109 Niemandsland
Niem versuchte,
hinein zu kommen. Er wußte, dort muß er hin. Das ist seine Mission.
Mit seinem Gesicht war er schon drinnen, aber alles andere war noch
draußen. Was heißt alles andere – er spürte sich nur als Blick,
als Augen, die schauen. Da war sein Zentrum, alles andere ahnte er
mehr, als daß er es spürte. Aber ein Gesicht muß dann wohl da
sein, denke ich, wenn er vom Rand hineinschaut.
Wenn er sich
konzentrierte und seinen Blick schärfte – was ihm nur für kurze
Momente gelang - sah er drinnen viele Menschen, eine geschäftige
Stadt. Handwerker, Kaufleute, Kunden eilten gemächlich durch die
Gassen in Geschäfte, in Werkstätten, in Gasthäuser, in ihre Häuser
und Wohnungen und wieder heraus. Die Stadt und ihr Treiben wirkte auf
Niem wie aus alter Zeit – deshalb kam ihm die Eile dort gemächlich
vor. Enge Gassen, kleine Plätze, Straßenmärkte mit einfachen
Buden, die Gebäude in hellen, sandigen Farben. Wie schon gesagt, aus
alter Zeit, höchstens, allerhöchstens ein verschlafenes,
zurückgebliebenes Städtchen in den frühen Fünfzigerjahren.
Meistens aber
nahm Niem alles nur flüchtig auf. Ein warmer Farbton mit Ecken und
Kanten und Bewegung dazwischen. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen
ganzen Kopf in diese Welt zu stecken, die von einer zähen, aber
halbwegs durchsichtigen, gelben Folie umspannt zu sein schien. Jetzt
versuchte er, ein Bein hinein zu strecken. Da er damit nicht
vorankam, versuchte er den linken Arm durch die Folie zu drücken.
Ja, jetzt hatte er den Arm drinnen. Mit seiner linken Hand packte er
sein linkes Bein und zog auch dieses durch die Folie und mit einem
kraftvollen Ruck auch seinen halben Rumpf.
So, mit seinem
halben Körper in dieser Welt schaute er sich genauer um. Er war am
Rande eines kleinen Platzes, nicht viel größer als ein ordentlicher
Hinterhof, auf dreieinhalb Seiten umgeben von gelb gestrichenen
Wänden unterschiedlicher Gebäude unterschiedlicher Höhe und
unterschiedlicher Ausstattung. Links hinten eine kleine Gasse, die –
das konnte man sehen und ahnen – zu einem freien, offenen Platz
führte.
Drei, vier Meter
vor ihm sah er einen Mann an einem Werkstück arbeiten – er konnte
nicht erkennen, um welches Handwerk es sich handelte, noch was der
Mann herstellte. Der Mann klopfte und hämmerte wie ein Schmied, aber
es war keine Schmiede. Feuer, Amboß waren nicht zu sehen.
Niem zwängte
seinen ganzen Rumpf durch die zähe, gelbliche Hülle und war nur
mehr mit dem rechten Unterschenkel und dem rechten Fuß draußen. Das
war seine letzte Verbindung mit dem Draußen. Und er dachte, wenn ich
das ganze rechte Bein hereinziehe, kann ich dann noch zurück? Nein,
zumindest nicht mehr so leicht. Darum zögerte er kurz: In dieser
Welt gefangen sein? Will ich das? Er dachte an seine Mission. Es muß
sein. Es muß sein.
Gerade als er
das rechte Bein zur Gänze hereinziehen will, dreht der Mann an der
Werkbank seinen Kopf in seine Richtung, mustert ihn ungeniert und
sagt feindselig: „Ohne Führerschein ist da nichts zu machen!
Kannst gleich wieder umdrehen!“ und wendet sich wieder seinem
Werkstück zu - indem er darauf einschlägt.
Niem zuckt
zurück, so heftig, daß er wieder ins Draußen zurückschießt, wie
von der Folie zurückgeschleudert. Und saust durch die nahezu leere
Außenwelt. Wie vorher, als er die gelbe, warmgefärbte Welt noch
nicht entdeckt hatte.
Niem beschließt
aber, wieder näher an diese warme, gelbe Welt heranzufliegen und
beginnt, sie – das Tempo gedrosselt – zu umkreisen.
„Führerschein? Führerschein? Ich habe gar keine Autos gesehen.“
… „Nicht nochmals an dieser Stelle den Eintritt versuchen!“
Wieder
verlangsamt er seinen Flug und umkreist die gelbe Welt knapp außen
an der gelben Hülle. Niem entdeckt eine menschenleere Landschaft. Er
umkreist jetzt nur mehr diese Stelle und betrachtet sie genauer. Er
steckt wieder das Gesicht durch die Folie und sieht grüne
Aulandschaft, bewachsen mit Bäumen und Gebüsch und Wiesenflecken
und Stellen mit Sand oder Schotter. Nur manche Sandstreifen hatten
hier noch einen gelblichen Farbton. In der Ferne am Rande ein
größerer Hügel, schon bläulich schimmernd. Ein Fluß zog sich in
glücklich sanften Mäandern durch das Gebiet. Niem hielt Ausschau
nach Menschen, nach Anzeichen von Siedlungen und fand nur ein paar
breite, flache Gebäude, die zusammenstanden, ein Hof mit seinen
Nebengebäuden, locker und bequem angelegt, kein bestimmter Stil,
aber eher modernerer Bauart. Von Menschen war weit und breit nichts
zu sehen, auch dieses Gehöft wirkte verlassen.
Es schien
wirklich Niemandsland zu sein. Er zog sein Gesicht wieder aus der
Folie, umkreiste nocheinmal das Gebiet, ließ seinen Blick nochmals
über die Landschaft streifen. Dann setzte er zur Landung an, der
Durchstoß durch die gelbe Folie gelang ganz leicht, nur ein leichter
Druck auf seinen Körper – wie um ihn erstmals für diese Welt zu
formen - dann war er in dieser Aulandschaft.
Er nahm dieses
Gebiet in Besitz indem er sprach: „Ich bin niemand. Das
Niemandsland gehört mir!“
Und zu einem
Baum mit vibrierenden Blättern sagte er „Pappel!“ und zu einem
anderen mit weißer Rinde „Birke!“ Zu der da „Weide!“ und zu
dem da, mit den weißen Blütentrauben und dem herrlichen Duft
„Holunder!“
Das wars fürs
Erste. Mehr wollte er an diesem Tag nicht tun.
Seine Mission
aber hatte er vergessen.
Nur eines noch:
Herr Niem nahm ein Stofftaschentuch, breitete es aus, schöpfte mit
seinen beiden Händen trockenen Sand auf das Tuch, etwa fünf Mal,
und verknotete das Tuch zu einem Bündel. Dann bereitete er sich an
einer warmen, flachen Stelle im weichen Gras ein Lager, legte sich
auf den Rücken und das Sandbündel auf die Stelle knapp unter seinem
Nabel. Langsam atmend schlief er ein.
©Peter
Alois Rumpf, April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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