104 Die Trinkgeldgeschichte
Den heutigen Abend - 27.3.2015 –
habe ich mir so vorgestellt: Ich komme so um 20 Uhr 30 aus der
Arbeit, eile die Alserstraße hinunter, bin in circa fünf bis sieben
Minuten in einem Sportcafe mit mindestens acht Bildschirmen, wo das
Fußballspiel Liechtenstein gegen Österreich gezeigt wird, und zwar
auch im Nichtraucherbereich und komme noch rechtzeitig zur
Bundeshymne, stehe dabei auf – wie ich es in der Geschichte „Fahne
auf Halbmast“ versprochen habe - bestelle ein alkoholfreies Bier
und genieße den Fußballabend.
In dieses Sportcafe habe ich mich immer
gesetzt, wenn ich ein Fußballspiel anschauen wollte, denn zu Hause
haben wir keinen Fernseher. Gottseidank. Die Einrichtung dort und die
Raumgestaltung empfinde ich als scheußlich, wie ich es überhaupt
nicht mag, überdekoriert mit - für mich – beinah unerträglicher
Pseudokunst; Kitsch, aber auf „moderne Kunst“ gemacht,
Internationalität suggerierend, indem zum Beispiel ein eigenartiger
Eifelturm an die Wand geplatscht wurde. Im hinteren Bereich gibt es
einen Spielautomatensaal, der mich aber nicht tangiert, und, wenn
vorne im Nichtraucherbereich Damen sitzen, die plaudern wollten,
sperrt die Kellnerin noch ein Hinterzimmer mit großem Bildschirm
auf, damit beide Gruppen ungestört ihren Leidenschaften frönen
können. Deswegen war ich gern dort – aber nur, um Fußball zu
schauen. Sobald die Übertragung anfing, war mir die Umgebung egal.
Überhaupt die Kellnerinnen! Einmal hat
mir eine Kellnerin – dem Akzent nach aus Tschechien oder der
Slowakei – mein großzügiges Trinkgeld wieder zurückgegeben mit
der Bemerkung, das sei zuviel, ich müsse mir ja mein Geld auch erst
verdienen.
Beim Trinkgeldgeben nämlich neige ich
zu einer gewissen inneren Kompliziertheit. Ein freier Mann, ein
richtiger Herr kann leicht Trinkgeld geben. Er kennt sich in der Welt
aus, weiß seinen Wert und den Wert seines Geldes, und fühlt sich
auch befähigt, die Leistung des Kellners, der Kellnerin, des
Handwerkers, der Taxifahrerin einzuschätzen, und er entscheidet
souverän über die Höhe des Trinkgeldes.
Nicht so ich. Erstens habe ich von der
Welt des Handels und des Handelns keine Ahnung. Und zweitens hatte
ich mich mein ganzes Leben lang nie souverän gefühlt. Obwohl ich in
letzter Zeit ein glücklicher Mensch bin, dieses Grundgefühl
Souveränität kenne ich nicht. In meinem Inneren gibt es kein
Selbstwertgefühl. Ich brauche es vielleicht gar nicht mehr,
jedenfalls ist es nicht da. Also schreite ich nicht als Souverän,
nicht als Herr in ein Geschäft, in ein Cafe oder was auch immer.
Sondern ich habe bei geschäftlichen Vorgängen wie im
Restaurant etwas bestellen und an den Tisch bringen lassen, bedient
werden ein mehr oder weniger starkes schlechtes Gewissen, weil mir
das eigentlich nicht zusteht. So als Hintergrundrauschen.
Deswegen bin ich beim Trinkgeldgeben
sehr unsicher – wieviel gibt man? Ist es genug? Ist es zuviel? Wie
schaut das für die anderen aus? Beleidige ich jetzt den Kellner? Und
was es so alles an Windmühlengedanken gibt.
Manchmal habe ich auf meine
Unsicherheit ängstlich und knausrig reagiert, manchmal großzügig.
Ja, manchmal empfinde ich das Trinkgeld, das ich gebe, fast als
Bestechungsversuch, daß man so tue, als wäre ich ein souveräner
Bürger, obwohl ich es nicht bin. Oder ich werde anständig behandelt
und freue mich so, daß ich im Überschwang, nicht hinausgeworfen
worden zu sein, in großer Dankbarkeit viel gebe. Auch wenn ich
schlecht behandelt werde, kann es sein, daß ich viel gebe, aus
einer Art Trotz heraus, mich von dieser Unverschämtheit und
Frechheit nicht zu etwas hinreißen zu lassen, was mir nicht liegt.
Oder ich habe richtig Angst und gebe viel.
Meistens nehme ich es mir heraus, eher
großzügig zu sein – von meinen bescheidenen Möglichkeiten aus
gesehen - und zwar mit gutem Gefühl; vor allem, wenn ich allein in
ein Lokal gegangen bin. Über meine komplizierten Manöver kann ich
innerlich lachen und betrachte sie selbstironisch.
Also die Kellnerin hat mir den Großteil
meines Trinkgeld zurückgeben und ihres damit reduziert. Das hat mir
gefallen, nicht des Geldes wegen, sondern als Handlung.
Nur, an diesem Abend hat das alles
keine Rolle gespielt, denn das Sportcafe mit dem komischen Eifelturm
und den Automaten im Hintergrund hatte geschlossen. Und zwar für
immer.
Auf die Schnelle habe ich kein anderes
Lokal mit Fernsehübertragung gefunden und so sitze ich daheim am
Computer und „schaue“ den Liveticker. Frustrierend, aber dafür
kann ich diese Geschichte schreiben.
In meiner frühen Jugend so um die
zwölf Jahre bin ich schon einmal wegen eines Fußballspiels des ATV
Irdning mit dem Rad 31,4 Kilometer nach Haus im Ennstal gefahren.
Oder waren es die 38,3 Kilometer nach Schladming? Ich kann mich nicht
mehr erinnern, wahrscheinlich doch Schladming. Irdninger Fans dort
haben mir dann gesagt, ich hätte auch mit ihnen im Bus mitfahren
können, aber auf diese Idee bin ich nicht gekommen. Das war ein
Sonntag bei wechselhaftem Wetter. Ich hatte mich beim Rückweg –
weil ich dachte, es geht dann eh das Ennstal hinunter bergab – was
die Zeit betrifft sehr verschätzt und kam bei Regen und Dunkelheit
nicht zum abgesprochenen Termin nach Hause, sodaß sich meine Eltern
Sorgen machten – der Verkehr auf dieser Strecke damals
selbstverständlich noch ohne Radweg war alles andere als harmlos –
und die Mutter hat den Vater mit dem Moped losgeschickt, nach mir zu
schauen. Das Blöde war, daß sich bei meinem Rad der Kilometerzähler
verbogen hatte, ohne daß ich es merkte, und somit die vielen schönen
mühsam abgestrampelten Kilometer nicht zählten. Das hat mich sehr
geärgert.
In meiner Kindheit ging ich also schon
öfters auf den Fußballplatz; in Irdning hatten wir zwei, den vom
ATV Irdning ein Stück außerhalb des Ortes in den Ennswiesen und
einen im Ort, gleich dort, wo wir wohnten, vom TUS Raumberg, der
Sportverein der Höheren Bundeslehranstalt für alpine Landwirtschaft
in Raumberg.
Bei einem Spiel TUS Raumberg gegen
ich-weiß-nicht-wen pfiff der Schiedrichter völlig unfair gegen uns
– in so einem Fall waren auch alle Irdninger Raumberger – und die
Volksseele kochte vor Wut. Nach dem Ende des Spiels wurde der
Schiedsrichter von einer empörten Menschenmenge zu seinem Auto
„begleitet“ und verbal bei seinem Abgang „unterstützt“. Der
Gendarm – an und für sich auch selber empört – versuchte die
Wogen zu glätten. Ich war auch in der Menge, etwas weiter hinten,
aber auch mit den anderen zornig.
Der verhaßte Schiedsrichter setzte
sich mit seiner Familie – Frau und Kindern – in sein Auto und
wollte wegfahren. Das Auto war von der wütenden Menge umringt und
immer, wenn er losfahren wollte, hoben ein paar beherzte Männer und
Burschen das Auto hinten hoch, sodaß sich die Räder vergeblich in
der Luft drehten. An sich harmlos, der Mann wurde ja nicht wirklich
attackiert, und es war auch lustig zu sehen, wie leicht ein Auto
unbrauchbar und „unschädlich“ gemacht werden konnte. Aber mir
gab es einen Stich. Das hatte ich nämlich schwer ausgehalten, wie
der Schiedsrichter jetzt als Mann vor seiner Frau und als Vater vor
seinen Kindern dasteht. Das wurde mir unangenehm und ich schlich mich
dann nachdenklich vom Platz und ging den kurzen Weg nach Hause. Die
Szene hat mich noch lange und oft beschäftigt.
Zum Turnunterricht in der Schule hatte
ich ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits Abwechslung vom
Sitzen, andererseits ein Ort der Beschämung und der Qual. So zum
Beispiel gingen wir im Turnunterricht in der ersten Klasse Gymnasium
Schifahren, der Professor, selber dick, steckt gleich einen Slalom,
steht mit dem Notenbüchlein am Rand und losgehts! Torfehler, Sturz:
fünf. In dieser Tonart ging es weiter.
Ich war unsportlich und ängstlich. Vor
allem beim Geräteturnen. Ich war froh, wenn wir im Turnunterricht
Fußball spielten, obwohl auch das mit Szenen der Beschämung und
Erniedrigung verbunden war. Zwei der besten Sportler unter den
Schülern wurden vom Turnlehrer als Mannschaftskapitäne bestimmt und
die wählen dann ihre Mannschaft aus. Zuerst der eine einen, dann der
andere einen. Ich gehörte immer zu denen, die als letzte ausgewählt
wurden, die niemand in der Mannschaft haben wollte, ich war schon
froh, wenn ich der Vorletzte oder Vorvorletzte war. Das hatte sich
tief eingeprägt. Nur einmal, in einem Anfall von Spieleuphorie und
Begeisterung bin ich als Verteidiger nach vorne gestürmt und habe
ein Tor geschossen. Beim nächstenmal hat mich dann der Wilhelmer als
Kapitän gleich am Anfang als zweiten oder dritten gewählt. Aber da
war ich wegen der hohen Erwartungen gleich gestresst und spielte
wieder schlecht und fiel in meine alte Rolle zurück und auf meinen
alten, zugewiesenen Platz als Versager.
In der Oberstufe dann hatten wir als
Turnlehrer Gerhard Winter, einem Pionier des Extremskisports („ski
extrem“ hieß, glaube ich, ein Film in den Sechzigerjahren, an dem
er entscheidend als Extremskifahrer mitwirkte). Dieser Mann sprach
auch im Turnunterricht offen aus, daß er Burschen verabscheute, die
ängstlich und unsportlich waren, ihre Angst und ihren Körper nicht
beherrschen konnten und daß es nichts Verächtlicheres gäbe als
solche Typen. Nebenbei: er war auch ein großer Jazzfan und
Jazzkenner.
Sein bevorzugtes Spiel im
Turnunterricht war Volleyball und da bei diesem Spiel die
Mannschaften klein sind, blieben wir schlechte Sportler immer übrig
und durften nur zuschauen.
Wenn schon Sport, dann lieber noch
Spiele als das verhaßte Geräteturnen, das für mich meistens eine
reine Qual war.
In Oberstufe lauschte ich schon ein
paar Jahre lang regelmäßig und fanatisch der Musicbox – Punkt
drei Uhr verließ ich auch die Wiese vor unserem Siedlungshaus, wo
wir auch Fußball spielten, um die Musicbox zu hören. Und
anscheinend hatte mich diese meine Lieblingssendung doch mit
rebellischem Geist angesteckt und so ging ich einmal, als ich wieder
beim Volleyballspiel zuschauen mußte, zu Professor Winter hin und
sagte: „Wenn ich bei den Spielen immer nur zuschauen muß, dann
mache ich auch beim Geräteturnen nicht mehr mit. Entweder beides
oder gar nichts!“ Ich zitterte vor Angst, aber ich war wütend
genug, mich das laut und bestimmt sagen zu trauen.
Daraufhin stellte er aus den
Übriggebliebenen eine Volleyballmannschaft zusammen und ließ uns
gegen eine Mannschaft der Guten spielen. Und wir spielten nicht
schlecht! Wir verloren nur knapp.
Wir Schlechten untereinander mußten
uns voreinander nicht genieren, uns keine Sorgen machen, daß wir
jemandem einen genialen Spielzug verpatzten und ich und ein paar
andere spielten befreit auf. Ein paar von uns hatten sich sportlich
schon so aufgegeben, daß sie diese Chance nicht nutzten, aber die
paar, die jetzt befreit von Gruppendruck und Versagerdefinition
locker und mit Freude spielten, wir kämpften tapfer und spielten
besser als je zuvor. Nur mit Mühe konnte uns die gegnerische
Mannschaft der Guten besiegen. Das mußte sogar Professor Winter
eingestehen und er sagte zu mir: „ihr habt gar nicht so schlecht
gespielt!“
Aber er hat nichts daraus gelernt. In
Zukunft ging es im Turnunterricht wieder genauso weiter wie vorher.
Nein, um an dieser Szene etwas zu begreifen, dafür hat es nicht
gereicht. Intellektuell? Emotional? Ich weiß es nicht.
Das heißt, ich verabschiedete mich
immer mehr vom Sport, bis nur mehr die reinste Aversion und arrogante
Verachtung übrig blieb. Mir ist fast übel geworden von den Stimmen
bei Sportübertragungen in den Medien, vom aufgedrehten Tonfall der
Sportreporter. Sportsendungen wurden mir ein Greuel, vor allem im
Fernsehen. Ich verabscheute die Ästhetik dieser Sendungen, die
Werbung bis zum Geht-Nicht-Mehr, die Logos, die Symbole, die
Signations, die unterlegte Musik, die Bildsprache ….. alles.
Sport. Das war ob meiner
Unsportlichkeit kein angenehmes Thema für mich und mit den Sportfans
verband ich auch die Welt der bösen Buben aus meiner Kindheit.
In unserer Familie war meine Mutter
trotz eigener Unsportlichkeit der größte Sportfan. Bei Fußballspielen
im Fernsehen konnte sie sich bis zur Erregung hineinsteigern. Als sie
einmal – schon im Alter – während einer Übertragung eines
Fußballspiels ein Herzinfarkt ereilte - ein Hinterwandinfarkt,
gerettet in letzter Minute nur duch einen Hubschraubereinsatz – da
fragte sie, nach Tagen zum erstenmal wieder bei Bewußtsein, sofort
nach dem Aufwachen: „Wie ist das Spiel ausgegangen?“ Darüber hat
sich das ganze Krankenhaus amüsiert. (Das ganze? Gab es dort keine
Sportverweigerer wie mich? Nachrecherchieren!).
Und wie bin ich dann doch noch zum
Fußballschauen bekommen? Mein Neffe Gerhard und meine Frau oder
eigentlich mein Stiefsohn bewirkten es. Gerhard war (und ist) ein Fan
von Sturm Graz und damals war gerade Ivica Osim der Trainer, ein
Philosoph unter den Trainern, und das kam mir sehr entgegen.
Außerdem bat mich meine Frau immer
wieder, mich doch zu ihrem Sohn vor die Glotze zu setzten, wenn er
Fußballübertragungen schaute und irgendwann gab ich widerwillig
nach.
Das war beides zur gleichen Zeit. Und
ganz schnell drehte ich mich um hundertachtzig Grad und wurde ein
Fußball-, Schirennen- und Sportgaffer. Jetzt haben wir keinen
Fernseher mehr, aber als wir noch einen hatten, haben sich meine
Töchter schon lustig gemacht über meine Aufregung und Nervosität
vor einem Rennen oder Fußballspiel, oder wenn ich „Ruhe!“
brüllte oder „Geht weg da, ich seh nichts!“ und wenn ich bei der
Hymne aufstand, was ich dann erst recht machte, dann wirklich betont
mit feierlicher Mine und Hand aufs Herz und innerem Schmunzeln.
Ja und deswegen habe ich am 27.3.2015 zehn Minuten vor Anpfiff konfus ein Lokal mit
Fernsehübertragung gesucht, nachdem ich erschrocken feststellen
mußte, daß es „mein“ Lokal mit dem zurückgegebenen Trinkgeld nicht mehr gibt.
©Peter
Rumpf 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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