Mittwoch, 15. April 2015

114 Sitzen, Segnen und Rollen


Ich sitze und schräg rechts gegenüber steht ein Lastwagen. Seine graue Plane über der Ladefläche macht Falten und erzeugt so im schrägen Sonnenlicht ein schönes Licht- und Schattenspiel, das der Wind – manchmal ganz sanft sich anschmiegend, manchmal kraftvoll zupackend – auf wunderbare Weise bewegt.

Heute bin ich schon in der U-Bahn gesessen. Auf dem Weg zum großen, schlanken Mann. In den U-Bahnstationen und auf den Straßen habe ich den Frauen auf den Hintern gegafft. Aber jetzt trete ich beim großen, schlanken Mann ein und setzte mich hin. Ich sitze und erzähle vom Gaffen. Dann schließe ich die Augen und werde ganz ruhig. Ich spüre den Druck der immensen Luftsäule über mir mich niederdrücken. Und die Erde mich anziehen.

Es drückt mit zusammen und ich bringe immer weniger Widerstand gegen diesen Druck auf. Ich werde immer mehr zusammengekrümmt, lasse den Kopf nach vorne sinken, beuge mich tiefer und tiefer und werde immer kleiner. Jetzt bin ich nur mehr ein Tropfen. Der Tropfen spürt keinen Druck. Es ist ein angenehmer Zustand. Ich habe diese Welt der Schwerkraft verlassen.

Aber dann kehre ich wieder zurück. Ich dehne mich aus, zuerst strecke ich mich in die Arme hinein, dann stütze ich mich mit den Beinen nach unten ab und spüre den Boden gegen die Fußsohlen drücken. Das gibt mir den Halt zum Aufrichten. Ich hebe wieder den Kopf. Ich stütze die Arme auf die Oberschenkel und richte den Oberkörper auf, dehne die Brust und sitze. Ich sitze wie auf einem Thron. In dieser Welt der Schwerkraft. Ich habe meine Gestalt wieder von innen ausgefüllt.

Jetzt werde ich etwas größenwahnsinnig und fühle mich, als wäre ich ein Papst. Ich sitze auf dem Thron und segne die Welt. Urbi et orbi. Mir ist ganz feierlich zumute.

Da spricht der große, schlanke Mann mitten in mein Segnen hinein: „Und was ist, wenn jetzt eine Frau mit schönem Hintern vorbeikommt?“

Ich muß lachen. Ich muß viel lachen. Nun, vielleicht kann ich sie segnen. Der Mann sagt: „vielleicht hat sie eine verletzte Seele, die des Segens bedarf!“ Kurz bin ich erschrocken, als wäre ich zum erstenmal damit konfrontiert, daß Frauen eine Seele haben; und muß dann weiterlachen. So schön an der Nase herumgeführt worden zu sein! Da bin ich um die Ecke gebogen, und da ...
Wieder muß ich lachen.

Vergnügt sitze ich am Thron. Ich genieße den Zustand. Wellen von Energie gehen durch mich hindurch und schaukeln mich sanft. Je nachdem, wie ich mich in diese Wellen stelle, sind sie kürzer oder größer, sanfter oder stärker. Ich spiele mit ihnen. Ich lasse mich schaukeln. Die Wellen kommen aus dem Universum und sind unwandelbar und stetig.

Jetzt fährt die Plane mit dem Lichtspiel weg. Sie bleibt nochmals direkt vor mir kurz stehen um sich zu verabschieden. Als sie weg ist, stinkt es nach Autoabgasen.

Ich gehe zurück zum Thron. Mein Kopf ist etwas zu schwer. Er hält schlecht. Gehalten wird er nur mehr von so metallenen Strängen, wie Saiten, die von unten aus dem Rumpf kommen, durch den Hals gehen und innen im Hohlraum des Kopfes festgemacht sind. Die Drehverbindung zwischen Kopf und Hals ist schon aufgeschraubt. Deswegen taumelt der Kopf hin und her. Eine Viola fängt zu spielen an und ich lausche den Schwingungen ihrer Saiten und schließlich fällt der Kopf runter zur Erde und rollt – kantapper, kantapper – davon.

Ich fühle mich ganz wohl ohne Kopf; aus meinem Hals wächst jetzt eine Fontäne von leuchtenden, gelben Energiesträngen. Ich kann alles wahrnehmen. Mir fehlt nichts. Mein Kopf geht mir gar nicht ab. Soll er ruhig – kantapper, kantapper – in der Welt herumrollen. Ich brauche ihn nicht. Ach wie schön ist es, kopflos zu sein!

Ah, ich höre, daß er gerade einen Bären trifft! „Guten Tag, Bär!“, sagte der Kopf. „Guten Tag lieber Kopf“, sagte der Bär, „wart ein Weilchen, ich will dich auffressen!“ „Das möchtest du wohl“, rief der Kopf, „ich bin schon dem Peter Rumpf davongelaufen, mich sollst du nicht kriegen!“ Und rollte – kantapper, kantapper – den Weg entlang. Hoffentlich richtet er in der Welt draußen nicht zuviel Schaden an!

Jetzt sitze ich unter einem meiner Lieblingsbäume, einer lieblichen Birke, die gerade ihre Blätter austreibt. Links von mir die herrliche, riesige Platane, die Herrin am Platz. Und weiter hinter der Platane, die Straße entlang, stehen vier junge, kleinere Bäumchen, die auch meine Freunde sind, größer als ich. Der letzte heißt Agent 007. 007 ist der erste den ich grüße, wenn ich hierher komme.
Rechts von mir, weiter weg, drüben über der Straßenkreuzung, steht noch eine kleinere Platane, groß und schön, auch sie begrüße ich fast immer mit Handschlag.

Ah, ich höre, der Kopf trifft gerade einen Wolf! „Guten Tag, Wolf!“, sagte der Kopf. „Du hast es ganz schön eilig“, sagte der Wolf. „Wart ein wenig, daß ich dich fressen kann!“ „Ein andermal“, sagte der Kopf. „Ich bin schon dem Peter Rumpf und dem Bären davongelaufen, da sollst du mich auch nicht kriegen!“ und rollte – kantapper, kantapper – in den Wald hinein.

Der Wind weht von rechts und trägt immer wieder Autoabgase her, diesen Geruch, von dem mir so leicht schlecht wird. Vor mir die gelbe Macht. Paßt gut, daß ich heute ein gelbes Leiberl angezogen habe.

Ah, ich höre, der Kopf begegnet gerade einem Wildschwein! „Guten Tag, Frau Wildschwein!“ grüßte der Kopf. „Halt!“ grunzte das Wildschwein. „Ich will von dir kosten!“ „Ein andermal“, sagte der Kopf. „ich bin schon dem Peter Rumpf, dem Bären und dem Wolf davongelaufen. Da sollst du mich auch nicht kriegen!“ und rollte – kantapper, kantapper – die Wiese hinunter.

Bald werde ich wieder sitzen. Stundenlang, mit Headset am Kopf. Wenn ich aufstehe und aufs Klo gehe, wird der Aufseher schauen. Letztens hat auch er ein gelbes T-Shirt getragen.

Ah, ich höre, der Kopf trifft einen Gockel! „Guten Tag, Gockel!“ ruft der Kopf. „Was läufst du so schnell?“, fragte der Gockel. „Bleib stehen, damit ich einen großen Happen picken kann!“ „Keine Zeit!“, schreit der Kopf und rollt – kantapper, kantapper – weiter. „Ich bin schon dem Peter Rumpf, dem Bären, dem Wolf und dem Wildschwein davon gerollt. Du hast mich auch nicht gekriegt!“

Zwischen der Bank, auf der ich sitze, und der gelben Macht führt der Fußweg ins Nirgendwo vorbei, auch ich bin diesen Weg hergekommen. Jetzt sitze ich unter der lieben Birke. Sie breitet ihre vielen Arme über mich und muß sich dabei anstrengen, immer wieder fallen ihre Arme zurück nach rechts. Aber der Wind hilft ihr. Liebevoll steckt sie ihre Zweige wieder und wieder über mich. Danke!

Ich segne eine junge Frau im Minirock. Aufs Segnen hatte ich ganz vergessen. Ich habe noch Zeit zum Sitzen und Segnen.

Eine Arbeitskollegin kommt vorbei. Wir plaudern ein bißchen. Sie geht dann weiter und ich segne ihr hinterher.

Den kenn ich auch! Den kenn ich! Flüchtig, vor Jahrzehnten. Aus Selzthal. Er ist alt geworden.

Schade, daß ich mich nicht offen segnen traue, sondern nur heimlich. Aber es ist besser so. Nur laß ich mich dann leicht ablenken.

Mein Freund Joseph T. fällt mir ein. Mit ihm habe ich vor vielen Jahren die Plaza Mayor in Salamanca voll ausgesegnet. Wir sind gleichzeitig jeder eine Diagonale abgegangen, mit segnenden Händen – die beiden Diagonalen – ein einziges segnendes Kreuzzeichen. Wir haben damals alles gesegnet. Alles, was auf dem Tisch war, alles um uns herum, alles auf diesem großen Platz, den Platz selber. Auch die Regentropfen. Aber da sind wir nicht nachgekommen mit dem Segnen.
Auch jetzt komme ich nicht nach. Es kommen so viele Leute vorbei, die Segen brauchen könnten. Manchmal fällt es mir leichter, manchmal fällt es mir schwerer. Immer wieder schaue ich auf die Uhr.

Ich werde jetzt zur kleineren Platane, die aber auch groß ist, hinübergehen und sie mit Handschlag begrüßen. Vorher verabschiede ich mich noch von der großen und von der Birke.



(Für die Passagen vom rollenden Kopf habe ich mir das Märchen „Der dicke fette Pfannkuchen“ aus Constanze Schargan, „Märchen für die Kleinsten“, Coppenrath Verlag 2003, als Vorlage genommen und teilweise wörtlich zitiert, vor allem das Wort "kantapper".)



ansonsten:
©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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