108 Von außen eine eher fade Geschichte
Josef Bacherl wandert mit Rucksack,
Schlafsack, Decke dahin. Es ist Sommer. Sein Weg führt über
freundliches Gebiet. Keine Kletterei, sanfte Almwiesen; grüne, keine
felsigen Übergänge. Über eine baumlose, aber grüne Höhe kommt er
jetzt in das nordöstlich gelegene Almdorf hinab. Es ist ein kleiner
Weiler hauptsächlich aus ebenerdigen Holzhäusern, eher modernerer
Bauweise. Ringsherum Wiesen, kein Wald, nur im Dorf selber stehen ein
paar Weiden und anderes Gebüsch. Zum Beispiel dort hinter dem
kleinen Spielplatz. Die Häuser stehen eng zusammen, wenig Abstand
zwischen ihnen, zur Schotterstraße hin, die durch das Dorf führt,
liegen kleine Vorgärten, die meistens auch bloß aus Wiesen
bestehen, aber eingezäunt sind.
Es ist Nacht, aber dennoch ziemlich
hell, grau wie in der Morgendämmerung. Josef Bacherl denkt sich
nichts dabei. Er ist müde und möchte sich hinlegen. Wie ein Dieb
schleicht er in den Vorgarten eines Hauses, ebenerdig, aus Holz, die
Fassade aus dunkelbraunen Brettern. Ja, das ist das Ferienhaus der
Familie, die er kennt.
Er klopft nicht an, sondern legt sich
unter das Fenster des Schlafzimmers des Ehepaares. Er hört sie
reden. Er kennt sie alle. Aber heute ist er nur an der Frau
interessiert. Er hatte vor Jahren eine Affäre mit ihr und hofft, daß
sie ihn im Garten findet, aber ihr Mann nicht. Er merkt nicht, daß
das etwas absurd ist. Verständlich, denn Josef Bacherl träumt, er
ist auf Traumreise, oder in diesem Fall besser gesagt, auf
Traumwanderung.
Er legt sich also unter das offene
Schlafzimmerfenster, ganz eng an die Hauswand, mit Decke, Schlafsack
und lauscht den Geräuschen und Gesprächen drinnen. Er ist so müde,
daß er bald einschläft. Nicht tief. Er wacht immer wieder auf und
triftet wieder weg. In diesem Gleitzustand zwischen Schlaf und Traum
versucht er, sein Bewußtsein, aufs Lauschen ausgerichtet, nicht zu
verlieren.
Irgendwie sind die da drinnen etwas
unruhig, kommt ihm vor. Haben sie ihn bemerkt? Oder ahnen sie von
seiner Lauerei? Er preßt sich ganz an die Holzwand. Das Fenster
steht offen und der Mann drinnen ist aufgestanden, kommt ans Fenster
und schaut heraus. Über ihn hinweg. Gottseidank nicht nach unten, wo
er liegt. Trotzdem ist sich Bacherl nicht sicher, ob er nicht doch
entdeckt wurde und die da drinnen nur so tun, als würden sie nichts
merken.
Er hört die Worte ihres Gesprächs
sehr gut, allein, er kann sie sich nicht merken. Er kapiert nicht,
daß er träumt. Immer noch macht er sich die Hoffnung, daß die Frau
ihn sieht und zu ihm herauskommt. Wie das gehen soll, weiß er nicht,
nur, daß er mit ihr … was machen will.
Drinnen lachen sie. Lacht auch sie da
über ihn? Jetzt wird ihm bei seinem ganzen Manöver etwas mulmig
und die Situation etwas brenzlig. „Besser ich verschwinde,“ denkt
er sich, „reden die nicht schon über mich? Daß ich mir nicht
merken kann, was sie reden!“ Er wartet ab, bis der Mann vom Fenster
weggegangen ist, wieder zurück ins Schlafzimmer. Bacherl steht leise
auf, läßt Schlafsack und Decke liegen und schleicht über den
Vorgarten direkt vorm offenen Fenster zur Straße hin. Daß es einen
Zaun gibt, hat er vergessen und so springt er den kleinen, hüfthohen
Rain zur Straße hinunter, der ihm vorher nicht aufgefallen ist.
Schon beim Aufstehen hat er bemerkt,
daß etwas mit seinem Gürtel nicht stimmt, denn er verliert seine
Hose. In der Dunkelheit – denn jetzt ist es finster – tastet er
nach dem Gürtel und stellt fest – der Gürtel geht bis in die
Gegend seines Kreuzes und dann aber wieder zurück nach vorne. Der
Gürtel dreht sozusagen auf halbem Weg um.
Er versucht das im Wegschleichen zu
richten, es gelingt ihm aber nicht. Mit seiner linken Hand hält er
die Hose, während er Richtung Spielplatz geht.
Jetzt ist es wieder hell, wie zur
Morgendämmerung knapp vor der Morgenröte, und er bemerkt ein paar
Leute beim Spielplatz. Er schaut bewußt nicht hin; er will möglichst
unauffällig und gleichgültig vorbeigehen; obwohl es junge Mütter
zu sein scheinen, kann er sich an keine Kinder erinnern, aber sicher
ist er sich nicht.
Im Gebüsch bei den Bäumen versteckt
er sich und beobachtet das Haus, das zehn, höchstens zwanzig Meter
entfernt ist.
Jetzt ist das Ehepaar eindeutig wach
und aufgestanden. Die reden wirklich über ihn! Der Mann erinnert
seine Frau an die Szene, wie er nicht ins Schlafzimmer konnte,
damals, vor Jahren, weil sie mit Josef auf einer Matratze am Boden
lag, gleich hinter der Tür, sodaß sie blockiert war.
Die Frau lacht und Bacherl kommt es
vor, sie lacht über ihn. „Scheiße!“, denkt er sich, „sie
lacht über mich. Das wird heute doch nichts!“ … „Oder tut sie
das nur ihrem Mann gegenüber? Und sie hat mich schon
bemerkt und wartet nur auf eine Gelegenheit, zu mir zu kommen?“
Jetzt verläßt das Ehepaar das Haus
und geht die Straße hinunter. So, jetzt kennt sich Bacherl nicht
aus, obwohl ihm das nicht bewußt ist. Haben sie doch bemerkt, daß
ein Mann im Garten war, aber für einen Einbrecher gehalten und
verlassen – sich unbedarft gebend – deshalb das Haus? Oder fühlen
sie sich von ihm bedroht und flüchten vor ihm? Oder gehen sie zur
Polizei? Gibt es hier eine Polizei? Oder holen sie ein paar beherzte
Männer, die ihn verjagen? Wenn, dann haben sie das gut als normalen
Spaziergang getarnt – es hatte wirklich so ausgesehen, als würde
ein Ehepaar, in der Morgendämmerung aufgewacht, Lust auf einen
Spaziergang in der frischen Morgenluft bekommen haben.
Sie hat sich bei ihrem Mann eingehängt
und geht so einen halben Schritt hinter ihm. Es schaut aber so aus,
als würde sie ihn führen. Sozusagen schiebend führen. „Nein“,
denkt sich Bacherl. „das wird heute nichts mehr mit ihr! Sie hat
über mich gelacht! Glaub ich zumindest. Nein, besser gleich weg!“
Das Ehepaar ist jetzt – wie das in
Träumen so ist – einfach verschwunden. Nicht daß Bacherl nach
ihnen sucht, sie sind einfach nicht mehr da und er akzeptiert diese
Traumlogik ohne Fragen.
Bacherl droht aufzuwachen, aber er
gleitet wieder in den Traum zurück und will seine Decke und seinen
Schlafsack holen. Den Rucksack hat er vergessen, darum weiß niemand,
trägt er den die ganze Zeit am Rücken herum oder ist der auch einfach
aus dem Traum verschwunden? Auch Hose und Gürtel machen schon längst
keine Probleme mehr.
Jetzt redet Bacherl mit einem Bewohner
dieses eigenartigen Almdorfes, den er aber nicht sieht, sondern nur
ahnt, und erklärt ihm, daß er sich, vom Wandern Tag und Nacht ganz
erschöpft, einfach in den nächstbesten Garten gelegt habe, um sich,
vor einem drohenden Regenschauer unter das Vordach flüchtend,
hinzulegen und zu schlafen. Der Regen sei dann nicht gekommen, aber
er sei vor Erschöpfung eingeschlafen.
Bacherl erschrickt, weil ihm einfällt,
daß er gar nicht weiß, ob es geregnet hat oder nicht, und er
deshalb möglicherweise bei seinem Schwindel ertappt wird. Aber
seinem unsichtbaren, nur schemenhaft geahnten Gegenüber ist diese
Ungereimtheit nicht aufgefallen. Dieser schickt ihm eine Antwort ohne
zu sprechen, aber man kann seine Gesten beim Reden verschwommen
wahrnehmen:
„Diese Ehepaar kommt aus der Stadt
und ist hier im Dorf bekannt für seine Gastfreundlichkeit und auch
für ihre Offenheit gegenüber Fremden. Sie hätten einfach anklopfen
können, sie hätten Sie sicher ins Haus aufgenommen!“ „Ach, der
Gute!“, denkt Bacherl, „der weiß ja nicht, daß die
möglicherweise eine Rechnung mit mir offen haben! Zumindest der
Mann!“
Aber sagen tut er: „Lieber Herr,
würden Sie so nett sein und mitkommen, wenn ich jetzt in den
Vorgarten gehe, meine Sachen zu holen? Ich fühle mich wohler, wenn
jemand vom Ort dabei ist und bezeugen kann, daß ich nur mein Zeug
genommen habe, wie ich über den Zaun geklettert bin!“
Aha! Jetzt gibt es wieder den Zaun!
Aber der ist niedrig, nur kniehoch. Von klettern kann keine Rede
sein. „Ich würde mich wohler fühlen, wenn Sie dabei sind und
bezeugen können, was wirklich war, wenn dann im Dorf Gerede
aufkommen sollte, daß jemand einen über den Zaun steigen gesehen
hat.“
Wie einen leichten Hauch „spürt“
Bacherl noch die Einverständnis bekundende Antwort des
schattenhaften Dorfbewohners, dann wacht er auf. Und zwar kommt er
wie ein Taucher vom Auftrieb des Wassers aus der Tiefe des Traumes in
den Wachzustand geschossen, ins normale, wenn auch benommene
Bewußtsein.
Lieber Leser, auch wenn das für dich
eher ein fader Traum war, Bacherl ist in großer Aufregung, mit
starkem Herzklopfen und starken Gefühlen aufgewacht. Angst war
dabei, schlechtes Gewissen und – so eine Art enttäuschtes Begehren
für diese Frau. Aber trotzdem cool! Trotzdem cool!
Als Bacherl wieder einschläft hat er
Durst. Er dreht den Wasserhahn über einem Waschbecken auf und hält
ein Glas in den Wasserstrahl. Der Wasserstrahl aber ist sehr breit
und es rinnt das Wasser über das Waschbecken hinaus, weil das Rohr
so weit nach rechts gedreht und länger ist, als die Breite des
Waschbeckens dort rechts.
Als Josef B. Das Rohr in die Mitte über
das Waschbecken schieben will, gibt es kein Rohr mehr. Das Wasser
kommt aus dem Nichts. Einfach so. In großen, ja riesigen Tropfen,
wie in großen Wassertrauben; und so fällt ein unruhiger,
unregelmäßiger Wasserstrahl, manchmal dünner, dann wieder
sehr,sehr dick herunter, und das halbe Wasser rinnt neben das Glas.
Der Wasserstrahl kommt nicht von weit
oben, wie etwa Regen, nein, er beginnt einfach so zirka zwei, drei
Meter rechts über dem Waschbecken in der Luft. Josef will das Wasser
abdrehen, aber da gibt es auch nichts mehr zum Abdrehen!
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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