füße gelegt und atmet laut. Ich glaub, das ist nur ein Zufall..

Ich bin ein starkes Herz. „Heiß umfehdet, wild umstritten liegst der Erde du inmitten, einem starken Herzen gleich.“ Ich denke, ich gehe jetzt besser schlafen.



©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 23. April 2015

119 Der Typ in der Glastür


Ich sitze am Ufer des Nil. Mir gegenüber spiegelt sich ein eigenartiger Typ in der Glastür. Er scheint zu grinsen und die Haare stehen ihm seitlich zu Berge.

Die Leute, die vorbeigehen, kommen zuerst von links nach rechts, dann ändern sie plötzlich die Richtung, gehen ein kurzes Stück von rechts nach links, bis sie wieder mit einem Sprung, bei dem sie einen Moment lang verschwinden, in ihre ursprüngliche Richtung zurückkehren.

Jetzt lehnt der Typ in der Glastür schief da, den Kopf zur Seite geneigt.

Auffällig viele Frauen gehen herum. Ich sehe nur einen Mann, und der sitzt in einem Auto, das eine Frau lenkt. Der Mann mit dem Kinderwagen verläßt das Lokal und wechselt auch zweimal die Richtung.

Im Geschäft gegenüber gibt es „eh alles“. Jetzt sind wieder einige Männer aufgetaucht. Der Typ in der Glastür ist verschwunden – die Glastüre zu.
Mein Blickfeld erweitert sich und wird gleichzeitig weniger.
Ein alter Mann trippelt in ganz kleinen Schritten zur Auslage und schaut lang und konzentriert hinein.

Ich blicke lauernd herum. Die Zeit vergeht. Jetzt schaut der alte Mann intensiv ein Schild an, das an einer Hauswand angebracht ist.
Ein dicker Mann schnappt lächelnd nach Luft, nachdem auch er zweimal die Richtung gewechselt hat.
Der Wind reißt und zerrt und schlägt „eh alles“ um.
Die Geräusche lassen mein Bewußtsein absinken. Alles Geräusche, die mich nichts angehen. Glaube ich zumindest.

Dreißig Zentimeter lang gehen die Passanten verdoppelt vorbei. Der Doppelgänger ist etwas kleiner, ansonsten genau gleich. Er geht in die gleiche Richtung.
Eine Frau ißt Suppe.

Meine Empfindungen sind heute im Arsch. Dafür kann ich den Sessel fühlen, auf dem ich sitze.
Ein Mann mit Hut geht lässig vorbei und redet cool. Ich höre es nicht, kann es aber an seinen Mundbewegungen erkennen.

Die meisten Leute wirken etwas müde. So wie der Typ in der Glastür vorhin. Ich habe „alles Gute!“ hingeschrieben. Ein LKW schaukelt beim Stehenbleiben. Ich werfe Blicke durch die Fenster. Manchmal treffen sie Menschen auch im Gesicht.

Das blaue Licht leuchtet still im Hintergrund vor mir. Eine Frau trägt ihren verzweifelt wirkenden Busen vorbei, eine andere schiebt ihren Kinderwagen.
Jetzt ist mir etwas eingefallen: Ohne Verletzungen geht es nicht!
Der Opa mit grünem Rucksack redet mit seinem Enkel mit grünem Rucksack.
Ein braungebrannter Mann mit der Sonnenbrille im Haar greift sich an den Schwanz. Wenn ich von mir auf ihn schließen darf, dann haben sich ein paar Schamhaare eingezwickt.

Schon wieder bestelle ich koffeinfreien Kaffee, „melangenartig“, wie ich sage. Einfach „Melange“ käme mir zu verletztend vor. Die vertrackte Lust zu verletzen!

Ein junger Mann atmet erleichtert seinen Rauch aus, während er mit einer Dose in der Hand, die er lässig von oben hält, langsam vorbeischlendert, mit eidechsenartigen Schritten aus der Hüfte heraus.

Die Glastür kann von außen weder geöffnet noch geschlossen werden, weil sie draußen keinen Griff hat. Der Typ in der Glastür bleibt verschwunden. Vielleicht war er kurz wieder da und ich habe ihn übersehen.

Bei meinen Lieblingsbäumen sitzend sehe ich, wie eine Amsel einen Regenwurm aus dem Erdloch zieht und dann fallen läßt. Es geschah blitzschnell. Vielleicht habe ich übersehen, daß sie ein Stück von ihm gefressen hat. Ich gehe hin und schaue dem Regenwurm zu. Er hebt seinen Vorderteil und seinen Hinterteil. Ich weiß nicht, wo vorne und wo hinten ist. Suchend bewegen sich die beiden Enden, manchmal gleichzeitig, manchmal abwechselnd, das eine Ende häufiger und stärker. Das wird vorne sein, denke ich.

Der Regenwurm schafft es nicht, in die Erde zu kommen. Seine Bewegungen kommen mir verzweifelt vor. Ist der Boden an der Stelle, wo ihn die Amsel fallen gelassen hat, zu fest getreten? Oder hat ihm die Amsel tatsächlich den Kopf abgezwickt? Ich gehe hin und lege den Regenwurm an eine Stelle mit lockererer Erde. Aber er schafft es trotzdem nicht. Für mich schaut es so aus. Was weiß ich schon über Regenwürmer? Darum weiß ich auch nicht, ob meine Hilfe angemessen war oder eine unlautere Einmischung in fremde Angelegenheiten.
Dann gehe ich zur Arbeit.

Als die Arbeit vorbei ist, ist es bereits dunkel und ich kann die schmale Mondsichel und die Venus sehen. Sie leuchten wunderschön am Himmel. Auch Beteigeuze kann ich über den Dächern noch erkennen. Alle im Westen. Jupiter auch in der Nähe. Im Osten erkenne ich Arktur.

Ich fahre nach Hause. Bei meiner U-Bahnstation nehme ich einen anderen Ausgang, um über die Brücke zu gehen. Ich hoffe, auf der Brücke den Sternenhimmel offener sehen zu können. Das viele Licht stört. Aber ich kann noch Orion ausmachen mit seinen Begleitern Sirius und Prokyon. Und dann noch Regulus vom Löwen. Und Capella, die kleine Ziege vom Fuhrmann.

Aufgekratzt und müde vertrödle ich viel Zeit am Computer. Bevor ich ins Bett gehe, drehe ich im Atelier das Licht ab und schaue aus dem Fenster nach den Sternen. Der Himmel trübt sich ein, nur Regulus – wie ich glaube – kann ich noch erkennen.

Dann gehe ich schlafen. Ich drehe das Licht ab. In meinem Zimmer leuchten die Sterne noch nach.
Ich möchte im Traum meine Hände sehen.



©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com


Montag, 20. April 2015

118 Spaziergang


Ich gehe die Stiegen des Stiegenhauses hinunter. Im Rucksack mein Notizbuch. Ich will mir einen Platz zum Schreiben suchen. Im Freien? Im Cafe? Welches Cafe? Wo im Freien? Ich weiß es nicht. Ich bin unten, trete aus dem gläsernen Haustor und bleibe unschlüssig stehen. Ich will fühlen, in welche Richtung es mich zieht.
Da tritt eine junge Frau mit streng im Nacken zusammengefaßten Haaren und leuchtend roten Lippen auf mich zu und sagt: „Guten Tag. Sind wir zu einem Termin verabredet?“ Ich antworte: „Nicht daß ich wüßte!“

Sie zieht sich sogleich wieder zurück und ich werde verlegen, während mein Gedankenapparat anspringt und sich zu drehen beginnt. Was für eine Verabredung könnte das sein? Und: wer weiß, wo meine abgespaltenen Bewußtseinsanteile herumgegeistert sind und welche Termine sie ausgemacht haben. Man kann ja nie wissen!

Ich sage noch zur Dame, aber ohne sie anzuschauen: „Ich weiß noch nicht, in welche Richtung ich gehen soll.“ Das soll sie beruhigen. Und weil sie rechts von mir steht gehe ich links, aber schräg nach vor in eine Gasse, die ich sonst nur von der anderen Seite her durchmarschiere. Außer bei Wahlen, da durchschreite ich sie in derselben Richtung wie jetzt.

Zum Augarten? Bei Kreuzungen mit Ampel verwende ich das Grün-Prinzip. Ich gehe in die Richtung, die gerade auf grün geschaltet ist. So wandere ich Richtung Gaußplatz am Augarten vorbei. Ich spiele Tourist. Ich stelle mir vor, ich bin in einer fremden Stadt und spaziere hier zum erstenmal herum. Das fällt mir ganz leicht. Ich wandere durch den Grünstreifen zwischen Häuserfront und Hauptstraße. Abrupt endet der asphaltierte Weg an einer Querstraße und setzt sich dann versetzt als Schotterweg fort. Wie das sofort die Atmosphäre ändert! Die Ränder zur Wiese sind ausgefranst und Erlebnisse werden auf einmal wahrscheinlicher. Ich meine gute Erlebnisse. Spielende Kinder werden vorstellbar. Ich erinnere mich selber an mich als über Wiesen und Wege hüpfendes Kind.

Eine junge, kleine, drahtige Frau mit federndem Schritt redet gerade fröhlich mit den feinen Kabeln, die ihr aus den Ohren kommen und unter das Kinn gehen.
Na gut, in den zwanzigsten Bezirk. Warum nicht. Dort komme ich kaum hin. Vage entsteht vor meinem inneren Auge das Bild eines bürgerlichen Kaffeehauses. Das könnt als Schreibort passen. Das sollte irgendwo in der Klosterneuburgerstraße sein. Beim Vorbeifahren mit der Staßenbahn ist es mir öfters schon aufgefallen.

Aber zuerst umrunde ich den Gaußplatz, ob es nicht hier schon etwas gäbe für mich. „Mein kleines Cafe“ ist zu und leer. An einer geschlossenen, heruntergekommenen und offensichtlich aufgegebenen Lottoannahmestelle steckt ein Fähnchen mit der Aufschrift „Dreifachjackpot“.

Ich wandere weiter in die Klosterneuburgerstraße. Die Cafes heißen Zero, Glamour, Victoria und Joker's und ziehen mich nicht an. Der Versuchung, gleich da hinüber zum Donaukanal auszuweichen, widerstehe ich. Da müßte doch mein imaginiertes Kaffeehaus sein. War es da? Der Schnitzelkönig? Vielleicht. Ich kann mich nicht erinnern. Ich gehe weiter. Ein dicklicher junger Mann mit dunklen Haaren telefoniert mit gesenktem Kopf ohne Kabel oder Handy. Mit wem redet er? Wenn ich von mir auf ihn schließen darf, dann rechtfertigt er sich gerade vor seinem inneren Tribunal.

Es scheint die Sonne. Die Bäume tragen ihr unnachahmliches Frühlingsgrün. Jetzt fällt es einem erst auf, wie viele Bäume es in den Straßen und auf den Plätzen gibt. Der Wind weht fast ständig, aber mit unterschiedlicher Intensität. Und die Wolken erzeugen ein abwechslungsreiches Licht und Schattenspiel. Wirklich ein schöner Tag. Nicht zu kalt und nicht zu warm. Ich wandere weiter. Ich genieße die Sonne und den Wind und lasse mich treiben.

Da! Da ist das Kaffeehaus. Das müßte es sein. Geschlossen. Ich biege in eine Seitengasse. Ein rostiges Haus mit Eisenfassade beherbergt eine Holzgalerie.

Ich habe mich wo reingesetzt. Draußen wiegt oder schüttelt der Wind das frische Grün der Bäume am Platz. Die rote Kirche dahinter wirkt nördlich. Freunde ich mich schon mit der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts an?

Die Kellnerin lacht etwas zu forciert. Für meinen Geschmack. Für sie wird es hoffentlich genau richtig sein. Der Propeller steht still. Im Raucherbereich die Männer, im Nichtraucherbereich die Frauen. Und ich. Bei koffeinfreiem Kaffee. Jetzt kommt doch noch ein Mann herein. Nein, er geht nur aufs Klo.
Die Damen neben mir – ich vermute Mutter und Tochter – legen Patiencen oder spielen Karten. Ich habe nicht genau hingeschaut.

Der Song, der durchs Gurgeln der Kaffeemaschine sickert, könnte mir gefallen. Der Wind wird stärker. Ich möchte weiterziehen. Jetzt kommt aus dem Lautsprecher ein neues Lied, „Blowing in the Wind“, aber auf Steirisch. Einer der Handwerker im Raucherbereich streckt sich und schaut dabei der Kellnerin auf den Hintern. Ein Handwerker darf das. Ein Schreiberling bei den Nichtraucherinnen nicht, schon gar nicht, wenn er alkoholfreies Bier oder koffeinfreien Kaffee trinkt. Die Kellnerin – kommt mir vor – hat auch einen steirischen Akzent. Will sie auch heim nach Fürstenfeld?

Jetzt weiß ich, was die Frau an der Haustür, die mit den strengen Haaren und roten Lippen, was sie für einen Termin gehabt haben könnte – einen Wohnungsbesichtigungstermin!





©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 19. April 2015

117 Jodler


Ich war recht zufrieden, als ich an diesem Sonntagmorgen aufgestanden war. Ich hatte eine gute Nacht, war ausgeschlafen, meine Frau begann schon, das Frühstück herzurichten, ich goß die Blumenkisterl am Fenster – meine kleine Wiese, wo gerade der Löwenzahn herrlich gelb blühte – bereitete die Wäsche für die Waschmaschine, stopfte die Vierziggrädige hinein, gab die Kugel mit dem Waschmittel dazu und schaltete die Maschine ein. Dann trug ich Teller, Tassen und Besteck zum Eßtisch, legte noch dieses und jenes dazu und dachte mir dann: „ich könnte den Radio aufdrehen!“

Das mache ich selten. Von meinem Job im Callcenter her sind meine Ohren die meiste Zeit über zugedröhnt und ich bin froh, wenn es still ist. Aber heute hatte ich Lust, mich etwas berieseln zu lassen und drehte das Radio auf. Aber es ging nicht. „Aha, den Stecker einstecken“. Es ging trotzdem nicht. „Dann werden die Lautsprecher am Plattenspieler angeschlossen sein“, denke ich mir, aber ich bin zu faul, um das wieder umzustecken.

Meine Frau holt ihr Küchentransistorradio ins Wohnzimmer, jetzt – sozusagen im Tageslicht – sieht man erst, wie mitgenommen das Gerät von den Küchendämpfen ist. Ich stecke es an und es ertönt irgendsoein hysterischer Sender. Und auch wenn ich den einen oder anderen Song mögen könnte, ich mag nicht diesen überdrehten Tonfall der Ansagen und der unvermeidlichen Werbeeinschaltungen und suche einen anderen Sender. Das geht nicht so leicht, denn das Radio hat einen Wackelkontakt und die aufgefundenen Sender kippen gleich wieder weg.
Endlich finde ich einen, der „hält“ und es erklingt ein echter, langsamer Jodler. „Gut“, denke ich mir, „bleiben wir dabei“ und frage noch meine Frau, ob es auch für sie okey ist.

Binnen Sekunden bin ich von diesem Jodler erfaßt und ich beginne zu weinen. So plötzlich, daß ich selber überrascht bin. Innerlich sehe ich das Elternhaus vor mir, meine Eltern und das Radio in der Küche am Brett an der Wand, aus dem Volksmusik klingt. Der Schmerz trifft mich unvorbereitet und tief: das wird es nie mehr geben!

Meine Mutter ist vor zwei Jahren, mein Vater vor zweieinhalb Jahren gestorben, aber der Schmerz, den ich jetzt empfinde, ist so frisch, als würde ich es erst jetzt begreifen: meine Eltern sind tot.
Ich werde nie mehr in ihr Haus, in ihre Welt eintreten und dort ihre Volksmusik hören und die belanglosen Worte wechseln, die man halt so spricht, wenn man zu jemandem eine eher zurückgenommene, zurückhaltende Beziehung hat.

Gerade war ich noch in Gedanken bei einem Text, den ich in Arbeit hatte, ob der gut ist oder schlecht, was ich ändern könnte, mit tagträumerischen Abschweifungen, in denen ich einen Verlag finde, als Schriftsteller leidlich erfolgreich bin, davon leben kann und dafür Anerkennung finde. Trotz dieser Ausschweifungen, die ich ja durchaus „kritisch“ sehe, hielt ich mich an diesem zufriedenen Sonntagmorgen für einen nüchternen, gefaßten, halbwegs bewußten Mann, der seine Stärken und Schwächen einigermaßen kennt, ebenso seine Versuchungen und Fallen und seine „Probleme“. Und plötzlich sitze ich da und heule wie ein Kind um meine Eltern.

Ich versuche mich zu beherrschen, denn es ist mir meiner Frau gegenüber doch etwas peinlich. Inzwischen spielen sie im Radio Blasmusik, die ich eigentlich nicht mag. Aber auch sie hält meine visionäre Erinnerung an meine Eltern und ihr Haus aufrecht und wieder treibt es mir die Tränen in die Augen. Ich sehe alles vor mir, die geräumige Küche, den Herd, den Tisch mit der Eckbank, die Bilder darüber an der Wand. Meine Mutter hantiert am Herd, mein Vater holt Äpfel aus dem Keller oder ein Bier. Ich bin gerade angekommen und wir setzen uns zum Essen an den Tisch.

„Bauernjazz“ sage ich mit freundlichem Spott zu meiner Frau, aber doch im Versuch, wieder die Oberhand zu gewinnen – durch intellektuelle Überheblichkeit. Der weitere Verlauf der Sendung hilft mir dabei, denn jetzt kommt der reine Kitsch. Auch die Stimme des Moderators klingt manieriert, so als fehlte ihr der Sitz im Leben, das sie hier repräsentieren will.
Nur ein Lied kann mich noch echt berühren.

Im Nachhinein tut es mir leid, daß ich meinen Tränen nicht einfach freien Lauf gelassen habe. Was will ich aufrecht erhalten? Es kann nur etwas Fragwürdiges sein, wenn es den Schmerz verdrängen muß.




©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

116 DJ


Der DJ läßt eine Coverversion von Creams Sunshine of Your Love spielen. Camillo Zorres ist verärgert. Dreimal ansetzen, daß ein bißerl ein Leben rauskommt: „lo...“ aus .. „lo...“ aus .. „looove“; von einer angestrengten, verengten Frauenstimme ohne tiefere Schwingungen … Kaum Leben in den unteren Schichten.
Camillo Zorres! Das ist gemein! Auch wenn man verärgert ist läßt man sich nicht so gehen und urteilt nicht so apodiktisch! Woher willst du das so genau wissen?

Camillo Zorres ärgert sich schon den ganzen Tag, weil er nicht nach Hause kann. Er ist vom Job müde und muß morgen früh aufstehen. Aber jetzt muß er warten. Er tut es für einen guten Zweck. Er hat es zugesagt.
Camillo Zorres, das haben wir schon gern – in schlechter Laune für einen guten Zweck unterwegs sein!

Außerdem ist die Musik im Raum eine Spur zu laut. Die Ohren dröhnen und surren noch von der Arbeit.
Ah! jetzt kommt eine Coverversion von The Letter von den Box Tops. Mit Frauenstimme. Das ist jetzt viel besser!
Jetzt wird ihm langsam behaglich, hier, im eingezäunten Bereich der Lounge, im Warteraum des Lebens.

Aber er spürt seinen Magen. Drücken. Leichte Schmerzen.
Ein Raucher geht in den Garten, zwei Raucher kommen vom Garten herein.

Jetzt kommen lauter Fünfzigerjahreschlager und Rock n Roll-Hits. Das mag Camillo Zorres gar nicht. Er bringt aber gar keinen rechten Ärger mehr zustande. Der Magen drückt, die Musik nervt, seine Frau liest Krimi. Er hat vorher mit ihr nicht richtig geredet. Ihm ist nichts eingefallen. Wenn ihm etwas eingefallen ist, hat er es innerlich verworfen als zu wenig interessant.

Er hat sich im Job ausgeredet und seine Ohren sind heute schon voll. Sie sind zu müde, die eintreffenden Töne einzuordnen. Sein Hören verschwimmt, wie der Blick verschwimmen kann. Das läßt ihn sich fremd in der Welt fühlen.
Jetzt kommt ein Hit der Stones, Under My Thumb. Gleich geht es ihm besser. Ausgerechnet bei den Stones, denen er jede Nostalgie verweigert und die er sich nie anhört. Eine – vom DJ? - verfremdete Version? Sie klingt etwas eigenartig und eine Spur zu schnell.

Eine ganze Gruppe Raucher vom Nebentisch geht in den Garten, einer mit Pfeife. Manchmal haben sie mich Schreibenden ein wenig gemustert, aber nicht unfreundlich. In der Musik mag ich die Fünfzigerjahre einfach nicht.

Jetzt kommt etwas Unbekanntes, Neues, Angenehmes. Etwas Jazziges. Ich versinke ... – Nein! bleiben wir bei Camillo Zorres! Auch wenn der Ärger schon ziemlich verraucht ist.
Also: Camillo Zorres versinkt in seine Fremdheit. Das Fremdsein kommt ihm so vertraut vor. Ein Deja Vu aus abertausenden Fremdheiten, die ihm – ineinandergestapelt zur Gestalt - beinah zur Heimat geworden sind.

Au weh! Wieder die Fünfzigerjahre. Für Zorres eine audiometrische Hochschaubahn am Rande des Praters. Alle Versionen der Hits wirken überzeichnet.

Im geräumigen Klo wirft eine einfache Notlichtlampe eine wunderschöne Lichtzeichnung an die Wand, unabsichtlich und seitlich. Wie eine reine, leuchtende Skizze des Flurs, der in paradiesische Wohnungen führt.

Die ungeliebte Musik drückt weiter auf den Magen. Mit der Verdauung stimmt etwas nicht. Jetzt kündigt sich schöne Musik an. Wird es dabei bleiben? Die Stimme der Sängerin ist … zu manieriert? Der Chor … zu schnell? Als wollten sie es eilig hinter sich bringen. Als müßten sie schnell fertig werden? Arbeitsdruck und Leistungsstress zu hoch? Schade. Es hat schön angefangen.

„Schade“, denkt sich Camillo Zorres. „Gehen wir. Wir sollten gehen. Meine Frau ist noch müder als ich.“

Wie dicklich überschminkte Damen im Kopfweh ihre leicht verächtlich ausgreifenden Blicke abwehrend abschicken, so haben im Garten die Magnolien ihre schönen, dicken Blütenblätter achtlos ins Gras geworfen. Tut mir leid, liebe Gartenfreunde – bei Magnolien muß ich immer an die Prusseliese aus Pippi Langstrumpf denken.



©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 16. April 2015

115 Idylle


Rasch fließt der Fluß von rechts nach links an mir vorbei. Ich sehe Ulfs, Matrosen, Clubs ...
Und einen Ringturm der nicht rund ist, sondern eckig.
Die Fischer versuchen Fische zu fischen. Oder? Versuchen sie etwas anderes?
Der kleine Hund bellt. Der Mann redet mit dem großen Hund in einer slawischen Sprache.
Der Weltraumfahrer radelt verbissen vorbei, von links nach rechts.
Die Brücke überquert den Fluß und hört nicht auf damit. Eine Karawane von fremd wirkenden Blechcontainern bewegt sich stockend von von rechts nach links, oben, am anderen Ufer.
Die dicken Fischer reden laut. Fast schreien sie.
Das Dröhnen zweier Straßenbahnen dringt an mein Ohr. Rechts.
Eine junge Frau filmt die Fischer. Die Schrift sehe ich doppelt. Die Karawane gegenüber erzeugt ein ständiges Brummen und Rauschen. Eine Frau fotografiert die andere mit einem modernen Handy. Pubertäre Schriftzüge melden: „nackt!“ Der Mann mit zielgerichteter Kappe schreitet flott voran.

Ein schöner Hund läuft vorbei und schaut mich prüfend an. Sein Herr gibt ihm Zeichen mit der Hand.
Eine grüne Flasche schwimmt vorbei. Sie scheint große Ausdauer zu haben.
Ein großes Büschel Gras klammert sich an die gegenüberliegende Wand. Das eine Haus rechts wirkt irgendwie gestutzt. Drei Pappeln wiegen sich im Wind, dahinter zappeln zwei Fahnen.
Ein halber durchlöcherter Dreiklang ist zu hören. Ihm fehlt der mittlere Ton. Ich muß das überprüfen.
„Moos auf den nackten Steinen der Ökonomie“. Oder sind es Farbreste?

Ein Donnern fährt über die Brücke. Dort drüben steht „feel!“. Der Mann hat seine zielgerichtete Mütze abgenommen und trägt sie schlendernd dahin.
Ein elektrischer Wurm schleicht sich drüben von links nach rechts und ändert seine Richtung.

Schneeflocken aus Blütenblättern schweben an mir vorbei und kreiseln dann am Boden. Der Wind treibt sie unbarmherzig nach links und reißt ihre Kreise auf.
Vier rote Türme ragen schwebend fremd und ratlos in den blau-weißen Himmel. Sie sind hier in dieser Welt nie richtig angekommen. „Kurat“ steht dort drüben.

Kurz habe ich in der gegenüberliegenden Mauer ein Gesicht gesehen. Es ist gleich wieder verschwunden. Dröhnende Lastkraftwagen passieren im Sekundentakt meinen Sitzplatz. Im Minutentakt. Die Ente läßt sich nicht stören. Ich schon.

Eine Krähe geht den Zaun entlang. Auch dort klammert sich ein Grasstreifen an die senkrechte Mauer. Die graue U-Bahn scheppert in hellem Klang von links nach rechts. Ein Papierblatt fliegt und schleift von rechts nach links.

Mitten im Fluß treibt etwas Großes. Es ist weit weg, ich kann nicht erkennen, worin seine Größe besteht. Ein Zigarettenstummel tanzt auf dem heißen Metall. Immer wieder fällt er vor Erschöpfung nieder und verschnauft. Wenig Luft, vermutlich zuviel geraucht.

Ein kleiner Hai mit weitaufgerissenem Maul macht es sich auf der Bank neben meiner bequem. Er hat seine Mutter dabei.
Ein Radfahrritter nimmt mit seiner Turnierstange Anlauf nach links. Zwei Krähen kämpfen um ihr Revier. Zwei dünne Gazellen laufen vorbei.
Ich werde in der Sonne müde.
Das Flugzeug hat sich nur zwei Zentimeter weiterbewegt. Der kleine Hund folgt nicht. Seine Frauin hat den Blues auf ihrer Brust.
Die Hörner des elektrischen Gabelbocks ziehen links in der Ferne elegant um die Kurve.

Das Flugzeug mußte wieder zurück an den Start und hat seinen Flug von neuem begonnen. Wieder kommt es nur langsam voran. Der Wind liebkost die Frau mit Locken. Es wird ihr zuviel. Sie geht von der Bühne.

Immer trüber wird der Himmel vom Weiß der Kondensstreifen. Beim Mensch-ärgere-dich-nicht sind viele Flugzeuge am Start. Weitaus mehr als vier mal vier.
Ein Mann mit Hut, Pfeife, Rucksack und Stock wandert am Samstag über den zweiten Mai.
Ein Lastwagen von links. Das war jetzt viel länger als ein paar Minuten.

Die Sonne sticht und ich werde müde. Es ist nicht mehr angenehm. Zwei deutsche Frauen begrüßen sich und dann einen deutschen Mann. Sie wollen woanders hin. Eine stolpert über ihr Rad. Sie reden in ihrem Akzent.

Ich habe genug gesehen.Ich gehe.





©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 15. April 2015

114 Sitzen, Segnen und Rollen


Ich sitze und schräg rechts gegenüber steht ein Lastwagen. Seine graue Plane über der Ladefläche macht Falten und erzeugt so im schrägen Sonnenlicht ein schönes Licht- und Schattenspiel, das der Wind – manchmal ganz sanft sich anschmiegend, manchmal kraftvoll zupackend – auf wunderbare Weise bewegt.

Heute bin ich schon in der U-Bahn gesessen. Auf dem Weg zum großen, schlanken Mann. In den U-Bahnstationen und auf den Straßen habe ich den Frauen auf den Hintern gegafft. Aber jetzt trete ich beim großen, schlanken Mann ein und setzte mich hin. Ich sitze und erzähle vom Gaffen. Dann schließe ich die Augen und werde ganz ruhig. Ich spüre den Druck der immensen Luftsäule über mir mich niederdrücken. Und die Erde mich anziehen.

Es drückt mit zusammen und ich bringe immer weniger Widerstand gegen diesen Druck auf. Ich werde immer mehr zusammengekrümmt, lasse den Kopf nach vorne sinken, beuge mich tiefer und tiefer und werde immer kleiner. Jetzt bin ich nur mehr ein Tropfen. Der Tropfen spürt keinen Druck. Es ist ein angenehmer Zustand. Ich habe diese Welt der Schwerkraft verlassen.

Aber dann kehre ich wieder zurück. Ich dehne mich aus, zuerst strecke ich mich in die Arme hinein, dann stütze ich mich mit den Beinen nach unten ab und spüre den Boden gegen die Fußsohlen drücken. Das gibt mir den Halt zum Aufrichten. Ich hebe wieder den Kopf. Ich stütze die Arme auf die Oberschenkel und richte den Oberkörper auf, dehne die Brust und sitze. Ich sitze wie auf einem Thron. In dieser Welt der Schwerkraft. Ich habe meine Gestalt wieder von innen ausgefüllt.

Jetzt werde ich etwas größenwahnsinnig und fühle mich, als wäre ich ein Papst. Ich sitze auf dem Thron und segne die Welt. Urbi et orbi. Mir ist ganz feierlich zumute.

Da spricht der große, schlanke Mann mitten in mein Segnen hinein: „Und was ist, wenn jetzt eine Frau mit schönem Hintern vorbeikommt?“

Ich muß lachen. Ich muß viel lachen. Nun, vielleicht kann ich sie segnen. Der Mann sagt: „vielleicht hat sie eine verletzte Seele, die des Segens bedarf!“ Kurz bin ich erschrocken, als wäre ich zum erstenmal damit konfrontiert, daß Frauen eine Seele haben; und muß dann weiterlachen. So schön an der Nase herumgeführt worden zu sein! Da bin ich um die Ecke gebogen, und da ...
Wieder muß ich lachen.

Vergnügt sitze ich am Thron. Ich genieße den Zustand. Wellen von Energie gehen durch mich hindurch und schaukeln mich sanft. Je nachdem, wie ich mich in diese Wellen stelle, sind sie kürzer oder größer, sanfter oder stärker. Ich spiele mit ihnen. Ich lasse mich schaukeln. Die Wellen kommen aus dem Universum und sind unwandelbar und stetig.

Jetzt fährt die Plane mit dem Lichtspiel weg. Sie bleibt nochmals direkt vor mir kurz stehen um sich zu verabschieden. Als sie weg ist, stinkt es nach Autoabgasen.

Ich gehe zurück zum Thron. Mein Kopf ist etwas zu schwer. Er hält schlecht. Gehalten wird er nur mehr von so metallenen Strängen, wie Saiten, die von unten aus dem Rumpf kommen, durch den Hals gehen und innen im Hohlraum des Kopfes festgemacht sind. Die Drehverbindung zwischen Kopf und Hals ist schon aufgeschraubt. Deswegen taumelt der Kopf hin und her. Eine Viola fängt zu spielen an und ich lausche den Schwingungen ihrer Saiten und schließlich fällt der Kopf runter zur Erde und rollt – kantapper, kantapper – davon.

Ich fühle mich ganz wohl ohne Kopf; aus meinem Hals wächst jetzt eine Fontäne von leuchtenden, gelben Energiesträngen. Ich kann alles wahrnehmen. Mir fehlt nichts. Mein Kopf geht mir gar nicht ab. Soll er ruhig – kantapper, kantapper – in der Welt herumrollen. Ich brauche ihn nicht. Ach wie schön ist es, kopflos zu sein!

Ah, ich höre, daß er gerade einen Bären trifft! „Guten Tag, Bär!“, sagte der Kopf. „Guten Tag lieber Kopf“, sagte der Bär, „wart ein Weilchen, ich will dich auffressen!“ „Das möchtest du wohl“, rief der Kopf, „ich bin schon dem Peter Rumpf davongelaufen, mich sollst du nicht kriegen!“ Und rollte – kantapper, kantapper – den Weg entlang. Hoffentlich richtet er in der Welt draußen nicht zuviel Schaden an!

Jetzt sitze ich unter einem meiner Lieblingsbäume, einer lieblichen Birke, die gerade ihre Blätter austreibt. Links von mir die herrliche, riesige Platane, die Herrin am Platz. Und weiter hinter der Platane, die Straße entlang, stehen vier junge, kleinere Bäumchen, die auch meine Freunde sind, größer als ich. Der letzte heißt Agent 007. 007 ist der erste den ich grüße, wenn ich hierher komme.
Rechts von mir, weiter weg, drüben über der Straßenkreuzung, steht noch eine kleinere Platane, groß und schön, auch sie begrüße ich fast immer mit Handschlag.

Ah, ich höre, der Kopf trifft gerade einen Wolf! „Guten Tag, Wolf!“, sagte der Kopf. „Du hast es ganz schön eilig“, sagte der Wolf. „Wart ein wenig, daß ich dich fressen kann!“ „Ein andermal“, sagte der Kopf. „Ich bin schon dem Peter Rumpf und dem Bären davongelaufen, da sollst du mich auch nicht kriegen!“ und rollte – kantapper, kantapper – in den Wald hinein.

Der Wind weht von rechts und trägt immer wieder Autoabgase her, diesen Geruch, von dem mir so leicht schlecht wird. Vor mir die gelbe Macht. Paßt gut, daß ich heute ein gelbes Leiberl angezogen habe.

Ah, ich höre, der Kopf begegnet gerade einem Wildschwein! „Guten Tag, Frau Wildschwein!“ grüßte der Kopf. „Halt!“ grunzte das Wildschwein. „Ich will von dir kosten!“ „Ein andermal“, sagte der Kopf. „ich bin schon dem Peter Rumpf, dem Bären und dem Wolf davongelaufen. Da sollst du mich auch nicht kriegen!“ und rollte – kantapper, kantapper – die Wiese hinunter.

Bald werde ich wieder sitzen. Stundenlang, mit Headset am Kopf. Wenn ich aufstehe und aufs Klo gehe, wird der Aufseher schauen. Letztens hat auch er ein gelbes T-Shirt getragen.

Ah, ich höre, der Kopf trifft einen Gockel! „Guten Tag, Gockel!“ ruft der Kopf. „Was läufst du so schnell?“, fragte der Gockel. „Bleib stehen, damit ich einen großen Happen picken kann!“ „Keine Zeit!“, schreit der Kopf und rollt – kantapper, kantapper – weiter. „Ich bin schon dem Peter Rumpf, dem Bären, dem Wolf und dem Wildschwein davon gerollt. Du hast mich auch nicht gekriegt!“

Zwischen der Bank, auf der ich sitze, und der gelben Macht führt der Fußweg ins Nirgendwo vorbei, auch ich bin diesen Weg hergekommen. Jetzt sitze ich unter der lieben Birke. Sie breitet ihre vielen Arme über mich und muß sich dabei anstrengen, immer wieder fallen ihre Arme zurück nach rechts. Aber der Wind hilft ihr. Liebevoll steckt sie ihre Zweige wieder und wieder über mich. Danke!

Ich segne eine junge Frau im Minirock. Aufs Segnen hatte ich ganz vergessen. Ich habe noch Zeit zum Sitzen und Segnen.

Eine Arbeitskollegin kommt vorbei. Wir plaudern ein bißchen. Sie geht dann weiter und ich segne ihr hinterher.

Den kenn ich auch! Den kenn ich! Flüchtig, vor Jahrzehnten. Aus Selzthal. Er ist alt geworden.

Schade, daß ich mich nicht offen segnen traue, sondern nur heimlich. Aber es ist besser so. Nur laß ich mich dann leicht ablenken.

Mein Freund Joseph T. fällt mir ein. Mit ihm habe ich vor vielen Jahren die Plaza Mayor in Salamanca voll ausgesegnet. Wir sind gleichzeitig jeder eine Diagonale abgegangen, mit segnenden Händen – die beiden Diagonalen – ein einziges segnendes Kreuzzeichen. Wir haben damals alles gesegnet. Alles, was auf dem Tisch war, alles um uns herum, alles auf diesem großen Platz, den Platz selber. Auch die Regentropfen. Aber da sind wir nicht nachgekommen mit dem Segnen.
Auch jetzt komme ich nicht nach. Es kommen so viele Leute vorbei, die Segen brauchen könnten. Manchmal fällt es mir leichter, manchmal fällt es mir schwerer. Immer wieder schaue ich auf die Uhr.

Ich werde jetzt zur kleineren Platane, die aber auch groß ist, hinübergehen und sie mit Handschlag begrüßen. Vorher verabschiede ich mich noch von der großen und von der Birke.



(Für die Passagen vom rollenden Kopf habe ich mir das Märchen „Der dicke fette Pfannkuchen“ aus Constanze Schargan, „Märchen für die Kleinsten“, Coppenrath Verlag 2003, als Vorlage genommen und teilweise wörtlich zitiert, vor allem das Wort "kantapper".)



ansonsten:
©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 14. April 2015

113 Traumwohnung


In mindestens neunzig Prozent meiner Träume will ich in meine Wohnung oder mein Zimmer und es gelingt nicht. Entweder finde ich meine Wohnung nicht, oder ich finde sie, aber es ist nicht mehr meine Wohnung, weil jetzt Fremde drinnen wohnen, oder eine Tür oder ein Durchgang in die Nachbarwohnung läßt sich nicht schließen und ich merke, daß die Nachbarin meine Wohnung schon mitbenutzt oder überhaupt dabei ist, sie zu übernehmen. Oder es ist mir zum Beispiel ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft zugesagt, aber dann kommt es aus irgendeinem Grund nicht zustande – im letzten Traum hatte eine Mitbewohnerin Bedenken gegen mich, obwohl schon alles mit dem Wohnungsinhaber besprochen und abgeschlossen war. Oder ich habe das Zimmer, bin drinnen und merke, da wohnt ein anderer, entweder von vornherein oder so allmählich.

Oder ich finde gar nicht „nach Hause“. Das kann in Wien sein oder in Irdning oder wo auch immer. Oft habe ich auch nur eine vage Erinnerung: da habe ich doch irgendwo eine Wohnung! Oder?
Oder ich bin irgendwo im Ausland oder in Tirol oder sonstwo am Bahnhof und will nach Hause, finde aber nicht den richtigen Zug, oder nichteinmal den richtigen Bahnsteig. Oder ich finde den Bahnhof nicht.
Oder ich bin am Stadtrand und will in die Stadt, finde aber die S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn nicht. Ich rede mit Leuten, die mir sagen, wo die Haltestelle ist, aber ich finde sie nicht. Oder es ist die falsche. Oder ich finde die Haltestelle, aber die Straßenbahn zum Beispiel, die fährt ganz anders. Das kann übrigens auch mit den Zügen passieren. Sie kommen nie dort an, wo ich hin will. Sie fahren dann eigenartige Strecken und Umwege und ich bin auf einmal in Graz, obwohl ich nach Wien wollte oder umgekehrt oder ganz anders.

Ich denke oft, ich bin in dieser Welt immer noch nicht angekommen, habe meinen Platz nicht gefunden. Oder will ich in meinen Träumen wieder in die Welt zurück, dorthin, von wo ich gekommen bin? Immer irre ich herum; meine Wohnungen, wenn ich sie bewohnen will, erweisen sich als Illusion.
Oder ich irre zum Beispiel in Graz herum und suche meine Wohngemeinschaft. Entweder finde ich sie nicht, oder alles ist anders. Oder ich bin am Stadtrand von Graz und finde nicht in die Innenstadt.

Es gibt keine Ort, wo ich selbstverständlich bin. Immer kommt irgendetwas dazwischen, immer taucht ein Element auf, das die Selbstverständlichkeit aufhebt. Ich irre bloß herum. Immer in der Fremde.

Oder suche ich in meine Träumen Orte einer anderen Welt, die die Reste meines Alltagsbewußtseins im Traum zu bekannten Orten uminterpretieren wollen? Und es gelingt ihnen nicht ganz?
Suche ich meinen Platz in dieser Welt, oder in einer anderen? Oder irre ich hier wie dort umher? Ziellos kann man nicht sagen, denn mein Ziel ist immer mein Ort, mein Platz, meine Wohnung, mein Zimmer, mein Zuhause.

Bin ich in allen Welten obdachlos? Den Träumen nach schon. Nie gibt es ein Angekommensein, nie ein Aufatmen. Und wenn doch, dann nur kurz, bevor sich alles wieder als Irrtum herausstellt. Dieses Muster durchzieht fast alle meine Träume als Erwachsener. Und wenn ich aufwache, kann dieses Gefühl des Verlorenseins, der Unbehaustheit, des Herumirrens, des Nicht-nach-Hause-Findens lange anhalten. Manchmal den ganzen Tag.

Im Jahr 1984 habe ich auf so einen wohnungssuchenden Traum hinauf eine Aktion oder Performance in der Künstlergalerie REM gemacht. In den Kellerräumen der Galerie hatte ich mir ein großes Gehege gebaut. Der Zaun teilte die beiden Räume in etwa diagonal. Ich hatte Holzsteher montiert und einen echten Wildzaun als Gitter verwendet. Dann habe ich mir aus Holzplatten ein Podest gezimmert, um nicht am kalten Kellerboden schlafen zu müssen. Eine Plastikfolie habe ich ausgebreitet, darauf einen ordentlichen Haufen Blumenerde, für mein Bioklo, das aus einem Eimer mit Deckel bestand. In den Kübel gab ich einen großen Plastiksack, die oberen Enden außen am Eimer umgeschlagen, in den Eimer kamen ein paar Handvoll Blumenerde. Das war's dann. Bei Bedarf habe ich wieder eine Schicht Blumenerde in den Kübel gegeben, was den Geruch sehr gut absorbiert hat. Und wenn der Kübel voll war, konnte man den Sack einfach zubinden und fertig. Ich hatte wirklich an alles gedacht und mir das Ganze gut überlegt.
Im Text für die Subventionsansuchen habe ich das damals so formuliert.:

„In den Räumen von REM (Mozartplatz 4/II, 1040 Wien) wird ein Gehege gebaut; dadurch entstehen zwei voneinander klar getrennte Bereiche: Gehegeinneres und Zuschauerraum.
Ich lebe zehn Tage in diesem Gehege. Die Versorgung mit den nötigen Nahrungsmitteln erfolgt von außen.
In der ersten fünf Tagen ist REM für die Öffentlichkeit gesperrt, an den folgenden fünf Tagen für Besucher geöffnet. Das Gehege selbst bleibt natürlich versperrt, allerdings kann man mich durch den Zaun beobachten.“
„Von diesem Projekt erwarte ich mir die Schaffung eines Erlebnisraumes, der sowohl für mich, als auch für die Besucher nichtalltägliche Bereiche aufschließt. Es wird auch ein Begleitheft erscheinen.“

Das von mir gestaltete und publizierte Begleitheftchen beinhaltete Abbildungen einiger meiner Zeichnungen und einen Text, der den zugrundeliegenden Traum in literarisch verfremdeter Form erzählt.

Diese Aktion wurde von vielen falsch verstanden. Es war oft die Rede davon, daß ich mich bei dieser Performance, die ich übrigens „Haut an Haut“ nannte, habe einsperren lassen. In der Zeitschrift „Wiener“ schrieb ein Kunstkritiker, daß ich in einem Gehege wie ein ungezähmtes Tier einsperren lasse und spricht von einer „selbstquälerischen Performance“. Das war ein Mißverständnis, eine Projektion! Denn ich habe mich nicht einsperren lassen, sondern ich habe mich eingesperrt; oder noch genauer gesagt: ich habe die anderen ausgesperrt. Im Gehege weit und breit kein wildes Tier. Und wenn schon, dann ein scheues. Ich hatte den Schlüssel im Gehege. Ich hätte jederzeit hinaus können. Nein, ich wollte mir meinen Platz verschaffen.

Wenn ich allein war, fühlte ich mich da herinnen ganz wohl. Mir war nicht langweilig ohne Medien. Ich bin im geräumigen Gehege auf und ab gegangen, habe gesungen (auch Kirchenlieder), was mir halt alles so eingefallen ist.

Wenn Besucher herunter kamen, hatte ich schon manchmal auch bei ihnen eine gewisse Scheu feststellen können. Bei Insidern weniger; da konnten einzelne mich auch durch den Zaun so ansprechen, daß ich mich bedrängt fühlte.

Zu Eröffnung hatte ich eine kleine Performance inszeniert. Ich hatte mich mit den vorhandenen Dingen wie Decken, Kleidungsstücken als Narrenkönig mit Unterhose am Kopf verkleidet und aus Klopapierrollen, Obst, Schnüren und anderes Zeug einen absurden Thronwagen gebastelt, der natürlich nicht fahren konnte. Ich weiß noch, die zwei Pferde, die den Wagen ziehen sollten, waren zwei leere Halblitermilchpackerl. Der Wagen selber war das Holzpodest, das ich mir zum Schlafen gebaut hatte. In der Zeitschrift Kunstforum (Bd. 77/78, 9-10/85, Jan./Febr.) liest sich das so: „angetan mit Parodie von Königsmantel und Stab, umgeben von Lebensmitteln,...“
Ich kann mich noch erinnern, daß ich zum Schluß nicht so recht aus meinem Gehege raus wollte.

Der Traum, der mich zu dem Ganzen inspirierte, ging so:

Ich wandere durch einen Wald und sehe, hier leben viele Menschen in einer losen Gemeinschaft. Ihre Wohnräume bestehen aus Zimmern, die im Dickicht ausgeschnitten sind. Meistens in ein paar Metern Höhe in den Bäumen. Im Traum war das möglich. Es gab diese Baumkronen- und Dickichtwohnungen für Einzelne, für Paare, Familien, Gruppen.
Mir gefiel diese Art zu wohnen und ich fragte an, ob auch ich hier wohnen dürfe. Der zuständige Mann sagte „ja“ und drückte mir eine Kettensäge in die Hand, damit ich mir ein Zimmer ausschneiden kann. Ich gehe an eine Stelle, die mir passend erschien, und wollte mit der Arbeit beginnen. Doch dann konnte ich nicht. Ich konnte die Kettensäge nicht ansetzen. Ich hatte große Angst vor Verletzungen, und zwar bei mir, bei den andern, bei den Bäumen.





©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 13. April 2015

112 Admont


Ich bin in Admont geboren. Meine ersten dreieinhalb Lebensjahre lebte meine Familie dort.
Mein Vater arbeitete bei der Bundesversuchsanstalt für alpenländische Landwirtschaft, die zunächst in Admont angesiedelt war und dann ins Schloß Gumpenstein nahe Irdning übersiedelte.
Die Bundesversuchsanstalt war schon in Gumpenstein, aber die Buwog-Wohnungen für die Angestellten noch nicht gebaut. Mein Vater hatte sich in Irdning beim Tauscher ein Zimmer genommen und lebte und arbeitete also in Irdning, meine Mutter mit mir in Admont.
Damals arbeitete man auch noch samstags, am Anfang bis zum Abend, später nur mehr bis Mittag. So kam mein Vater durchschnittlich nur alle zwei Wochen am Samstag Abend „auf Besuch“. Sonntag am späteren Nachmittag mußte er wieder zurückfahren.
Aus dieser Zeit habe ich nur zwei Erinnerungen an ihn.

Einmal sind wir - Vater, Mutter, Kind - von Admont in die Kaiserau gewandert. Ich weiß nicht mehr, wie alt da ich war. Ich bin gegangen. Nach einem ordentlichen Stück des Weges fragte mich mein Vater, ob ich schon müde sei und er mich ein Stück tragen solle. Ich verneinte. Später, als ich dann doch müde war, traute ich mich nicht, es ihm zu sagen. Also ging ich tapfer zu Fuß bis in die Kaiserau. Das sind gut acht Kilometer. Ich weiß noch, daß mein Vater stolz auf mich war, daß ich kleiner Knirps ohne zu Jammern so weit gegangen bin und er hat es auch öfters erzählt.

Dort kehrten wir irgendwo ein. Ob es ein Gasthaus war oder ein Privatbesuch, das weiß ich nicht mehr. Es müßte schon das Schloß gewesen sein. Ich glaube, es war doch ein Gasthaus.
Jedenfalls saß da ein Mädchen – etwa im gleichen Alter wie ich – auf dem „Thron“. So nannten wir diese Stühle mit eingebautem „Topferl“ zur Verrichtung der Notdurft.
Ich hatte auch so einen „Thron“ aus Holz zuhause, mit einer Sperre gegen das Herunterfallen vorm Bauch, auf der sich ein paar bunte Holzkugeln auf einer Metallspange befanden, die man hin- und herschieben konnte. Ich liebte meinen „Thron“ und fand ihn ganz super.

Das Mädchen hatte aber einen noch tolleren Stuhl - die Sperre bestand nämlich nicht bloß aus einer schmalen Holzleiste wie bei mir, sondern war eine richtige Holzfläche, wie ein kleines Reißbrett, und sie konnte daher beim Verrichten der Notdurft zeichnen! Am Thron sitzen und zeichnen! Und Kugeln zum Verschieben hatte sie auch!
Ich stellte es mir ganz großartig und genußvoll vor, darauf zu sitzen und zu zeichnen.

Da verspürte ich zum erstenmal klar und deutlich Neid. Ich war ihr das neidig. Der Neid fraß sich richtig brennend in mein Gedärm.
Nur schwer konnte ich es aushalten, daß sie dieses Wunder an Stuhl hatte und ich nicht.
Ich glaube nicht, daß ich etwas gesagt habe, etwa in der Art: das will ich auch. Oder doch? Hier verdunkelt sich meine Erinnerung, wie ein Traumfragment, das sich an seinen Rändern auflöst. Auch an den Rückweg habe ich überhaupt keine zugängliche Erinnerung.

Die zweite Erinnerung an meinen Vater in Admont ist folgende:

Er war offensichtlich an einem Werktag zuhause, vielleicht hatte er ein paar Tage Urlaub. Er wollte für mich ein Spielzeug kaufen gehen, ich sollte ihn begleiten. Wir wohnten im ersten Stock eines Einfamilienhauses in Untermiete, an der Straße vom Bahnhof Richtung Kaiserau, ein kleines Stück hinter den Baracken für die Kriegsflüchtlinge, die es damals noch gab.

Wir gingen also die Straße hinunter über die Geleise zum Park vorm Stift. Ich an seiner Hand. Etwas ungewohnt und befremdend für mich, mein Vater war mir ja nicht so vertraut. Ungewohnt auch, daß ich mit ihm allein ausgehe.
Das Geschäft - ich denke immer an eine Trafik, kann das sein? - jedenfalls sehr klein, befand sich am Rande dieses Parks und man mußte auch auf einer Brücke einen Bach überqueren, der dort unten rauschte und tobte. Da hat es mir die Ohren verschlagen. Und zum erstenmal war mir das voll bewußt.
Ich war ganz mit diesem Phänomen beschäftigt, das mich durchaus etwas irritiert hat und unheimlich war.

Als wir ins Geschäft kamen, hatte ich immer noch verschlagene Ohren. Mein Vater fragte mich, was ich haben wolle. Der Verkäufer zeigte mir zwei Dinge, ich glaube, zwei verschiedene Matadorteile, und ich sollte mich entscheiden. Ich wußte es nicht. Ich war irritiert, fremdelte, traute mich nichts sagen. Wußte nicht, was ich wollte. Wollte ich überhaupt etwas? Die verschlagenen Ohren nahmen meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich war überfordert. Ich brachte kein Wort heraus. Mehrmals versuchten beide, mein Vater und der Verkäufer, mich zu einer Entscheidung, einer Stellungnahme zu bringen und redeten freundlich und auffordernd auf mich ein. Erfolglos. Da sagte mein Vater – Enttäuschung in der Stimme, sich fast entschuldigend – zum Verkäufer oder Inhaber: „Er ist halt noch nicht so weit.“ und kaufte eines der Holzstückchen für mich.

Und noch eine kleine Szene fällt mir jetzt ein:

Es war auch in der Admonter Zeit, wo, weiß ich nicht mehr, vermutlich am großen Platz vor oder bei der Stiftskirche, oder auch im Park davor. Ich war mit beiden Eltern unterwegs und irgendetwas hatte meine Aufmerksamkeit angezogen. Darum hatte ich die Hand meines Vaters losgelassen und bin dort hingegangen um mir die Sache genauer anzuschauen.
Als ich wieder mit den Eltern weitergehen sollte – wahrscheinlich hatten sie mich auch schon gerufen – wollte ich wieder die Hand meines Vaters ergreifen, schaute aber gleichzeitig noch zurück zu dem faszinierenden Ding und – scheinanwesend wie ich war – nahm ich die Hand eines fremden Mannes ohne es zu merken. Wir sind schon ein paar Schritte nebeneinander gegangen, als ich mich hindrehte und zu ihm aufschaute. Ich erschrak furchtbar, als ich den fremden Mann sah. Der lachte freundlich und ich schaute mich schnell um und sehe jetzt auch meine Eltern ein paar Meter weiter stehen und lachen. Schnell laufe ich zu ihnen hin. Mein Vater machte noch scherzhafte Bemerkungen darüber, an die ich mich nicht erinnern kann.




©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

111 Traumanruf


Ich sinke in den Traumzustand, weil ich jemanden anrufen will. Wie im Sog zieht es mich nach unten und ich sehe schon die Bilder des Traumes, aber noch ganz verschwommen. Und zu schnell, um sie festhalten zu können.
Wie mit einem Lift fahre ich nach unten, ich spüre die Abwärtsbewegung fast als leichten Schmerz im Bauch.

Gerade als ich stehenbleibe und die Bilder aufhören, sich zu bewegen, fällt mir ein, daß ich mein Handy ja im Wachzustand oben liegen habe und sofort zieht es mich wieder hinauf.
Auch dieses Ziehen spüre ich im Bauch oder aus dem Bauch heraus. Und wieder sausen die Bilder als helle, warme Farben unhaltbar an mir vorbei.

Oben schäle ich mich aus dem nicht geträumten Traum, irgendwelche Traumfetzen umschwirren noch meinen Kopf, kaum wahrgenommen, schon vergessen. Nur mein Herz klopft deutlich und stark; unterm Nabel noch die Vibrationen von Sog und Ziehen. In den Ohren summt und surrt es wie wild.

Nur mühsam kann ich mich durchringen, das Licht neben meinem Bett aufzudrehen, mir die Pölster in den Rücken zu schieben, die Beine anzuziehen, das Notizbuch vor mich hinzulegen, die Lesebrille aufzusetzen, den Kugelschreiber in die Hand zu nehmen und zu schreiben zu beginnen.

Mein Bewußtsein taumelt noch herum. Mein Geist schaut seinem Zerfall zu. Meine Erinnerung weiß nicht mehr, woran sie sich erinnern will. Das meiste ist schon wieder vergessen.
Ich habe keine Ahnung, wen ich anrufen wollte.

Mir fallen viele Wörter nicht ein. Wie heißen diese kleinen Karten, meistens mit Name, Adresse, Telephonnummer, die man jemandem gibt, um in Kontakt zu kommen oder zu bleiben?

In den Ohren saust es immer noch wild. Die Katze kratzt an der Tür und will herein. Der Wecker tickt wieder einigermaßen gleichmäßig, nur manchmal etwas lauter und leiser; und als ich genauer hinhöre – mit leichtem Dopplereffekt, als würde die Uhr sich bewegen. Oder als würde der Wecker schwerfällig über unebenes Gelände stapfen.

Visitenkarten! Genau! Visitenkarten. So heißen die Dinger!


©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com