Dienstag, 14. April 2015

113 Traumwohnung


In mindestens neunzig Prozent meiner Träume will ich in meine Wohnung oder mein Zimmer und es gelingt nicht. Entweder finde ich meine Wohnung nicht, oder ich finde sie, aber es ist nicht mehr meine Wohnung, weil jetzt Fremde drinnen wohnen, oder eine Tür oder ein Durchgang in die Nachbarwohnung läßt sich nicht schließen und ich merke, daß die Nachbarin meine Wohnung schon mitbenutzt oder überhaupt dabei ist, sie zu übernehmen. Oder es ist mir zum Beispiel ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft zugesagt, aber dann kommt es aus irgendeinem Grund nicht zustande – im letzten Traum hatte eine Mitbewohnerin Bedenken gegen mich, obwohl schon alles mit dem Wohnungsinhaber besprochen und abgeschlossen war. Oder ich habe das Zimmer, bin drinnen und merke, da wohnt ein anderer, entweder von vornherein oder so allmählich.

Oder ich finde gar nicht „nach Hause“. Das kann in Wien sein oder in Irdning oder wo auch immer. Oft habe ich auch nur eine vage Erinnerung: da habe ich doch irgendwo eine Wohnung! Oder?
Oder ich bin irgendwo im Ausland oder in Tirol oder sonstwo am Bahnhof und will nach Hause, finde aber nicht den richtigen Zug, oder nichteinmal den richtigen Bahnsteig. Oder ich finde den Bahnhof nicht.
Oder ich bin am Stadtrand und will in die Stadt, finde aber die S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn nicht. Ich rede mit Leuten, die mir sagen, wo die Haltestelle ist, aber ich finde sie nicht. Oder es ist die falsche. Oder ich finde die Haltestelle, aber die Straßenbahn zum Beispiel, die fährt ganz anders. Das kann übrigens auch mit den Zügen passieren. Sie kommen nie dort an, wo ich hin will. Sie fahren dann eigenartige Strecken und Umwege und ich bin auf einmal in Graz, obwohl ich nach Wien wollte oder umgekehrt oder ganz anders.

Ich denke oft, ich bin in dieser Welt immer noch nicht angekommen, habe meinen Platz nicht gefunden. Oder will ich in meinen Träumen wieder in die Welt zurück, dorthin, von wo ich gekommen bin? Immer irre ich herum; meine Wohnungen, wenn ich sie bewohnen will, erweisen sich als Illusion.
Oder ich irre zum Beispiel in Graz herum und suche meine Wohngemeinschaft. Entweder finde ich sie nicht, oder alles ist anders. Oder ich bin am Stadtrand von Graz und finde nicht in die Innenstadt.

Es gibt keine Ort, wo ich selbstverständlich bin. Immer kommt irgendetwas dazwischen, immer taucht ein Element auf, das die Selbstverständlichkeit aufhebt. Ich irre bloß herum. Immer in der Fremde.

Oder suche ich in meine Träumen Orte einer anderen Welt, die die Reste meines Alltagsbewußtseins im Traum zu bekannten Orten uminterpretieren wollen? Und es gelingt ihnen nicht ganz?
Suche ich meinen Platz in dieser Welt, oder in einer anderen? Oder irre ich hier wie dort umher? Ziellos kann man nicht sagen, denn mein Ziel ist immer mein Ort, mein Platz, meine Wohnung, mein Zimmer, mein Zuhause.

Bin ich in allen Welten obdachlos? Den Träumen nach schon. Nie gibt es ein Angekommensein, nie ein Aufatmen. Und wenn doch, dann nur kurz, bevor sich alles wieder als Irrtum herausstellt. Dieses Muster durchzieht fast alle meine Träume als Erwachsener. Und wenn ich aufwache, kann dieses Gefühl des Verlorenseins, der Unbehaustheit, des Herumirrens, des Nicht-nach-Hause-Findens lange anhalten. Manchmal den ganzen Tag.

Im Jahr 1984 habe ich auf so einen wohnungssuchenden Traum hinauf eine Aktion oder Performance in der Künstlergalerie REM gemacht. In den Kellerräumen der Galerie hatte ich mir ein großes Gehege gebaut. Der Zaun teilte die beiden Räume in etwa diagonal. Ich hatte Holzsteher montiert und einen echten Wildzaun als Gitter verwendet. Dann habe ich mir aus Holzplatten ein Podest gezimmert, um nicht am kalten Kellerboden schlafen zu müssen. Eine Plastikfolie habe ich ausgebreitet, darauf einen ordentlichen Haufen Blumenerde, für mein Bioklo, das aus einem Eimer mit Deckel bestand. In den Kübel gab ich einen großen Plastiksack, die oberen Enden außen am Eimer umgeschlagen, in den Eimer kamen ein paar Handvoll Blumenerde. Das war's dann. Bei Bedarf habe ich wieder eine Schicht Blumenerde in den Kübel gegeben, was den Geruch sehr gut absorbiert hat. Und wenn der Kübel voll war, konnte man den Sack einfach zubinden und fertig. Ich hatte wirklich an alles gedacht und mir das Ganze gut überlegt.
Im Text für die Subventionsansuchen habe ich das damals so formuliert.:

„In den Räumen von REM (Mozartplatz 4/II, 1040 Wien) wird ein Gehege gebaut; dadurch entstehen zwei voneinander klar getrennte Bereiche: Gehegeinneres und Zuschauerraum.
Ich lebe zehn Tage in diesem Gehege. Die Versorgung mit den nötigen Nahrungsmitteln erfolgt von außen.
In der ersten fünf Tagen ist REM für die Öffentlichkeit gesperrt, an den folgenden fünf Tagen für Besucher geöffnet. Das Gehege selbst bleibt natürlich versperrt, allerdings kann man mich durch den Zaun beobachten.“
„Von diesem Projekt erwarte ich mir die Schaffung eines Erlebnisraumes, der sowohl für mich, als auch für die Besucher nichtalltägliche Bereiche aufschließt. Es wird auch ein Begleitheft erscheinen.“

Das von mir gestaltete und publizierte Begleitheftchen beinhaltete Abbildungen einiger meiner Zeichnungen und einen Text, der den zugrundeliegenden Traum in literarisch verfremdeter Form erzählt.

Diese Aktion wurde von vielen falsch verstanden. Es war oft die Rede davon, daß ich mich bei dieser Performance, die ich übrigens „Haut an Haut“ nannte, habe einsperren lassen. In der Zeitschrift „Wiener“ schrieb ein Kunstkritiker, daß ich in einem Gehege wie ein ungezähmtes Tier einsperren lasse und spricht von einer „selbstquälerischen Performance“. Das war ein Mißverständnis, eine Projektion! Denn ich habe mich nicht einsperren lassen, sondern ich habe mich eingesperrt; oder noch genauer gesagt: ich habe die anderen ausgesperrt. Im Gehege weit und breit kein wildes Tier. Und wenn schon, dann ein scheues. Ich hatte den Schlüssel im Gehege. Ich hätte jederzeit hinaus können. Nein, ich wollte mir meinen Platz verschaffen.

Wenn ich allein war, fühlte ich mich da herinnen ganz wohl. Mir war nicht langweilig ohne Medien. Ich bin im geräumigen Gehege auf und ab gegangen, habe gesungen (auch Kirchenlieder), was mir halt alles so eingefallen ist.

Wenn Besucher herunter kamen, hatte ich schon manchmal auch bei ihnen eine gewisse Scheu feststellen können. Bei Insidern weniger; da konnten einzelne mich auch durch den Zaun so ansprechen, daß ich mich bedrängt fühlte.

Zu Eröffnung hatte ich eine kleine Performance inszeniert. Ich hatte mich mit den vorhandenen Dingen wie Decken, Kleidungsstücken als Narrenkönig mit Unterhose am Kopf verkleidet und aus Klopapierrollen, Obst, Schnüren und anderes Zeug einen absurden Thronwagen gebastelt, der natürlich nicht fahren konnte. Ich weiß noch, die zwei Pferde, die den Wagen ziehen sollten, waren zwei leere Halblitermilchpackerl. Der Wagen selber war das Holzpodest, das ich mir zum Schlafen gebaut hatte. In der Zeitschrift Kunstforum (Bd. 77/78, 9-10/85, Jan./Febr.) liest sich das so: „angetan mit Parodie von Königsmantel und Stab, umgeben von Lebensmitteln,...“
Ich kann mich noch erinnern, daß ich zum Schluß nicht so recht aus meinem Gehege raus wollte.

Der Traum, der mich zu dem Ganzen inspirierte, ging so:

Ich wandere durch einen Wald und sehe, hier leben viele Menschen in einer losen Gemeinschaft. Ihre Wohnräume bestehen aus Zimmern, die im Dickicht ausgeschnitten sind. Meistens in ein paar Metern Höhe in den Bäumen. Im Traum war das möglich. Es gab diese Baumkronen- und Dickichtwohnungen für Einzelne, für Paare, Familien, Gruppen.
Mir gefiel diese Art zu wohnen und ich fragte an, ob auch ich hier wohnen dürfe. Der zuständige Mann sagte „ja“ und drückte mir eine Kettensäge in die Hand, damit ich mir ein Zimmer ausschneiden kann. Ich gehe an eine Stelle, die mir passend erschien, und wollte mit der Arbeit beginnen. Doch dann konnte ich nicht. Ich konnte die Kettensäge nicht ansetzen. Ich hatte große Angst vor Verletzungen, und zwar bei mir, bei den andern, bei den Bäumen.





©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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