123 Im alten Haus
Es war in meiner Grazer Zeit als
Student. Noch vor der „wilden Kommune von Geidorf“. Ich wohnte in
einer typischen Studentenbude. Vorher hatte ich in einer reinen
Männerwohngemeinschaft im größten Hochhaus von Graz gewohnt.
Nachdem aber derjenige von uns, der den Mietvertrag unterzeichnet,
monatelang keine Miete gezahlt hatte, flogen wir raus. Was er mit
unseren Mietzahlungen an ihn gemacht hatte, weiß ich nicht. Viel ist
uns nicht passiert, da er selber der Hauptmieter war – wir mußten
nur schnell neue Zimmer finden. Und ich fand bei der
Zimmervermittlung der Österreichischen Hochschülerschaft ein
billiges Zimmer gleich gegenüber dem Hauptgebäude der Universität.
Das Haus war ursprünglich ein
alleinstehender Gutshof außerhalb der Stadt, aus der Zeit der
Renaissance, denkmalgeschützt wenn ich mich richtig erinnere, und
gehörte einer älteren Dame, die gleich ums Eck wohnte. Das Zimmer
war im Dachgeschoß, groß, aber dunkel, mit nur einem kleinen
Fenster in den Innenhof. Das Wort „Innenhof“ ist mißverständlich,
denn es war ein großer Garten. Die Häuser der Gassen, dicht
aneinander gebaut, bildeten ein großes Rechteck, wo sich innen, an
den Rückseiten der Häuser, lauter Gärten befanden. Von
meinem Fenster aus betrachtet ein einziger riesiger Garten.
Das war ein schöner Anblick und in der
warmen Jahreszeit konnte ich ohne weiteres bei offenem Fenster
schlafen. Der Verkehrslärm war von dieser grünen Oase so gut wie
ausgeschlossen und wenn mich etwas geweckt hat, dann war es das
Gezwitscher der Vögel. Das mochte ich aber.
Ansonsten war es eine typische
Studentenbude aus der Vorstellungswelt der Fünfzigerjahre oder
früher. Unterm Dach, dunkel, kleines Fenster, Klo im Keller,
natürlich keine Dusche. Das Waschbecken hatte keinen Syphon und
deswegen stank es vom Kanal direkt ins Zimmer, besonders bei
Tiefdruck. Aber ich wußte mir zu helfen. Ich klebe den Überlauf im
Waschbecken mit einem Klebeband zu, gab den Stöpsel auf den Ausguß
und ließ immer etwas Wasser im Waschbecken stehen. So hatte ich mir
einen improvisierten Syphon „nachgebaut“. Nur bei starkem
Tiefdruck stank es trotzdem. Das Klebeband war nicht ganz luftdicht
auf dem glatten, irdenen Waschbecken und drohte öfters - vom Kontakt
mit dem Wasser gewellt – sich abzulösen.
Als ich das Zimmer besichtigt hatte,
habe ich es gleich genommen, weil es billig und ich für so eine -
wie kann ich sagen? - Neunzehntes-Jahrhundert-Romantik durchaus
anfällig war.
Mein Freund Hannes, als er einmal auf
Besuch war, fand das Zimmer schrecklich. Er hatte nichts mit
rückwärtsgewandten Projektionen im Sinn. Ich glaube, letztlich
hatte er recht. Denn abgesehen vom Garten habe ich von dort nur vage
und verschwommene Erinnerungen. Ich kann mich auch nicht erinnern,
jemals einen längeren Tag oder einen schönen Abend in diesem
Zimmer verbracht zu haben. Ich war die ganze Zeit in Lokalen
unterwegs und trank.
Weil mir der Weg ins Klo im Keller zu
blöd war, pinkelte ich meistens ins Waschbecken. Und wenn ich am
Morgen „groß“ aufs Klo mußte – der Morgen war immer recht
spät – ging ich hinüber zur Uni, um die Toiletten dort zu
benutzen. Für Vorlesungen benutzte ich diesen Weg auf die andere
Straßenseite kaum noch. Die Toilette im Haus unten im Keller –
muffig, feucht, kalt – habe ich nur sehr selten besucht.
Nur an einen Abend kann ich mich dunkel
erinnern, den ich „zuhause“ verbrachte und der war schrecklich.
Ich wußte mit mir in dem Zimmer nichts anzufangen und hatte extreme
Angstzustände. Ich weiß nicht mehr, warum ich mich gezwungen hatte,
im Zimmer zu bleiben, und ob ich spät in der Nacht nicht doch wieder
davongerannt bin. Ich weiß es einfach nicht mehr.
Die Hausbesitzerin, die das Zimmer
vermietete, war noch – wenn ich eine Floskel aus früheren Zeiten
verwenden darf – vom alten Schlag. Damenbesuch war nur erlaubt,
wenn man sie vorher mit der Vermieterin bekannt gemacht hatte. Wer
sich da wie in einem Film spätestens aus den Fünfzigerjahren fühlt,
liegt ganz richtig.
Am Sonntag alle zwei Wochen lud mich
die Vermieterin zum Essen bei sich ein mit anschließendem Geplauder.
Ich ging immer etwas befangen, mit unguten, fast schuldbeladenen
Gefühlen hin.
Es gab da im Dachgeschoß noch einen
studentischen Mieter, der im anderen Zweiwochenrhythmus zum Essen bei
ihr eingeladen war. Der paßte besser in dieses Ambiente. Ich glaube,
er war ein Burschenschaftler, jedenfalls stufte ich ihn als sehr
rechts ein, und ihm gegenüber war ich sehr reserviert. Obwohl er mir
eine elektrische Kochplatte geborgt hatte, die ich ihm beim Auszug
verdreckt zurückgelassen hatte.
Er hatte im Stiegenaufgang zu unseren
„Buden“ - man muß sich den als eine enge Dachbodentreppe
vorstellen – ein Scherzplakat hängen, das einen jüdischen
Superman vor der Kulisse New Yorks darstellte, mit Hut und Bejkeles
und das „S“ von superman auf der Brust in hebräischer Schrift.
Das verwendeten er und seine Kumpanen als Zielscheibe für
Dartspiele, wie ich aus den vielen „Einschußlöchern“ schließen
konnte. Und ein vages Bild, daß ich sie gesehen oder gehört habe,
wie sie auf dieses Plakat ihre Pfeile geworfen haben, geistert in
meinen Erinnerungen undeutlich herum.
Einmal bin ich im Rausch nach Hause
gekommen und habe dieses Plakat heruntergerissen und ihm vor seine
Tür gelegt. Am nächsten Tag, als er mich darauf ansprach, war ich
total verkatert und ging ihm gegenüber vollständig ein. Er drehte
es so, daß ich der Antisemit wäre, der ein „jüdisches“ Plakat
heruntergerissen hat. Wobei er schon so argumentierte, daß ich, wenn
mich das Plakat gestört hat, doch vorher mit ihm reden hätte
können, er hätte es entfernt, aber es einfach herunterreißen –
das geht nicht.
Also ich wußte damals nichts zu
entgegnen und stand verkatert, unsicher und sogar schuldbewußt vor
ihm. Vielleicht war es doch eine Unterstellung, daß das Plakat als
Zielscheibe für Dartpfeile zu benutzen, antisemitisch gemeint war
und die haben sich bloß wenig gedacht dabei? So ganz unschuldig. Ein
schüchterner Besucher von ihm stand verlegen grinsend dabei und
sagte nichts. Ich war wirklich verunsichert und mir fehlte die
Sicherheit, die ich in der Nacht im Rausch hatte, und schließlich
entschuldigte ich mich für meinen Übergriff.
Das Plakat als solches war sicher nicht
antisemitisch, sondern entsprang – denke ich – jüdischer
Selbstironie.
Ja, es hilft eben nichts, wenn man zwar
im Denken radikal ist und doch als verklemmter, schuldbeladener Typ
herumläuft, der erst nach ein paar Bier oder Achterl „aufblüht“.
In meinen Ansichten war ich damals
extrem. So hatte ich meine Vermieterin bei einem der Sonntagsessen
sehr irritiert. Sie hatte im Smalltalk über die Verkommenheit
unserer Gesellschaften heutzutage geklagt und als Beispiel die
Streichung des Inzestparagraphen aus dem Strafgesetzbuch in Schweden
angeführt - so in dem übereinstimmungserheischenden Ton „Und
stellen Sie sich vor! In Schweden....“ Und ich hatte bloß
geantwortet: „Man muß das ja nicht tun, auch wenn es das Gesetz
nicht verbietet. Außerdem soll sich da der Staat nicht einmischen.“
Sie hat mich völlig entsetzt und verwundert angestarrt – das von
einem Theologiestudenten!
Mit dieser Lockerheit und Nonchalance
würde ich heute das Thema Sexualität und Strafrecht nicht mehr
behandeln; man denke nur an das Thema Kindesmißbrauch. Auch die
deutschen Grünen hatten Probleme damit. Aber ich lebte damals –
geistig – in diesem Kosmos und hatte auch brav die Kursbücher I
und II über die „Verkehrsformen“ studiert, in denen es um die
„Befreiung der Sexualität“ von allen gesellschaftlichen
„Fesseln“ ging. Vielleicht war das erst etwas später, aber die
„sexuelle Revolution“ hatte ich als Programm schon aufgenommen.
Heute wird mir sehr unwohl dabei, wenn ich daran denke, und das Thema
ist mir äußerst unangenehm.
Allein Bücher mit Aufsätzen über des Thema „Sexualität“ mit „Verkehrformen“ zu übertiteln, zeugt schon von einem völlig vom Leben, den Empfindungen und Gefühlen abgeschnittenen Intellekt, herzlos und ohne jede Empathie, ohne jede Fähigkeit, andere als eigenständige und empfindende, fühlende Wesen wahrzunehmen. Letztlich auch sich selber nicht. Das ist reine Ideologie. Und ein solcher Intellekt ist sehr gefährlich – egal ob er von rechts oder von links kommt.
Allein Bücher mit Aufsätzen über des Thema „Sexualität“ mit „Verkehrformen“ zu übertiteln, zeugt schon von einem völlig vom Leben, den Empfindungen und Gefühlen abgeschnittenen Intellekt, herzlos und ohne jede Empathie, ohne jede Fähigkeit, andere als eigenständige und empfindende, fühlende Wesen wahrzunehmen. Letztlich auch sich selber nicht. Das ist reine Ideologie. Und ein solcher Intellekt ist sehr gefährlich – egal ob er von rechts oder von links kommt.
Apropos Theologiestudent. In diesem
Haus befand sich unter anderem auch das Institut für Altes Testament
der theologischen Fakultät und ich bin einmal zu einer Prüfung
einfach mit meinen Schlapfen vom Zimmer im Dachgeschoß hinunter ins
Institut geschlurft. Bei dieser Prüfung bin ich dann durchgefallen,
aber sicher nicht wegen meiner Schlapfen, sondern weil ich zu wenig
gelernt hatte. Damals ging ich nicht mehr zu Vorlesungen, sondern
schaute so ein, zwei Wochen vor den Prüfungsterminen nach, welche
Prüfungen ich ablegen könnte – Stichwort Stipendium – und
schaute mir die Skripten durch; meistens genügte das auch. Ich
Wirklichkeit war aber mein Studium schon längst am Zerbröseln.
Jedenfalls war ich froh, als in der
Geidorfer Wohngemeinschaft, wo ich schon oft als herumsitzender
Besucher ein und ausging, ein Zimmer frei wurde.
©Peter
Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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