105 Der Traum
Es war im Jahr 1982. Es muß so gegen
das Frühjahr hin gewesen sein. Da hatte ich einen Traum.
Ich stand in Irdning auf dem Gehsteig
der Hauptstraße gegenüber dem Supermarkt Puchwein. Hinter mir der
große Garten vom Cafe Pachernegg. Es war Nacht. Ich hatte eine ganze
Schar Kinder bei mir, einige an der Hand, andere wuselten herum, ein
lebendiger, unruhiger, fröhlicher Haufen, quirlig rannten alle
umher, ließen meine Hand los, kamen wieder zurück.
Alle sollten mit mir die Straße zum
Puchwein hin überqueren, aber wie ein Sack Flöhe waren sie kaum zu
bändigen. Dann endlich überquerten wir die Straße.
Beim Überqueren der Straße waren
plötzlich alle Kinder weg und gleichzeitig schoß von rechts ein
Lastwagen heran und es gab einen Tuscher. Erschrocken blieb ich mitten auf der Straße stehen. Alle Kinder waren weg; sie
waren einfach nicht mehr da. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Nur eines, eines ist mit auf die Straße gekommen und vorausgelaufen und der Lastwagen
muß es erwischt haben, denn das war der dumpfe Knall.
Der Lastwagen stand jetzt beim Puchwein
drüben. Es war ein kleinerer, noch mit Stoffplane über der
Ladefläche. Ich ging hinüber und suchte das Kind. Ich fand es nicht. Verzweifelt und
schockiert suchte ich es überall, in den dunklen, schlecht
beleuchteten Winkeln, unter dem Lastwagen. Ich konnte es nicht
finden.
Endlich sah ich, daß sich die Plane
des Lastwagens oben am Dach ganz schwach bewegte, wie die Brust bei
ganz schwachen Atemzügen. Dort oben am Dach des Lastwagens fand ich
das Kind, die Wucht des Aufpralls hatte es nach oben geschleudert. Es
war ein Bub, alles an ihm war gebrochen, mit schreckensstarren Augen
schaute er mich an.
Seine Augen waren weit aufgerissen,
aber sein Blick war voller Liebe, nur mit einem leisen Warum?
Brustkorb und Plane hoben und senkten sich in kaum merkbaren
Atemzügen.
Ich nehme ihn in meine Arme, halte ihn
vor mir und schaue ihn an. Ich spürte eine große, große Liebe, wie
ich sie in meinem Leben noch nie empfunden hatte.
Ja, warum? Warum habe ich es
zugelassen, daß der Lastwagen ihn überfährt? Er liegt vor mir auf
meinen Händen und Unterarmen, die ich vor mich halte, und sage zum Kind:
„Es tut mir so leid! Es tut mir so leid. Ich verspreche dir, daß
ich alles, alles tun werde, daß es wieder gut wird!“
Damit wache ich auf. Voll mit diesem
Gefühl einer ganz großen Liebe und eines ganz großen Schmerzes.
Damals las ich viel Fritz Perls, den
Begründer der Gestalttherapie, und ich hatte seine Auffassung, daß
alle Teile eines Traumes man selber sei, in dieser einfachen,
möglicherweise verkürzten Form übernommen. Ich dachte, das Kind im
Traum ist mein eigenes inneres Kind. Ich hatte es vergessen und
vernachlässigt und jetzt wiedergefunden.
Ich weinte an diesem Tag viel und oft
und redete immer wieder von diesem Traum. Meiner Freundin damals
wurde meine – wie sie es vermutlich sah – Sentimentalität lästig
und sie machte eine abfällige Bemerkung über mein Getue. Ich
empfand aber meine Liebe für dieses Kind so stark und rein und
wollte diese Liebe nicht verhöhnt wissen, und aus einem schnellen
Impuls heraus und meiner Sache sicher verpaßte ich ihr eine
Ohrfeige. Keine, wo man mehrere Meter durch die Luft fliegt, aber
eine deutliche.
Das hatte ich vorher noch nie und
nachher nie mehr getan. Sie schaute mich ganz erstaunt an. Und zum
ersten und einzigen Mal in unserer siebenjährigen Beziehung mit
Respekt in den Augen. In diesem Moment war ich ein ebenbürtiger
Partner.
Man ist beinahe versucht, dem
Astrologen Döbereiner recht zu geben, der sagte: „eine jede Frau
will ihren Mann zerstören und ist erst glücklich, wenn es ihr nicht
gelingt!“ Beinahe. Aber eben doch nicht. Denn diese Aussage wird
der Komplexität und Vielschichtigkeit des Geschehens und der
seelischen Abläufe der Beteiligten nicht gerecht. Er ist plakativ
wie ein Werbespruch und führt letztlich doch in die Irre.
Erst Jahre später konnte ich zulassen,
daß mir die Erkenntnis ins Bewußtsein hochsteigt, daß mir in
diesem Traum unser abgetriebenes Kind begegnet ist. Und zwar wirklich
und nicht bloß symbolisch. Der Zeitpunkt des Traumes passt auch.
Ja, das war es. Die anderen Kinder im
Traum, das waren die durch Verhütung verhinderten, die gar nie in
die Zeit gekommen sind. Deshalb haben sie die Straße nicht
überquert. Aber dieses eine Kind hatte die Grenze vom Zeitlosen in
diese Zeit und in diese unsere Welt schon überschritten. Es war
schon bei uns.
Ich hatte der Abtreibung voll
zugestimmt und die Entscheidung darüber einfach meiner Freundin
übergeben, so in dem Sinn „dein Bauch gehört dir“. Und sie
damit völlig im Stich gelassen. Da war ich wirklich kein
ebenbürtiger Partner. Und hätte ich nur ein kleines, schüchternes
„Ja“ gesagt, sie hätte es nicht gemacht. Und selbst wenn ich
gesagt hätte „Fahr ab mit dem Kind!“ hätte sie es leichter
gehabt, sozusagen gegen meinen Widerstand in ihrem Inneren ihren
Wunsch nach dem Kind zu finden, zu erkennen und auszusprechen. So
aber war ich überhaupt kein Gegenüber für sie.
Kennt ihr übrigens diesen Witz?
In einem Indianerdorf lebt eine Frau
mit ihren Kindern. Ihr jüngster Sohn ist ein aufgewecktes Kind, aber
in letzter Zeit ist er etwas nachdenklich, zieht sich manchmal vom
Spielen draußen mit den anderen Kindern in den Wigwam zurück,
schleicht um seine Mutter herum, bis er sie schließlich fragt: „Du
Mama! Warum heißt mein großer Bruder Röhrender Hirsch?“ „Na
ja“, antwortet die Mama, „wie dein Papa und ich ihn gemacht
haben, hat gerade ein Hirsch geröhrt!“
Zufrieden hüpft der Kleine wieder zu
den anderen Kindern zum Spielen.
Nach einiger Zeit wird er wieder
nachdenklich, schleicht zu seiner Mutter und fragt. „Du Mama! Warum
heißt meine Schwester Hüpfendes Häslein?“ Die Mama antwortet:
„Wie der Papa und ich sie gemacht haben, ist gerade ein Häslein
vorbeigehüpft. Aber sag einmal, warum stellst du in letzter Zeit so
komische Fragen, Zerissener Gummi?“
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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