Donnerstag, 23. April 2015

119 Der Typ in der Glastür


Ich sitze am Ufer des Nil. Mir gegenüber spiegelt sich ein eigenartiger Typ in der Glastür. Er scheint zu grinsen und die Haare stehen ihm seitlich zu Berge.

Die Leute, die vorbeigehen, kommen zuerst von links nach rechts, dann ändern sie plötzlich die Richtung, gehen ein kurzes Stück von rechts nach links, bis sie wieder mit einem Sprung, bei dem sie einen Moment lang verschwinden, in ihre ursprüngliche Richtung zurückkehren.

Jetzt lehnt der Typ in der Glastür schief da, den Kopf zur Seite geneigt.

Auffällig viele Frauen gehen herum. Ich sehe nur einen Mann, und der sitzt in einem Auto, das eine Frau lenkt. Der Mann mit dem Kinderwagen verläßt das Lokal und wechselt auch zweimal die Richtung.

Im Geschäft gegenüber gibt es „eh alles“. Jetzt sind wieder einige Männer aufgetaucht. Der Typ in der Glastür ist verschwunden – die Glastüre zu.
Mein Blickfeld erweitert sich und wird gleichzeitig weniger.
Ein alter Mann trippelt in ganz kleinen Schritten zur Auslage und schaut lang und konzentriert hinein.

Ich blicke lauernd herum. Die Zeit vergeht. Jetzt schaut der alte Mann intensiv ein Schild an, das an einer Hauswand angebracht ist.
Ein dicker Mann schnappt lächelnd nach Luft, nachdem auch er zweimal die Richtung gewechselt hat.
Der Wind reißt und zerrt und schlägt „eh alles“ um.
Die Geräusche lassen mein Bewußtsein absinken. Alles Geräusche, die mich nichts angehen. Glaube ich zumindest.

Dreißig Zentimeter lang gehen die Passanten verdoppelt vorbei. Der Doppelgänger ist etwas kleiner, ansonsten genau gleich. Er geht in die gleiche Richtung.
Eine Frau ißt Suppe.

Meine Empfindungen sind heute im Arsch. Dafür kann ich den Sessel fühlen, auf dem ich sitze.
Ein Mann mit Hut geht lässig vorbei und redet cool. Ich höre es nicht, kann es aber an seinen Mundbewegungen erkennen.

Die meisten Leute wirken etwas müde. So wie der Typ in der Glastür vorhin. Ich habe „alles Gute!“ hingeschrieben. Ein LKW schaukelt beim Stehenbleiben. Ich werfe Blicke durch die Fenster. Manchmal treffen sie Menschen auch im Gesicht.

Das blaue Licht leuchtet still im Hintergrund vor mir. Eine Frau trägt ihren verzweifelt wirkenden Busen vorbei, eine andere schiebt ihren Kinderwagen.
Jetzt ist mir etwas eingefallen: Ohne Verletzungen geht es nicht!
Der Opa mit grünem Rucksack redet mit seinem Enkel mit grünem Rucksack.
Ein braungebrannter Mann mit der Sonnenbrille im Haar greift sich an den Schwanz. Wenn ich von mir auf ihn schließen darf, dann haben sich ein paar Schamhaare eingezwickt.

Schon wieder bestelle ich koffeinfreien Kaffee, „melangenartig“, wie ich sage. Einfach „Melange“ käme mir zu verletztend vor. Die vertrackte Lust zu verletzen!

Ein junger Mann atmet erleichtert seinen Rauch aus, während er mit einer Dose in der Hand, die er lässig von oben hält, langsam vorbeischlendert, mit eidechsenartigen Schritten aus der Hüfte heraus.

Die Glastür kann von außen weder geöffnet noch geschlossen werden, weil sie draußen keinen Griff hat. Der Typ in der Glastür bleibt verschwunden. Vielleicht war er kurz wieder da und ich habe ihn übersehen.

Bei meinen Lieblingsbäumen sitzend sehe ich, wie eine Amsel einen Regenwurm aus dem Erdloch zieht und dann fallen läßt. Es geschah blitzschnell. Vielleicht habe ich übersehen, daß sie ein Stück von ihm gefressen hat. Ich gehe hin und schaue dem Regenwurm zu. Er hebt seinen Vorderteil und seinen Hinterteil. Ich weiß nicht, wo vorne und wo hinten ist. Suchend bewegen sich die beiden Enden, manchmal gleichzeitig, manchmal abwechselnd, das eine Ende häufiger und stärker. Das wird vorne sein, denke ich.

Der Regenwurm schafft es nicht, in die Erde zu kommen. Seine Bewegungen kommen mir verzweifelt vor. Ist der Boden an der Stelle, wo ihn die Amsel fallen gelassen hat, zu fest getreten? Oder hat ihm die Amsel tatsächlich den Kopf abgezwickt? Ich gehe hin und lege den Regenwurm an eine Stelle mit lockererer Erde. Aber er schafft es trotzdem nicht. Für mich schaut es so aus. Was weiß ich schon über Regenwürmer? Darum weiß ich auch nicht, ob meine Hilfe angemessen war oder eine unlautere Einmischung in fremde Angelegenheiten.
Dann gehe ich zur Arbeit.

Als die Arbeit vorbei ist, ist es bereits dunkel und ich kann die schmale Mondsichel und die Venus sehen. Sie leuchten wunderschön am Himmel. Auch Beteigeuze kann ich über den Dächern noch erkennen. Alle im Westen. Jupiter auch in der Nähe. Im Osten erkenne ich Arktur.

Ich fahre nach Hause. Bei meiner U-Bahnstation nehme ich einen anderen Ausgang, um über die Brücke zu gehen. Ich hoffe, auf der Brücke den Sternenhimmel offener sehen zu können. Das viele Licht stört. Aber ich kann noch Orion ausmachen mit seinen Begleitern Sirius und Prokyon. Und dann noch Regulus vom Löwen. Und Capella, die kleine Ziege vom Fuhrmann.

Aufgekratzt und müde vertrödle ich viel Zeit am Computer. Bevor ich ins Bett gehe, drehe ich im Atelier das Licht ab und schaue aus dem Fenster nach den Sternen. Der Himmel trübt sich ein, nur Regulus – wie ich glaube – kann ich noch erkennen.

Dann gehe ich schlafen. Ich drehe das Licht ab. In meinem Zimmer leuchten die Sterne noch nach.
Ich möchte im Traum meine Hände sehen.



©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com


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