113 Traumwohnung
In mindestens neunzig Prozent meiner
Träume will ich in meine Wohnung oder mein Zimmer und es gelingt nicht. Entweder finde ich meine Wohnung nicht, oder ich finde sie, aber
es ist nicht mehr meine Wohnung, weil jetzt Fremde drinnen wohnen,
oder eine Tür oder ein Durchgang in die Nachbarwohnung läßt sich
nicht schließen und ich merke, daß die Nachbarin meine Wohnung
schon mitbenutzt oder überhaupt dabei ist, sie zu übernehmen. Oder
es ist mir zum Beispiel ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft
zugesagt, aber dann kommt es aus irgendeinem Grund nicht zustande –
im letzten Traum hatte eine Mitbewohnerin Bedenken gegen mich, obwohl
schon alles mit dem Wohnungsinhaber besprochen und abgeschlossen war.
Oder ich habe das Zimmer, bin drinnen und merke, da wohnt ein
anderer, entweder von vornherein oder so allmählich.
Oder ich finde gar nicht „nach
Hause“. Das kann in Wien sein oder in Irdning oder wo auch immer. Oft
habe ich auch nur eine vage Erinnerung: da habe ich doch irgendwo
eine Wohnung! Oder?
Oder ich bin irgendwo im Ausland oder
in Tirol oder sonstwo am Bahnhof und will nach Hause, finde aber
nicht den richtigen Zug, oder nichteinmal den richtigen Bahnsteig.
Oder ich finde den Bahnhof nicht.
Oder ich bin am Stadtrand und will in
die Stadt, finde aber die S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn nicht. Ich
rede mit Leuten, die mir sagen, wo die Haltestelle ist, aber ich
finde sie nicht. Oder es ist die falsche. Oder ich finde die Haltestelle, aber
die Straßenbahn zum Beispiel, die fährt ganz anders. Das kann
übrigens auch mit den Zügen passieren. Sie kommen nie dort an, wo
ich hin will. Sie fahren dann eigenartige Strecken und Umwege und ich
bin auf einmal in Graz, obwohl ich nach Wien wollte oder umgekehrt
oder ganz anders.
Ich denke oft, ich bin in dieser Welt
immer noch nicht angekommen, habe meinen Platz nicht gefunden. Oder
will ich in meinen Träumen wieder in die Welt zurück, dorthin, von
wo ich gekommen bin? Immer irre ich herum; meine Wohnungen, wenn ich
sie bewohnen will, erweisen sich als Illusion.
Oder ich irre zum Beispiel in Graz
herum und suche meine Wohngemeinschaft. Entweder finde ich sie nicht,
oder alles ist anders. Oder ich bin am Stadtrand von Graz und finde
nicht in die Innenstadt.
Es gibt keine Ort, wo ich
selbstverständlich bin. Immer kommt irgendetwas dazwischen, immer
taucht ein Element auf, das die Selbstverständlichkeit aufhebt. Ich
irre bloß herum. Immer in der Fremde.
Oder suche ich in meine Träumen Orte
einer anderen Welt, die die Reste meines Alltagsbewußtseins im Traum
zu bekannten Orten uminterpretieren wollen? Und es gelingt ihnen
nicht ganz?
Suche ich meinen Platz in dieser Welt,
oder in einer anderen? Oder irre ich hier wie dort umher? Ziellos
kann man nicht sagen, denn mein Ziel ist immer mein Ort, mein Platz,
meine Wohnung, mein Zimmer, mein Zuhause.
Bin ich in allen Welten obdachlos? Den
Träumen nach schon. Nie gibt es ein Angekommensein, nie ein
Aufatmen. Und wenn doch, dann nur kurz, bevor sich alles wieder als
Irrtum herausstellt. Dieses Muster durchzieht fast alle meine Träume
als Erwachsener. Und wenn ich aufwache, kann dieses Gefühl des
Verlorenseins, der Unbehaustheit, des Herumirrens, des
Nicht-nach-Hause-Findens lange anhalten. Manchmal den ganzen Tag.
Im Jahr 1984 habe ich auf so einen
wohnungssuchenden Traum hinauf eine Aktion oder Performance in der
Künstlergalerie REM gemacht. In den Kellerräumen der Galerie hatte
ich mir ein großes Gehege gebaut. Der Zaun teilte die beiden Räume
in etwa diagonal. Ich hatte Holzsteher montiert und einen echten
Wildzaun als Gitter verwendet. Dann habe ich mir aus Holzplatten ein
Podest gezimmert, um nicht am kalten Kellerboden schlafen zu müssen.
Eine Plastikfolie habe ich ausgebreitet, darauf einen ordentlichen
Haufen Blumenerde, für mein Bioklo, das aus einem Eimer mit Deckel
bestand. In den Kübel gab ich einen großen Plastiksack, die oberen
Enden außen am Eimer umgeschlagen, in den Eimer kamen ein paar Handvoll
Blumenerde. Das war's dann. Bei Bedarf habe ich wieder eine Schicht
Blumenerde in den Kübel gegeben, was den Geruch sehr gut absorbiert
hat. Und wenn der Kübel voll war, konnte man den Sack einfach
zubinden und fertig. Ich hatte wirklich an alles gedacht und mir das
Ganze gut überlegt.
Im Text für die Subventionsansuchen
habe ich das damals so formuliert.:
„In den Räumen von REM
(Mozartplatz 4/II, 1040 Wien) wird ein Gehege gebaut; dadurch
entstehen zwei voneinander klar getrennte Bereiche: Gehegeinneres und
Zuschauerraum.
Ich lebe zehn Tage in diesem Gehege.
Die Versorgung mit den nötigen Nahrungsmitteln erfolgt von außen.
In der ersten fünf Tagen ist REM für
die Öffentlichkeit gesperrt, an den folgenden fünf Tagen für
Besucher geöffnet. Das Gehege selbst bleibt natürlich versperrt,
allerdings kann man mich durch den Zaun beobachten.“
„Von diesem Projekt erwarte ich mir
die Schaffung eines Erlebnisraumes, der sowohl für mich, als auch
für die Besucher nichtalltägliche Bereiche aufschließt. Es wird
auch ein Begleitheft erscheinen.“
Das von mir gestaltete und publizierte
Begleitheftchen beinhaltete Abbildungen einiger meiner Zeichnungen
und einen Text, der den zugrundeliegenden Traum in literarisch
verfremdeter Form erzählt.
Diese Aktion wurde von vielen falsch
verstanden. Es war oft die Rede davon, daß ich mich bei dieser
Performance, die ich übrigens „Haut an Haut“ nannte, habe
einsperren lassen. In der Zeitschrift „Wiener“ schrieb ein
Kunstkritiker, daß ich in einem Gehege wie ein ungezähmtes Tier
einsperren lasse und spricht von einer „selbstquälerischen
Performance“. Das war ein Mißverständnis, eine Projektion! Denn
ich habe mich nicht einsperren lassen,
sondern ich habe mich
eingesperrt; oder noch genauer gesagt: ich habe die anderen
ausgesperrt. Im Gehege weit und breit kein wildes Tier. Und wenn
schon, dann ein scheues. Ich hatte
den Schlüssel im Gehege. Ich hätte jederzeit hinaus können. Nein,
ich wollte mir meinen Platz verschaffen.
Wenn ich allein
war, fühlte ich mich da herinnen ganz wohl. Mir war nicht langweilig
ohne Medien. Ich bin im geräumigen Gehege auf und ab gegangen, habe
gesungen (auch Kirchenlieder), was mir halt alles so eingefallen ist.
Wenn Besucher
herunter kamen, hatte ich schon manchmal auch bei ihnen eine gewisse
Scheu feststellen können. Bei Insidern weniger; da konnten einzelne
mich auch durch den Zaun so ansprechen, daß ich mich bedrängt
fühlte.
Zu Eröffnung hatte
ich eine kleine Performance inszeniert. Ich hatte mich mit den
vorhandenen Dingen wie Decken, Kleidungsstücken als Narrenkönig mit
Unterhose am Kopf verkleidet und aus Klopapierrollen, Obst, Schnüren
und anderes Zeug einen absurden Thronwagen gebastelt, der natürlich
nicht fahren konnte. Ich weiß noch, die zwei Pferde, die den Wagen
ziehen sollten, waren zwei leere Halblitermilchpackerl. Der Wagen
selber war das Holzpodest, das ich mir zum Schlafen gebaut hatte. In
der Zeitschrift Kunstforum (Bd. 77/78, 9-10/85, Jan./Febr.) liest
sich das so: „angetan mit Parodie von Königsmantel und Stab,
umgeben von Lebensmitteln,...“
Ich kann mich noch
erinnern, daß ich zum Schluß nicht so recht aus meinem Gehege raus
wollte.
Der Traum, der mich
zu dem Ganzen inspirierte, ging so:
Ich wandere durch
einen Wald und sehe, hier leben viele Menschen in einer losen
Gemeinschaft. Ihre Wohnräume bestehen aus Zimmern, die im Dickicht
ausgeschnitten sind. Meistens in ein paar Metern Höhe in den Bäumen.
Im Traum war das möglich. Es gab diese Baumkronen- und
Dickichtwohnungen für Einzelne, für Paare, Familien, Gruppen.
Mir gefiel diese
Art zu wohnen und ich fragte an, ob auch ich hier wohnen dürfe. Der
zuständige Mann sagte „ja“ und drückte mir eine Kettensäge in
die Hand, damit ich mir ein Zimmer ausschneiden kann. Ich gehe an
eine Stelle, die mir passend erschien, und wollte mit der Arbeit
beginnen. Doch dann konnte ich nicht. Ich konnte die Kettensäge
nicht ansetzen. Ich hatte große Angst vor Verletzungen, und zwar bei
mir, bei den andern, bei den Bäumen.
©Peter
Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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