Sonntag, 29. März 2015

104 Die Trinkgeldgeschichte


Den heutigen Abend - 27.3.2015 – habe ich mir so vorgestellt: Ich komme so um 20 Uhr 30 aus der Arbeit, eile die Alserstraße hinunter, bin in circa fünf bis sieben Minuten in einem Sportcafe mit mindestens acht Bildschirmen, wo das Fußballspiel Liechtenstein gegen Österreich gezeigt wird, und zwar auch im Nichtraucherbereich und komme noch rechtzeitig zur Bundeshymne, stehe dabei auf – wie ich es in der Geschichte „Fahne auf Halbmast“ versprochen habe - bestelle ein alkoholfreies Bier und genieße den Fußballabend.

In dieses Sportcafe habe ich mich immer gesetzt, wenn ich ein Fußballspiel anschauen wollte, denn zu Hause haben wir keinen Fernseher. Gottseidank. Die Einrichtung dort und die Raumgestaltung empfinde ich als scheußlich, wie ich es überhaupt nicht mag, überdekoriert mit - für mich – beinah unerträglicher Pseudokunst; Kitsch, aber auf „moderne Kunst“ gemacht, Internationalität suggerierend, indem zum Beispiel ein eigenartiger Eifelturm an die Wand geplatscht wurde. Im hinteren Bereich gibt es einen Spielautomatensaal, der mich aber nicht tangiert, und, wenn vorne im Nichtraucherbereich Damen sitzen, die plaudern wollten, sperrt die Kellnerin noch ein Hinterzimmer mit großem Bildschirm auf, damit beide Gruppen ungestört ihren Leidenschaften frönen können. Deswegen war ich gern dort – aber nur, um Fußball zu schauen. Sobald die Übertragung anfing, war mir die Umgebung egal.
Überhaupt die Kellnerinnen! Einmal hat mir eine Kellnerin – dem Akzent nach aus Tschechien oder der Slowakei – mein großzügiges Trinkgeld wieder zurückgegeben mit der Bemerkung, das sei zuviel, ich müsse mir ja mein Geld auch erst verdienen.

Beim Trinkgeldgeben nämlich neige ich zu einer gewissen inneren Kompliziertheit. Ein freier Mann, ein richtiger Herr kann leicht Trinkgeld geben. Er kennt sich in der Welt aus, weiß seinen Wert und den Wert seines Geldes, und fühlt sich auch befähigt, die Leistung des Kellners, der Kellnerin, des Handwerkers, der Taxifahrerin einzuschätzen, und er entscheidet souverän über die Höhe des Trinkgeldes.

Nicht so ich. Erstens habe ich von der Welt des Handels und des Handelns keine Ahnung. Und zweitens hatte ich mich mein ganzes Leben lang nie souverän gefühlt. Obwohl ich in letzter Zeit ein glücklicher Mensch bin, dieses Grundgefühl Souveränität kenne ich nicht. In meinem Inneren gibt es kein Selbstwertgefühl. Ich brauche es vielleicht gar nicht mehr, jedenfalls ist es nicht da. Also schreite ich nicht als Souverän, nicht als Herr in ein Geschäft, in ein Cafe oder was auch immer. Sondern ich habe bei geschäftlichen Vorgängen wie im Restaurant etwas bestellen und an den Tisch bringen lassen, bedient werden ein mehr oder weniger starkes schlechtes Gewissen, weil mir das eigentlich nicht zusteht. So als Hintergrundrauschen.
Deswegen bin ich beim Trinkgeldgeben sehr unsicher – wieviel gibt man? Ist es genug? Ist es zuviel? Wie schaut das für die anderen aus? Beleidige ich jetzt den Kellner? Und was es so alles an Windmühlengedanken gibt.
Manchmal habe ich auf meine Unsicherheit ängstlich und knausrig reagiert, manchmal großzügig. Ja, manchmal empfinde ich das Trinkgeld, das ich gebe, fast als Bestechungsversuch, daß man so tue, als wäre ich ein souveräner Bürger, obwohl ich es nicht bin. Oder ich werde anständig behandelt und freue mich so, daß ich im Überschwang, nicht hinausgeworfen worden zu sein, in großer Dankbarkeit viel gebe. Auch wenn ich schlecht behandelt werde, kann es sein, daß ich viel gebe, aus einer Art Trotz heraus, mich von dieser Unverschämtheit und Frechheit nicht zu etwas hinreißen zu lassen, was mir nicht liegt. Oder ich habe richtig Angst und gebe viel.
Meistens nehme ich es mir heraus, eher großzügig zu sein – von meinen bescheidenen Möglichkeiten aus gesehen - und zwar mit gutem Gefühl; vor allem, wenn ich allein in ein Lokal gegangen bin. Über meine komplizierten Manöver kann ich innerlich lachen und betrachte sie selbstironisch.

Also die Kellnerin hat mir den Großteil meines Trinkgeld zurückgeben und ihres damit reduziert. Das hat mir gefallen, nicht des Geldes wegen, sondern als Handlung.

Nur, an diesem Abend hat das alles keine Rolle gespielt, denn das Sportcafe mit dem komischen Eifelturm und den Automaten im Hintergrund hatte geschlossen. Und zwar für immer.

Auf die Schnelle habe ich kein anderes Lokal mit Fernsehübertragung gefunden und so sitze ich daheim am Computer und „schaue“ den Liveticker. Frustrierend, aber dafür kann ich diese Geschichte schreiben.

In meiner frühen Jugend so um die zwölf Jahre bin ich schon einmal wegen eines Fußballspiels des ATV Irdning mit dem Rad 31,4 Kilometer nach Haus im Ennstal gefahren. Oder waren es die 38,3 Kilometer nach Schladming? Ich kann mich nicht mehr erinnern, wahrscheinlich doch Schladming. Irdninger Fans dort haben mir dann gesagt, ich hätte auch mit ihnen im Bus mitfahren können, aber auf diese Idee bin ich nicht gekommen. Das war ein Sonntag bei wechselhaftem Wetter. Ich hatte mich beim Rückweg – weil ich dachte, es geht dann eh das Ennstal hinunter bergab – was die Zeit betrifft sehr verschätzt und kam bei Regen und Dunkelheit nicht zum abgesprochenen Termin nach Hause, sodaß sich meine Eltern Sorgen machten – der Verkehr auf dieser Strecke damals selbstverständlich noch ohne Radweg war alles andere als harmlos – und die Mutter hat den Vater mit dem Moped losgeschickt, nach mir zu schauen. Das Blöde war, daß sich bei meinem Rad der Kilometerzähler verbogen hatte, ohne daß ich es merkte, und somit die vielen schönen mühsam abgestrampelten Kilometer nicht zählten. Das hat mich sehr geärgert.

In meiner Kindheit ging ich also schon öfters auf den Fußballplatz; in Irdning hatten wir zwei, den vom ATV Irdning ein Stück außerhalb des Ortes in den Ennswiesen und einen im Ort, gleich dort, wo wir wohnten, vom TUS Raumberg, der Sportverein der Höheren Bundeslehranstalt für alpine Landwirtschaft in Raumberg.
Bei einem Spiel TUS Raumberg gegen ich-weiß-nicht-wen pfiff der Schiedrichter völlig unfair gegen uns – in so einem Fall waren auch alle Irdninger Raumberger – und die Volksseele kochte vor Wut. Nach dem Ende des Spiels wurde der Schiedsrichter von einer empörten Menschenmenge zu seinem Auto „begleitet“ und verbal bei seinem Abgang „unterstützt“. Der Gendarm – an und für sich auch selber empört – versuchte die Wogen zu glätten. Ich war auch in der Menge, etwas weiter hinten, aber auch mit den anderen zornig.
Der verhaßte Schiedsrichter setzte sich mit seiner Familie – Frau und Kindern – in sein Auto und wollte wegfahren. Das Auto war von der wütenden Menge umringt und immer, wenn er losfahren wollte, hoben ein paar beherzte Männer und Burschen das Auto hinten hoch, sodaß sich die Räder vergeblich in der Luft drehten. An sich harmlos, der Mann wurde ja nicht wirklich attackiert, und es war auch lustig zu sehen, wie leicht ein Auto unbrauchbar und „unschädlich“ gemacht werden konnte. Aber mir gab es einen Stich. Das hatte ich nämlich schwer ausgehalten, wie der Schiedsrichter jetzt als Mann vor seiner Frau und als Vater vor seinen Kindern dasteht. Das wurde mir unangenehm und ich schlich mich dann nachdenklich vom Platz und ging den kurzen Weg nach Hause. Die Szene hat mich noch lange und oft beschäftigt.

Zum Turnunterricht in der Schule hatte ich ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits Abwechslung vom Sitzen, andererseits ein Ort der Beschämung und der Qual. So zum Beispiel gingen wir im Turnunterricht in der ersten Klasse Gymnasium Schifahren, der Professor, selber dick, steckt gleich einen Slalom, steht mit dem Notenbüchlein am Rand und losgehts! Torfehler, Sturz: fünf. In dieser Tonart ging es weiter.
Ich war unsportlich und ängstlich. Vor allem beim Geräteturnen. Ich war froh, wenn wir im Turnunterricht Fußball spielten, obwohl auch das mit Szenen der Beschämung und Erniedrigung verbunden war. Zwei der besten Sportler unter den Schülern wurden vom Turnlehrer als Mannschaftskapitäne bestimmt und die wählen dann ihre Mannschaft aus. Zuerst der eine einen, dann der andere einen. Ich gehörte immer zu denen, die als letzte ausgewählt wurden, die niemand in der Mannschaft haben wollte, ich war schon froh, wenn ich der Vorletzte oder Vorvorletzte war. Das hatte sich tief eingeprägt. Nur einmal, in einem Anfall von Spieleuphorie und Begeisterung bin ich als Verteidiger nach vorne gestürmt und habe ein Tor geschossen. Beim nächstenmal hat mich dann der Wilhelmer als Kapitän gleich am Anfang als zweiten oder dritten gewählt. Aber da war ich wegen der hohen Erwartungen gleich gestresst und spielte wieder schlecht und fiel in meine alte Rolle zurück und auf meinen alten, zugewiesenen Platz als Versager.

In der Oberstufe dann hatten wir als Turnlehrer Gerhard Winter, einem Pionier des Extremskisports („ski extrem“ hieß, glaube ich, ein Film in den Sechzigerjahren, an dem er entscheidend als Extremskifahrer mitwirkte). Dieser Mann sprach auch im Turnunterricht offen aus, daß er Burschen verabscheute, die ängstlich und unsportlich waren, ihre Angst und ihren Körper nicht beherrschen konnten und daß es nichts Verächtlicheres gäbe als solche Typen. Nebenbei: er war auch ein großer Jazzfan und Jazzkenner.
Sein bevorzugtes Spiel im Turnunterricht war Volleyball und da bei diesem Spiel die Mannschaften klein sind, blieben wir schlechte Sportler immer übrig und durften nur zuschauen.
Wenn schon Sport, dann lieber noch Spiele als das verhaßte Geräteturnen, das für mich meistens eine reine Qual war.
 
In Oberstufe lauschte ich schon ein paar Jahre lang regelmäßig und fanatisch der Musicbox – Punkt drei Uhr verließ ich auch die Wiese vor unserem Siedlungshaus, wo wir auch Fußball spielten, um die Musicbox zu hören. Und anscheinend hatte mich diese meine Lieblingssendung doch mit rebellischem Geist angesteckt und so ging ich einmal, als ich wieder beim Volleyballspiel zuschauen mußte, zu Professor Winter hin und sagte: „Wenn ich bei den Spielen immer nur zuschauen muß, dann mache ich auch beim Geräteturnen nicht mehr mit. Entweder beides oder gar nichts!“ Ich zitterte vor Angst, aber ich war wütend genug, mich das laut und bestimmt sagen zu trauen.

Daraufhin stellte er aus den Übriggebliebenen eine Volleyballmannschaft zusammen und ließ uns gegen eine Mannschaft der Guten spielen. Und wir spielten nicht schlecht! Wir verloren nur knapp.
Wir Schlechten untereinander mußten uns voreinander nicht genieren, uns keine Sorgen machen, daß wir jemandem einen genialen Spielzug verpatzten und ich und ein paar andere spielten befreit auf. Ein paar von uns hatten sich sportlich schon so aufgegeben, daß sie diese Chance nicht nutzten, aber die paar, die jetzt befreit von Gruppendruck und Versagerdefinition locker und mit Freude spielten, wir kämpften tapfer und spielten besser als je zuvor. Nur mit Mühe konnte uns die gegnerische Mannschaft der Guten besiegen. Das mußte sogar Professor Winter eingestehen und er sagte zu mir: „ihr habt gar nicht so schlecht gespielt!“

Aber er hat nichts daraus gelernt. In Zukunft ging es im Turnunterricht wieder genauso weiter wie vorher. Nein, um an dieser Szene etwas zu begreifen, dafür hat es nicht gereicht. Intellektuell? Emotional? Ich weiß es nicht.

Das heißt, ich verabschiedete mich immer mehr vom Sport, bis nur mehr die reinste Aversion und arrogante Verachtung übrig blieb. Mir ist fast übel geworden von den Stimmen bei Sportübertragungen in den Medien, vom aufgedrehten Tonfall der Sportreporter. Sportsendungen wurden mir ein Greuel, vor allem im Fernsehen. Ich verabscheute die Ästhetik dieser Sendungen, die Werbung bis zum Geht-Nicht-Mehr, die Logos, die Symbole, die Signations, die unterlegte Musik, die Bildsprache ….. alles.
Sport. Das war ob meiner Unsportlichkeit kein angenehmes Thema für mich und mit den Sportfans verband ich auch die Welt der bösen Buben aus meiner Kindheit.

In unserer Familie war meine Mutter trotz eigener Unsportlichkeit der größte Sportfan. Bei Fußballspielen im Fernsehen konnte sie sich bis zur Erregung hineinsteigern. Als sie einmal – schon im Alter – während einer Übertragung eines Fußballspiels ein Herzinfarkt ereilte - ein Hinterwandinfarkt, gerettet in letzter Minute nur duch einen Hubschraubereinsatz – da fragte sie, nach Tagen zum erstenmal wieder bei Bewußtsein, sofort nach dem Aufwachen: „Wie ist das Spiel ausgegangen?“ Darüber hat sich das ganze Krankenhaus amüsiert. (Das ganze? Gab es dort keine Sportverweigerer wie mich? Nachrecherchieren!).

Und wie bin ich dann doch noch zum Fußballschauen bekommen? Mein Neffe Gerhard und meine Frau oder eigentlich mein Stiefsohn bewirkten es. Gerhard war (und ist) ein Fan von Sturm Graz und damals war gerade Ivica Osim der Trainer, ein Philosoph unter den Trainern, und das kam mir sehr entgegen.
Außerdem bat mich meine Frau immer wieder, mich doch zu ihrem Sohn vor die Glotze zu setzten, wenn er Fußballübertragungen schaute und irgendwann gab ich widerwillig nach.
Das war beides zur gleichen Zeit. Und ganz schnell drehte ich mich um hundertachtzig Grad und wurde ein Fußball-, Schirennen- und Sportgaffer. Jetzt haben wir keinen Fernseher mehr, aber als wir noch einen hatten, haben sich meine Töchter schon lustig gemacht über meine Aufregung und Nervosität vor einem Rennen oder Fußballspiel, oder wenn ich „Ruhe!“ brüllte oder „Geht weg da, ich seh nichts!“ und wenn ich bei der Hymne aufstand, was ich dann erst recht machte, dann wirklich betont mit feierlicher Mine und Hand aufs Herz und innerem Schmunzeln.

Ja und deswegen habe ich am 27.3.2015 zehn Minuten vor Anpfiff konfus ein Lokal mit Fernsehübertragung gesucht, nachdem ich erschrocken feststellen mußte, daß es „mein“ Lokal mit dem zurückgegebenen Trinkgeld nicht mehr gibt.


©Peter Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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