Dienstag, 28. April 2015

123 Im alten Haus


Es war in meiner Grazer Zeit als Student. Noch vor der „wilden Kommune von Geidorf“. Ich wohnte in einer typischen Studentenbude. Vorher hatte ich in einer reinen Männerwohngemeinschaft im größten Hochhaus von Graz gewohnt. Nachdem aber derjenige von uns, der den Mietvertrag unterzeichnet, monatelang keine Miete gezahlt hatte, flogen wir raus. Was er mit unseren Mietzahlungen an ihn gemacht hatte, weiß ich nicht. Viel ist uns nicht passiert, da er selber der Hauptmieter war – wir mußten nur schnell neue Zimmer finden. Und ich fand bei der Zimmervermittlung der Österreichischen Hochschülerschaft ein billiges Zimmer gleich gegenüber dem Hauptgebäude der Universität.

Das Haus war ursprünglich ein alleinstehender Gutshof außerhalb der Stadt, aus der Zeit der Renaissance, denkmalgeschützt wenn ich mich richtig erinnere, und gehörte einer älteren Dame, die gleich ums Eck wohnte. Das Zimmer war im Dachgeschoß, groß, aber dunkel, mit nur einem kleinen Fenster in den Innenhof. Das Wort „Innenhof“ ist mißverständlich, denn es war ein großer Garten. Die Häuser der Gassen, dicht aneinander gebaut, bildeten ein großes Rechteck, wo sich innen, an den Rückseiten der Häuser, lauter Gärten  befanden. Von meinem Fenster aus betrachtet ein einziger riesiger Garten.

Das war ein schöner Anblick und in der warmen Jahreszeit konnte ich ohne weiteres bei offenem Fenster schlafen. Der Verkehrslärm war von dieser grünen Oase so gut wie ausgeschlossen und wenn mich etwas geweckt hat, dann war es das Gezwitscher der Vögel. Das mochte ich aber.

Ansonsten war es eine typische Studentenbude aus der Vorstellungswelt der Fünfzigerjahre oder früher. Unterm Dach, dunkel, kleines Fenster, Klo im Keller, natürlich keine Dusche. Das Waschbecken hatte keinen Syphon und deswegen stank es vom Kanal direkt ins Zimmer, besonders bei Tiefdruck. Aber ich wußte mir zu helfen. Ich klebe den Überlauf im Waschbecken mit einem Klebeband zu, gab den Stöpsel auf den Ausguß und ließ immer etwas Wasser im Waschbecken stehen. So hatte ich mir einen improvisierten Syphon „nachgebaut“. Nur bei starkem Tiefdruck stank es trotzdem. Das Klebeband war nicht ganz luftdicht auf dem glatten, irdenen Waschbecken und drohte öfters - vom Kontakt mit dem Wasser gewellt – sich abzulösen.

Als ich das Zimmer besichtigt hatte, habe ich es gleich genommen, weil es billig und ich für so eine - wie kann ich sagen? - Neunzehntes-Jahrhundert-Romantik durchaus anfällig war.
Mein Freund Hannes, als er einmal auf Besuch war, fand das Zimmer schrecklich. Er hatte nichts mit rückwärtsgewandten Projektionen im Sinn. Ich glaube, letztlich hatte er recht. Denn abgesehen vom Garten habe ich von dort nur vage und verschwommene Erinnerungen. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals einen längeren Tag oder einen schönen Abend in diesem Zimmer verbracht zu haben. Ich war die ganze Zeit in Lokalen unterwegs und trank.
Weil mir der Weg ins Klo im Keller zu blöd war, pinkelte ich meistens ins Waschbecken. Und wenn ich am Morgen „groß“ aufs Klo mußte – der Morgen war immer recht spät – ging ich hinüber zur Uni, um die Toiletten dort zu benutzen. Für Vorlesungen benutzte ich diesen Weg auf die andere Straßenseite kaum noch. Die Toilette im Haus unten im Keller – muffig, feucht, kalt – habe ich nur sehr selten besucht.

Nur an einen Abend kann ich mich dunkel erinnern, den ich „zuhause“ verbrachte und der war schrecklich. Ich wußte mit mir in dem Zimmer nichts anzufangen und hatte extreme Angstzustände. Ich weiß nicht mehr, warum ich mich gezwungen hatte, im Zimmer zu bleiben, und ob ich spät in der Nacht nicht doch wieder davongerannt bin. Ich weiß es einfach nicht mehr.

Die Hausbesitzerin, die das Zimmer vermietete, war noch – wenn ich eine Floskel aus früheren Zeiten verwenden darf – vom alten Schlag. Damenbesuch war nur erlaubt, wenn man sie vorher mit der Vermieterin bekannt gemacht hatte. Wer sich da wie in einem Film spätestens aus den Fünfzigerjahren fühlt, liegt ganz richtig.
Am Sonntag alle zwei Wochen lud mich die Vermieterin zum Essen bei sich ein mit anschließendem Geplauder. Ich ging immer etwas befangen, mit unguten, fast schuldbeladenen Gefühlen hin.

Es gab da im Dachgeschoß noch einen studentischen Mieter, der im anderen Zweiwochenrhythmus zum Essen bei ihr eingeladen war. Der paßte besser in dieses Ambiente. Ich glaube, er war ein Burschenschaftler, jedenfalls stufte ich ihn als sehr rechts ein, und ihm gegenüber war ich sehr reserviert. Obwohl er mir eine elektrische Kochplatte geborgt hatte, die ich ihm beim Auszug verdreckt zurückgelassen hatte.
Er hatte im Stiegenaufgang zu unseren „Buden“ - man muß sich den als eine enge Dachbodentreppe vorstellen – ein Scherzplakat hängen, das einen jüdischen Superman vor der Kulisse New Yorks darstellte, mit Hut und Bejkeles und das „S“ von superman auf der Brust in hebräischer Schrift. Das verwendeten er und seine Kumpanen als Zielscheibe für Dartspiele, wie ich aus den vielen „Einschußlöchern“ schließen konnte. Und ein vages Bild, daß ich sie gesehen oder gehört habe, wie sie auf dieses Plakat ihre Pfeile geworfen haben, geistert in meinen Erinnerungen undeutlich herum.

Einmal bin ich im Rausch nach Hause gekommen und habe dieses Plakat heruntergerissen und ihm vor seine Tür gelegt. Am nächsten Tag, als er mich darauf ansprach, war ich total verkatert und ging ihm gegenüber vollständig ein. Er drehte es so, daß ich der Antisemit wäre, der ein „jüdisches“ Plakat heruntergerissen hat. Wobei er schon so argumentierte, daß ich, wenn mich das Plakat gestört hat, doch vorher mit ihm reden hätte können, er hätte es entfernt, aber es einfach herunterreißen – das geht nicht.
Also ich wußte damals nichts zu entgegnen und stand verkatert, unsicher und sogar schuldbewußt vor ihm. Vielleicht war es doch eine Unterstellung, daß das Plakat als Zielscheibe für Dartpfeile zu benutzen, antisemitisch gemeint war und die haben sich bloß wenig gedacht dabei? So ganz unschuldig. Ein schüchterner Besucher von ihm stand verlegen grinsend dabei und sagte nichts. Ich war wirklich verunsichert und mir fehlte die Sicherheit, die ich in der Nacht im Rausch hatte, und schließlich entschuldigte ich mich für meinen Übergriff.
Das Plakat als solches war sicher nicht antisemitisch, sondern entsprang – denke ich – jüdischer Selbstironie.

Ja, es hilft eben nichts, wenn man zwar im Denken radikal ist und doch als verklemmter, schuldbeladener Typ herumläuft, der erst nach ein paar Bier oder Achterl „aufblüht“.
In meinen Ansichten war ich damals extrem. So hatte ich meine Vermieterin bei einem der Sonntagsessen sehr irritiert. Sie hatte im Smalltalk über die Verkommenheit unserer Gesellschaften heutzutage geklagt und als Beispiel die Streichung des Inzestparagraphen aus dem Strafgesetzbuch in Schweden angeführt - so in dem übereinstimmungserheischenden Ton „Und stellen Sie sich vor! In Schweden....“ Und ich hatte bloß geantwortet: „Man muß das ja nicht tun, auch wenn es das Gesetz nicht verbietet. Außerdem soll sich da der Staat nicht einmischen.“ Sie hat mich völlig entsetzt und verwundert angestarrt – das von einem Theologiestudenten!

Mit dieser Lockerheit und Nonchalance würde ich heute das Thema Sexualität und Strafrecht nicht mehr behandeln; man denke nur an das Thema Kindesmißbrauch. Auch die deutschen Grünen hatten Probleme damit. Aber ich lebte damals – geistig – in diesem Kosmos und hatte auch brav die Kursbücher I und II über die „Verkehrsformen“ studiert, in denen es um die „Befreiung der Sexualität“ von allen gesellschaftlichen „Fesseln“ ging. Vielleicht war das erst etwas später, aber die „sexuelle Revolution“ hatte ich als Programm schon aufgenommen. Heute wird mir sehr unwohl dabei, wenn ich daran denke, und das Thema ist mir äußerst unangenehm.

Allein Bücher mit Aufsätzen über des Thema „Sexualität“ mit „Verkehrformen“ zu übertiteln, zeugt schon von einem völlig vom Leben, den Empfindungen und Gefühlen abgeschnittenen Intellekt, herzlos und ohne jede Empathie, ohne jede Fähigkeit, andere als eigenständige und empfindende, fühlende Wesen wahrzunehmen. Letztlich auch sich selber nicht. Das ist reine Ideologie. Und ein solcher Intellekt ist sehr gefährlich – egal ob er von rechts oder von links kommt.

Apropos Theologiestudent. In diesem Haus befand sich unter anderem auch das Institut für Altes Testament der theologischen Fakultät und ich bin einmal zu einer Prüfung einfach mit meinen Schlapfen vom Zimmer im Dachgeschoß hinunter ins Institut geschlurft. Bei dieser Prüfung bin ich dann durchgefallen, aber sicher nicht wegen meiner Schlapfen, sondern weil ich zu wenig gelernt hatte. Damals ging ich nicht mehr zu Vorlesungen, sondern schaute so ein, zwei Wochen vor den Prüfungsterminen nach, welche Prüfungen ich ablegen könnte – Stichwort Stipendium – und schaute mir die Skripten durch; meistens genügte das auch. Ich Wirklichkeit war aber mein Studium schon längst am Zerbröseln.

Jedenfalls war ich froh, als in der Geidorfer Wohngemeinschaft, wo ich schon oft als herumsitzender Besucher ein und ausging, ein Zimmer frei wurde.






©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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