Donnerstag, 9. April 2015

109 Niemandsland

Niem versuchte, hinein zu kommen. Er wußte, dort muß er hin. Das ist seine Mission. Mit seinem Gesicht war er schon drinnen, aber alles andere war noch draußen. Was heißt alles andere – er spürte sich nur als Blick, als Augen, die schauen. Da war sein Zentrum, alles andere ahnte er mehr, als daß er es spürte. Aber ein Gesicht muß dann wohl da sein, denke ich, wenn er vom Rand hineinschaut.

Wenn er sich konzentrierte und seinen Blick schärfte – was ihm nur für kurze Momente gelang - sah er drinnen viele Menschen, eine geschäftige Stadt. Handwerker, Kaufleute, Kunden eilten gemächlich durch die Gassen in Geschäfte, in Werkstätten, in Gasthäuser, in ihre Häuser und Wohnungen und wieder heraus. Die Stadt und ihr Treiben wirkte auf Niem wie aus alter Zeit – deshalb kam ihm die Eile dort gemächlich vor. Enge Gassen, kleine Plätze, Straßenmärkte mit einfachen Buden, die Gebäude in hellen, sandigen Farben. Wie schon gesagt, aus alter Zeit, höchstens, allerhöchstens ein verschlafenes, zurückgebliebenes Städtchen in den frühen Fünfzigerjahren.

Meistens aber nahm Niem alles nur flüchtig auf. Ein warmer Farbton mit Ecken und Kanten und Bewegung dazwischen. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen ganzen Kopf in diese Welt zu stecken, die von einer zähen, aber halbwegs durchsichtigen, gelben Folie umspannt zu sein schien. Jetzt versuchte er, ein Bein hinein zu strecken. Da er damit nicht vorankam, versuchte er den linken Arm durch die Folie zu drücken. Ja, jetzt hatte er den Arm drinnen. Mit seiner linken Hand packte er sein linkes Bein und zog auch dieses durch die Folie und mit einem kraftvollen Ruck auch seinen halben Rumpf.

So, mit seinem halben Körper in dieser Welt schaute er sich genauer um. Er war am Rande eines kleinen Platzes, nicht viel größer als ein ordentlicher Hinterhof, auf dreieinhalb Seiten umgeben von gelb gestrichenen Wänden unterschiedlicher Gebäude unterschiedlicher Höhe und unterschiedlicher Ausstattung. Links hinten eine kleine Gasse, die – das konnte man sehen und ahnen – zu einem freien, offenen Platz führte.
Drei, vier Meter vor ihm sah er einen Mann an einem Werkstück arbeiten – er konnte nicht erkennen, um welches Handwerk es sich handelte, noch was der Mann herstellte. Der Mann klopfte und hämmerte wie ein Schmied, aber es war keine Schmiede. Feuer, Amboß waren nicht zu sehen.

Niem zwängte seinen ganzen Rumpf durch die zähe, gelbliche Hülle und war nur mehr mit dem rechten Unterschenkel und dem rechten Fuß draußen. Das war seine letzte Verbindung mit dem Draußen. Und er dachte, wenn ich das ganze rechte Bein hereinziehe, kann ich dann noch zurück? Nein, zumindest nicht mehr so leicht. Darum zögerte er kurz: In dieser Welt gefangen sein? Will ich das? Er dachte an seine Mission. Es muß sein. Es muß sein.

Gerade als er das rechte Bein zur Gänze hereinziehen will, dreht der Mann an der Werkbank seinen Kopf in seine Richtung, mustert ihn ungeniert und sagt feindselig: „Ohne Führerschein ist da nichts zu machen! Kannst gleich wieder umdrehen!“ und wendet sich wieder seinem Werkstück zu - indem er darauf einschlägt.

Niem zuckt zurück, so heftig, daß er wieder ins Draußen zurückschießt, wie von der Folie zurückgeschleudert. Und saust durch die nahezu leere Außenwelt. Wie vorher, als er die gelbe, warmgefärbte Welt noch nicht entdeckt hatte.

Niem beschließt aber, wieder näher an diese warme, gelbe Welt heranzufliegen und beginnt, sie – das Tempo gedrosselt – zu umkreisen. „Führerschein? Führerschein? Ich habe gar keine Autos gesehen.“ … „Nicht nochmals an dieser Stelle den Eintritt versuchen!“
Wieder verlangsamt er seinen Flug und umkreist die gelbe Welt knapp außen an der gelben Hülle. Niem entdeckt eine menschenleere Landschaft. Er umkreist jetzt nur mehr diese Stelle und betrachtet sie genauer. Er steckt wieder das Gesicht durch die Folie und sieht grüne Aulandschaft, bewachsen mit Bäumen und Gebüsch und Wiesenflecken und Stellen mit Sand oder Schotter. Nur manche Sandstreifen hatten hier noch einen gelblichen Farbton. In der Ferne am Rande ein größerer Hügel, schon bläulich schimmernd. Ein Fluß zog sich in glücklich sanften Mäandern durch das Gebiet. Niem hielt Ausschau nach Menschen, nach Anzeichen von Siedlungen und fand nur ein paar breite, flache Gebäude, die zusammenstanden, ein Hof mit seinen Nebengebäuden, locker und bequem angelegt, kein bestimmter Stil, aber eher modernerer Bauart. Von Menschen war weit und breit nichts zu sehen, auch dieses Gehöft wirkte verlassen.

Es schien wirklich Niemandsland zu sein. Er zog sein Gesicht wieder aus der Folie, umkreiste nocheinmal das Gebiet, ließ seinen Blick nochmals über die Landschaft streifen. Dann setzte er zur Landung an, der Durchstoß durch die gelbe Folie gelang ganz leicht, nur ein leichter Druck auf seinen Körper – wie um ihn erstmals für diese Welt zu formen - dann war er in dieser Aulandschaft.

Er nahm dieses Gebiet in Besitz indem er sprach: „Ich bin niemand. Das Niemandsland gehört mir!“
Und zu einem Baum mit vibrierenden Blättern sagte er „Pappel!“ und zu einem anderen mit weißer Rinde „Birke!“ Zu der da „Weide!“ und zu dem da, mit den weißen Blütentrauben und dem herrlichen Duft „Holunder!“
Das wars fürs Erste. Mehr wollte er an diesem Tag nicht tun.
Seine Mission aber hatte er vergessen.
Nur eines noch: Herr Niem nahm ein Stofftaschentuch, breitete es aus, schöpfte mit seinen beiden Händen trockenen Sand auf das Tuch, etwa fünf Mal, und verknotete das Tuch zu einem Bündel. Dann bereitete er sich an einer warmen, flachen Stelle im weichen Gras ein Lager, legte sich auf den Rücken und das Sandbündel auf die Stelle knapp unter seinem Nabel. Langsam atmend schlief er ein.



©Peter Alois Rumpf, April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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