119 Der Typ in der Glastür
Ich sitze am Ufer des Nil. Mir
gegenüber spiegelt sich ein eigenartiger Typ in der Glastür. Er
scheint zu grinsen und die Haare stehen ihm seitlich zu Berge.
Die Leute, die vorbeigehen, kommen
zuerst von links nach rechts, dann ändern sie plötzlich die
Richtung, gehen ein kurzes Stück von rechts nach links, bis sie
wieder mit einem Sprung, bei dem sie einen Moment lang verschwinden,
in ihre ursprüngliche Richtung zurückkehren.
Jetzt lehnt der Typ in der Glastür
schief da, den Kopf zur Seite geneigt.
Auffällig viele Frauen gehen herum.
Ich sehe nur einen Mann, und der sitzt in einem Auto, das eine Frau
lenkt. Der Mann mit dem Kinderwagen verläßt das Lokal und wechselt
auch zweimal die Richtung.
Im Geschäft gegenüber gibt es „eh
alles“. Jetzt sind wieder einige Männer aufgetaucht. Der Typ in
der Glastür ist verschwunden – die Glastüre zu.
Mein Blickfeld erweitert sich und wird
gleichzeitig weniger.
Ein alter Mann trippelt in ganz kleinen
Schritten zur Auslage und schaut lang und konzentriert hinein.
Ich blicke lauernd herum. Die Zeit
vergeht. Jetzt schaut der alte Mann intensiv ein Schild an, das an
einer Hauswand angebracht ist.
Ein dicker Mann schnappt lächelnd nach
Luft, nachdem auch er zweimal die Richtung gewechselt hat.
Der Wind reißt und zerrt und schlägt
„eh alles“ um.
Die Geräusche lassen mein Bewußtsein
absinken. Alles Geräusche, die mich nichts angehen. Glaube ich
zumindest.
Dreißig Zentimeter lang gehen die
Passanten verdoppelt vorbei. Der Doppelgänger ist etwas kleiner,
ansonsten genau gleich. Er geht in die gleiche Richtung.
Eine Frau ißt Suppe.
Meine Empfindungen sind heute im Arsch.
Dafür kann ich den Sessel fühlen, auf dem ich sitze.
Ein Mann mit Hut geht lässig vorbei
und redet cool. Ich höre es nicht, kann es aber an seinen
Mundbewegungen erkennen.
Die meisten Leute wirken etwas müde.
So wie der Typ in der Glastür vorhin. Ich habe „alles Gute!“
hingeschrieben. Ein LKW schaukelt beim Stehenbleiben. Ich werfe
Blicke durch die Fenster. Manchmal treffen sie Menschen auch im
Gesicht.
Das blaue Licht leuchtet still im
Hintergrund vor mir. Eine Frau trägt ihren verzweifelt wirkenden
Busen vorbei, eine andere schiebt ihren Kinderwagen.
Jetzt ist mir etwas eingefallen: Ohne
Verletzungen geht es nicht!
Der Opa mit grünem Rucksack redet mit
seinem Enkel mit grünem Rucksack.
Ein braungebrannter Mann mit der
Sonnenbrille im Haar greift sich an den Schwanz. Wenn ich von mir auf
ihn schließen darf, dann haben sich ein paar Schamhaare eingezwickt.
Schon wieder bestelle ich koffeinfreien
Kaffee, „melangenartig“, wie ich sage. Einfach „Melange“ käme
mir zu verletztend vor. Die vertrackte Lust zu verletzen!
Ein junger Mann atmet erleichtert
seinen Rauch aus, während er mit einer Dose in der Hand, die er
lässig von oben hält, langsam vorbeischlendert, mit
eidechsenartigen Schritten aus der Hüfte heraus.
Die Glastür kann von außen weder
geöffnet noch geschlossen werden, weil sie draußen keinen Griff
hat. Der Typ in der Glastür bleibt verschwunden. Vielleicht war er
kurz wieder da und ich habe ihn übersehen.
Bei meinen Lieblingsbäumen sitzend
sehe ich, wie eine Amsel einen Regenwurm aus dem Erdloch zieht und
dann fallen läßt. Es geschah blitzschnell. Vielleicht habe ich
übersehen, daß sie ein Stück von ihm gefressen hat. Ich gehe hin
und schaue dem Regenwurm zu. Er hebt seinen Vorderteil und seinen
Hinterteil. Ich weiß nicht, wo vorne und wo hinten ist. Suchend
bewegen sich die beiden Enden, manchmal gleichzeitig, manchmal
abwechselnd, das eine Ende häufiger und stärker. Das wird vorne
sein, denke ich.
Der Regenwurm schafft es nicht, in die
Erde zu kommen. Seine Bewegungen kommen mir verzweifelt vor. Ist der
Boden an der Stelle, wo ihn die Amsel fallen gelassen hat, zu fest
getreten? Oder hat ihm die Amsel tatsächlich den Kopf abgezwickt?
Ich gehe hin und lege den Regenwurm an eine Stelle mit lockererer
Erde. Aber er schafft es trotzdem nicht. Für mich schaut es so aus.
Was weiß ich schon über Regenwürmer? Darum weiß ich auch nicht,
ob meine Hilfe angemessen war oder eine unlautere Einmischung in
fremde Angelegenheiten.
Dann gehe ich zur Arbeit.
Als die Arbeit vorbei ist, ist es
bereits dunkel und ich kann die schmale Mondsichel und die Venus
sehen. Sie leuchten wunderschön am Himmel. Auch Beteigeuze kann ich
über den Dächern noch erkennen. Alle im Westen. Jupiter auch in der
Nähe. Im Osten erkenne ich Arktur.
Ich fahre nach Hause. Bei meiner
U-Bahnstation nehme ich einen anderen Ausgang, um über die Brücke zu gehen. Ich hoffe, auf der Brücke den Sternenhimmel
offener sehen zu können. Das viele Licht stört. Aber ich kann noch
Orion ausmachen mit seinen Begleitern Sirius und Prokyon. Und dann
noch Regulus vom Löwen. Und Capella, die kleine Ziege vom Fuhrmann.
Aufgekratzt und müde vertrödle ich
viel Zeit am Computer. Bevor ich ins Bett gehe, drehe ich im Atelier
das Licht ab und schaue aus dem Fenster nach den Sternen. Der Himmel
trübt sich ein, nur Regulus – wie ich glaube – kann ich noch
erkennen.
Dann gehe ich schlafen. Ich drehe das
Licht ab. In meinem Zimmer leuchten die Sterne noch nach.
Ich möchte im Traum meine Hände
sehen.
©Peter
Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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