Sonntag, 29. März 2015

105 Der Traum


Es war im Jahr 1982. Es muß so gegen das Frühjahr hin gewesen sein. Da hatte ich einen Traum.

Ich stand in Irdning auf dem Gehsteig der Hauptstraße gegenüber dem Supermarkt Puchwein. Hinter mir der große Garten vom Cafe Pachernegg. Es war Nacht. Ich hatte eine ganze Schar Kinder bei mir, einige an der Hand, andere wuselten herum, ein lebendiger, unruhiger, fröhlicher Haufen, quirlig rannten alle umher, ließen meine Hand los, kamen wieder zurück.
Alle sollten mit mir die Straße zum Puchwein hin überqueren, aber wie ein Sack Flöhe waren sie kaum zu bändigen. Dann endlich überquerten wir die Straße.

Beim Überqueren der Straße waren plötzlich alle Kinder weg und gleichzeitig schoß von rechts ein Lastwagen heran und es gab einen Tuscher. Erschrocken blieb ich mitten auf der Straße stehen. Alle Kinder waren weg; sie waren einfach nicht mehr da. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Nur eines, eines ist mit auf die Straße gekommen und vorausgelaufen und der Lastwagen muß es erwischt haben, denn das war der dumpfe Knall.

Der Lastwagen stand jetzt beim Puchwein drüben. Es war ein kleinerer, noch mit Stoffplane über der Ladefläche. Ich ging hinüber und suchte das Kind. Ich fand es nicht. Verzweifelt und schockiert suchte ich es überall, in den dunklen, schlecht beleuchteten Winkeln, unter dem Lastwagen. Ich konnte es nicht finden.
Endlich sah ich, daß sich die Plane des Lastwagens oben am Dach ganz schwach bewegte, wie die Brust bei ganz schwachen Atemzügen. Dort oben am Dach des Lastwagens fand ich das Kind, die Wucht des Aufpralls hatte es nach oben geschleudert. Es war ein Bub, alles an ihm war gebrochen, mit schreckensstarren Augen schaute er mich an.
Seine Augen waren weit aufgerissen, aber sein Blick war voller Liebe, nur mit einem leisen Warum? Brustkorb und Plane hoben und senkten sich in kaum merkbaren Atemzügen.

Ich nehme ihn in meine Arme, halte ihn vor mir und schaue ihn an. Ich spürte eine große, große Liebe, wie ich sie in meinem Leben noch nie empfunden hatte.
Ja, warum? Warum habe ich es zugelassen, daß der Lastwagen ihn überfährt? Er liegt vor mir auf meinen Händen und Unterarmen, die ich vor mich halte, und sage zum Kind: „Es tut mir so leid! Es tut mir so leid. Ich verspreche dir, daß ich alles, alles tun werde, daß es wieder gut wird!“

Damit wache ich auf. Voll mit diesem Gefühl einer ganz großen Liebe und eines ganz großen Schmerzes.

Damals las ich viel Fritz Perls, den Begründer der Gestalttherapie, und ich hatte seine Auffassung, daß alle Teile eines Traumes man selber sei, in dieser einfachen, möglicherweise verkürzten Form übernommen. Ich dachte, das Kind im Traum ist mein eigenes inneres Kind. Ich hatte es vergessen und vernachlässigt und jetzt wiedergefunden.

Ich weinte an diesem Tag viel und oft und redete immer wieder von diesem Traum. Meiner Freundin damals wurde meine – wie sie es vermutlich sah – Sentimentalität lästig und sie machte eine abfällige Bemerkung über mein Getue. Ich empfand aber meine Liebe für dieses Kind so stark und rein und wollte diese Liebe nicht verhöhnt wissen, und aus einem schnellen Impuls heraus und meiner Sache sicher verpaßte ich ihr eine Ohrfeige. Keine, wo man mehrere Meter durch die Luft fliegt, aber eine deutliche.
Das hatte ich vorher noch nie und nachher nie mehr getan. Sie schaute mich ganz erstaunt an. Und zum ersten und einzigen Mal in unserer siebenjährigen Beziehung mit Respekt in den Augen. In diesem Moment war ich ein ebenbürtiger Partner.

Man ist beinahe versucht, dem Astrologen Döbereiner recht zu geben, der sagte: „eine jede Frau will ihren Mann zerstören und ist erst glücklich, wenn es ihr nicht gelingt!“ Beinahe. Aber eben doch nicht. Denn diese Aussage wird der Komplexität und Vielschichtigkeit des Geschehens und der seelischen Abläufe der Beteiligten nicht gerecht. Er ist plakativ wie ein Werbespruch und führt letztlich doch in die Irre.

Erst Jahre später konnte ich zulassen, daß mir die Erkenntnis ins Bewußtsein hochsteigt, daß mir in diesem Traum unser abgetriebenes Kind begegnet ist. Und zwar wirklich und nicht bloß symbolisch. Der Zeitpunkt des Traumes passt auch.

Ja, das war es. Die anderen Kinder im Traum, das waren die durch Verhütung verhinderten, die gar nie in die Zeit gekommen sind. Deshalb haben sie die Straße nicht überquert. Aber dieses eine Kind hatte die Grenze vom Zeitlosen in diese Zeit und in diese unsere Welt schon überschritten. Es war schon bei uns.

Ich hatte der Abtreibung voll zugestimmt und die Entscheidung darüber einfach meiner Freundin übergeben, so in dem Sinn „dein Bauch gehört dir“. Und sie damit völlig im Stich gelassen. Da war ich wirklich kein ebenbürtiger Partner. Und hätte ich nur ein kleines, schüchternes „Ja“ gesagt, sie hätte es nicht gemacht. Und selbst wenn ich gesagt hätte „Fahr ab mit dem Kind!“ hätte sie es leichter gehabt, sozusagen gegen meinen Widerstand in ihrem Inneren ihren Wunsch nach dem Kind zu finden, zu erkennen und auszusprechen. So aber war ich überhaupt kein Gegenüber für sie.


Kennt ihr übrigens diesen Witz?
In einem Indianerdorf lebt eine Frau mit ihren Kindern. Ihr jüngster Sohn ist ein aufgewecktes Kind, aber in letzter Zeit ist er etwas nachdenklich, zieht sich manchmal vom Spielen draußen mit den anderen Kindern in den Wigwam zurück, schleicht um seine Mutter herum, bis er sie schließlich fragt: „Du Mama! Warum heißt mein großer Bruder Röhrender Hirsch?“ „Na ja“, antwortet die Mama, „wie dein Papa und ich ihn gemacht haben, hat gerade ein Hirsch geröhrt!“
Zufrieden hüpft der Kleine wieder zu den anderen Kindern zum Spielen.
Nach einiger Zeit wird er wieder nachdenklich, schleicht zu seiner Mutter und fragt. „Du Mama! Warum heißt meine Schwester Hüpfendes Häslein?“ Die Mama antwortet: „Wie der Papa und ich sie gemacht haben, ist gerade ein Häslein vorbeigehüpft. Aber sag einmal, warum stellst du in letzter Zeit so komische Fragen, Zerissener Gummi?“





©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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