Montag, 23. März 2015

101 Meine kleinen Magersüchte


Es war gegen Ende meiner Grazer Zeit. Ich hatte am Ferienalternativcamp Edersee grün-alternative Ideen kennengelernt. Und ich hatte Carlos Castaneda zu lesen begonnen. Seine Beschreibungen der Zustände einer anderen Weltwahrnehmung hatten mich zwar fasziniert, aber es war die „Reise nach Ixtlan“, die mich wirklich packte, die Beschreibungen und Ideen über das Leben der neuen Zauberer in der Alltagswelt, zum Beispiel „unerreichbar sein“, „die persönliche Geschichte auslöschen“, „den Tod als Ratgeber benutzen“, „der wohldosierte Umgang mit der Welt“.
Da rückte in meinem Inneren etwas zurecht.
Darum hatte ich Castaneda nie, absolut nie als Propagandisten für Drogenkonsum angesehen. Im Gegenteil. Tausende und abertausende Leser sahen ihn als solchen, aber ich nie. Ich dachte immer, diese Leute können nicht lesen, was dort in den Büchern steht. In dem Punkt war ich mir gegen die Abertausenden immer absolut sicher. (Das hatte mich übrigens nicht daran gehindert, später selbst Sachen aus dem Castaneda herauszulesen, die nicht drinnen standen.)

Ich begann mich von meiner linken Ideenwelt zu entfernen und fing an, mich um bessere Ernährung zu kümmern und hörte zu trinken auf. Ich fastete und wurde ein schlanker, dünner Mann, nicht mehr so dicklich wie vorher.
Ich wanderte viel, tanzte viel und wenn ich auch nicht Sport betrieb, so bewegte ich mich doch mehr.
Ich glaube, das war alles noch im Rahmen eines Genesungsprozesses und keine Magersucht, wenn ich vielleicht doch auch schon den „Duft“ der Askese eingesogen hatte. Diese Phase dauerte etwa ein Jahr.

Einige Jahre später war alles ganz anders.Ich lebte mit einer Frau zusammen; diese Beziehung war nicht glücklich, aber trotzdem oder gerade deswegen sehr sexbetont. Ich hatte zum Teil und in moderatem Ausmaß auch zu meinen alten Gewohnheiten „zurückgefunden“ und trank wieder gelegentlich, also für österreichische Verhältnisse „normal“. Allerdings war ich vom „wohldosierten Umgang mit der Welt“ weiter entfernt denn je.

Da startete ich über die Makrobiotik eine neue asketische Phase. Ich aß weniger, konzentriert kaute ich jeden Bissen mindestens dreißig Mal, in Stille und Versenkung. Das war ein gutes Gefühl! Ich fastete wieder – nur nicht beim Sex. Besonders liebte ich das Reisfasten; man aß dabei nur Vollkornreis ohne irgendwelche Zutaten, auch ohne Salz, über einen Zeitraum von zirka zwei, drei Wochen. Man ißt soviel, daß man satt, aber noch nicht voll ist. Die Entgiftung war deutlich bemerkbar.
Ich arbeitete damals, ungefähr 1979/80 in einem der neu aufkommenden Bioläden und meine sensorische Wahrnehmung war nie so scharf und sensibel wie damals beim Reisfasten. Wie all die Äpfel, das Sauerkraut, das Gemüse und Obst, der Käse und so weiter im Geschäft dufteten! Aber ich beherrschte mich und als ich am Ende der Kur wieder langsam Gemüse, Salz, Öl zum Reis gab, schmeckte alles sehr stark und eindringlich und ich genoß das Essen sehr intensiv.

Was aber am Anfang als ein Regenerations- und Gesundungstraining begann, wurde fast eine Sucht. Ich liebte es, dünn zu sein und diese Leichtigkeit, mit der ich alle Stiegen hinaufrannte, die Beherrschtheit beim Essen, die meditative Grundhaltung.
Ich glaube, in dieser Zeit war ich phasenweise schon sehr dünn, unter fünfzig Kilogramm.

Ungefähr sechszehn, siebzehn Jahre später erlebte ich meine dritten mageren Jahre, oder vielleicht nur Monate.
Ich lebte in meiner meist ungeheizten Einsiedelei mitten in der Stadt und studierte wieder Theologie, merkte aber, daß ich nicht mehr zur katholischen Kirche zurückfinden werde. Noch jahrelang versuchte ich es immer wieder, aber wie mir schon damals klar war – vergeblich. Ich konnte mich trotz aller Anstrengungen nicht auf katholisch hinbiegen. Verzweifelt versuchte ich es immer wieder, verbrannte alle meine Bilder und Zeichnungen, ich gab nicht auf, schließlich hatte mir der Astrologe Döbereiner gesagt, daß ich dort hingehöre und dort auch Beruf, Einkommen und Anerkennung finden würde. 1995 oder 96 war es klar, wollte es nur nicht wahrhaben, aber dennoch konnte ich meine Enttäuschung nicht mehr wirklich wegschieben.

In dieser Zeit fing ich eine Affaire mit einer verheirateten Frau an.
Etwa fünfzehn Jahre vorher hatte ich mit ihr meinen „ersten Durchgang“. Damals war ich selber in einer Partnerschaft, und damals schon war die Affaire wild und exzessiv und ich löste damit in meinem Umfeld einiges an Wahnsinn aus. Ich geriet klassisch zwischen die zwei Frauen und wußte selber nicht mehr, was ich fühlte oder wollte und als meine Lebengefährtin Schluß machte und ich mit meiner „Affaire“ einen kleinen Streit hatte, machte ich auch gleich mit ihr Schluß, denn ich war verwirrt und verstand nur mehr Bahnhof.
Ich fuhr weg und als ich zurückkehrte, holte mich meine Ex-Lebensgefährtin tatsächlich vom Bahnhof ab weil sie es sich anders überlegt hatte und wir nahmen die Beziehung wieder auf und schleppten sie mehr schlecht als recht noch ein paar Jahre weiter, bis ich dann Schluß machte.

Jetzt, fünfzehn Jahre später, lebte ich- wie schon gesagt – als „Einsiedler“, der verzweifelt zur Kirche finden wollte. Aber ich konnte und wollte alle meine Erfahrungen und Erkenntnisse nicht für ungültig erklären.
Und da begann ich meinen „zweiten Durchgang“ mit jener verheirateten Frau. Ich spielte in der Anbandelungsphase herum, obwohl ich zunächst gar nicht so recht wollte. Aber ich wußte, wenn ich mich darauf einlasse, dann wird das eine sexuell intensive Angelegenheit, aber auch, daß ich dann leiden werde. Das Abenteuer reizte mich sehr und schließlich sagte ich: „Machen wir uns einen schönen Sommer!“ Ein Teil von mir wollte immer noch nicht, aber schließlich gab er nach und der Teil, der wollte – ich vermute, es war das Ego – setzte sich durch und es wurde wieder eine Wahnsinnsaffaire.

Wir gingen auch aus, machten Ausflüge und Wanderungen, gingen schwimmen, in Konzerte, aber letztlich trafen wir uns doch zum Sex und wir vögelten wie die Verrückten. Ich erlebte Zustände des irdischen, sexuellen Glücks, wie ich sie für nicht möglich gehalten hatte. Es war der „erste Durchgang“ schon voller Leidenschaft und Wildheit, aber dieser „zweite Durchgang“ übertraf alles bisher Gekannte. Es gab Momente, da zerflossen wir regelrecht ineinander und ich spürte unsere Energien sich vermischen, ich nahm sie als energetische Vibrationen wahr. Es gab auch Momente, wo ich mich - wie plötzlich aufgewacht - fragte: „was mache ich hier eigentlich?“, aber diese waren selten.
Ich erinnere mich noch, daß ich sie einmal, nachdem wir ein paar Stunden im sexuellen Rausch verbracht hatten, noch ein Stück nach Hause begleitete, und wir, die wir uns nicht recht trennen wollten, gingen noch in irgendein Giftlerlokal, das noch offen hatte und Musik spielte, und wir tanzten dort, und obwohl sich dort auch ein Ex-Gespiele von ihr aufhielt, konnte ich die Welt vergessen und versinken lassen. Dieser Tanz mit ihr war das reine, irdische Glück und entschädigte mich vielfach für meine verhaute Jugend. Hier, mit ihr, durfte ich meine ganze Jugend neu erleben, als wäre alles neu und zum erstenmal. Verbunden mit bestimmten Liedern, mit bestimmter Musik....

Wie gesagt, es war das höchste irdische Glück, das ich bis dahin erlebt hatte, aber es blühte im Verborgenen. Nicht wegen ihrem Mann, der wußte von der Affaire, sondern weil mit mir kein Staat zu machen war. Ich war nicht mehr der aufstrebende, junge Künstler wie beim ersten Durchgang, sondern ein (beinah) geschlagener Mann, verzweifelt, was die eigene Zukunft betraf, schon mit Glatze, nicht so toll gekleidet, da verarmt, sozial ungeschickt, am Abgrund des Scheiterns.
Damit das nicht falsch verstanden wird: sie hatte mir sehr geholfen, zum Beispiel indem sie mir einen ordentlichen Ofen schenkte, mit dem ich gut und billig heizen konnte. Aber zum Herzeigen war ich nicht strahlend genug. Das war ich ja wirklich nicht – innerlich zerrissen, mit Windmühlen kämpfend. Ich war ihr Gespiele; als Partner war ich nicht ebenbürtig. Zwischen uns ging es hauptsächlich um Sex. Das ist alles kein Vorwurf! Genau mit dieser Perspektive hatte auch ich die Affaire begonnen.

Aber wie Nietzsche schreibt, und auch auf die Gefahr hin, daß ich den Satz aus dem Zusammenhang reiße: „Denn jede Lust will Ewigkeit-, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Eine Ehe mit ihr konnte ich mir in keiner Phase vorstellen, nur einmal, als eine mögliche Schwangerschaft im Raum stand, dachte ich, vielleicht ist irgendein Dreierarrangement möglich.
Aber etwas in mir wurde im Laufe dieser Affaire, die fast zwei Jahre dauerte, immer unglücklicher. Am Anfang nur das Warten, wann sie kommt. Ruft sie heute an? Was macht sie jetzt? Wo ist sie jetzt? Dann aber versuchte ich sie festzuhalten und das, was vorher leicht war, wurde immer schwerer. Zuerst nur in der Zeit zwischen unseren Treffen, dann auch allmählich unsere Begegnungen selber. Jetzt war aus der Leidenschaft Leiden geworden.

Da begann ich wieder zu fasten, noch dazu, wo ich wußte, wie sie sehr auf „knöcherne“ Typen stand. Trotzdem ging es dabei um mehr als um Gefallen-Wollen. Ein Teil von mir wollte aus dieser Beziehung raus, während der andere nicht loslassen wollte.
Aber dieses Fasten entwickelte sich schnell zum Selbstläufer und zog sich über das Ende der Affaire hinaus. Und diesmal war ich wirklich magersüchtig. Beim Besuch einer Sauna, wo es eine Waage gab, die einen „anredete“, sagte mir diese, als ich mich abwog: „Gehen Sie sofort zum Arzt!“
Ich dachte nicht daran, mich dieser von mir verachteten Zunft auszuliefern und aß weiter nur wenig. Wie lange ich diese extreme Disziplin durchhielt, weiß ich nicht mehr. Aber weiterhin ging ich wieder alleine tanzen, wanderte viel herum, fühlte mich glücklich, wenn ich leicht und unbeschwert die Markwardstiege in einem durch hinauflief, bei meinen unzähligen Wanderungen um Wien.

Ich litt immer mehr in dieser Affaire. Ich litt wie ein Hund und wir stritten immer öfter und schließlich machte ich Schluß, wahrscheinlich ihr dabei knapp zuvor kommend. Auch nach diesem Schlußstrich litt ich noch längere Zeit, in diesem Schmerz aber fühlte und erlebte ich alles sehr stark. (Und übrigens: danke!) Schließlich war ich wieder bereit, richtig zuzunehmen und auf Erden zu landen. Ich konzentrierte mich darauf, mein Studium wirklich abzuschließen, meine Diplomarbeit zu schreiben, wobei ich es erst zu Ende bringen konnte, als mir klar war, daß mir das Studium beruflich nichts, aber auch schon gar nichts nützen wird. Dann erst konnte ich es fertigmachen.

Und ich faßte den Entschluß, mich nur mehr dann auf eine Beziehung einzulassen, wenn alles möglich ist, auch Ehe und Kinder.



©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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