117 Jodler
Ich war recht zufrieden, als ich an
diesem Sonntagmorgen aufgestanden war. Ich hatte eine gute Nacht, war
ausgeschlafen, meine Frau begann schon, das Frühstück herzurichten,
ich goß die Blumenkisterl am Fenster – meine kleine Wiese, wo
gerade der Löwenzahn herrlich gelb blühte – bereitete die Wäsche
für die Waschmaschine, stopfte die Vierziggrädige hinein, gab die
Kugel mit dem Waschmittel dazu und schaltete die Maschine ein. Dann
trug ich Teller, Tassen und Besteck zum Eßtisch, legte noch dieses
und jenes dazu und dachte mir dann: „ich könnte den Radio
aufdrehen!“
Das mache ich selten. Von meinem Job im
Callcenter her sind meine Ohren die meiste Zeit über zugedröhnt und
ich bin froh, wenn es still ist. Aber heute hatte ich Lust, mich
etwas berieseln zu lassen und drehte das Radio auf. Aber es ging
nicht. „Aha, den Stecker einstecken“. Es ging trotzdem nicht.
„Dann werden die Lautsprecher am Plattenspieler angeschlossen
sein“, denke ich mir, aber ich bin zu faul, um das wieder
umzustecken.
Meine Frau holt ihr
Küchentransistorradio ins Wohnzimmer, jetzt – sozusagen im
Tageslicht – sieht man erst, wie mitgenommen das Gerät von den
Küchendämpfen ist. Ich stecke es an und es ertönt irgendsoein
hysterischer Sender. Und auch wenn ich den einen oder anderen Song
mögen könnte, ich mag nicht diesen überdrehten Tonfall der Ansagen
und der unvermeidlichen Werbeeinschaltungen und suche einen anderen
Sender. Das geht nicht so leicht, denn das Radio hat einen
Wackelkontakt und die aufgefundenen Sender kippen gleich wieder weg.
Endlich finde ich einen, der „hält“
und es erklingt ein echter, langsamer Jodler. „Gut“, denke ich
mir, „bleiben wir dabei“ und frage noch meine Frau, ob es auch
für sie okey ist.
Binnen Sekunden bin ich von diesem
Jodler erfaßt und ich beginne zu weinen. So plötzlich, daß ich
selber überrascht bin. Innerlich sehe ich das Elternhaus vor mir,
meine Eltern und das Radio in der Küche am Brett an der Wand, aus
dem Volksmusik klingt. Der Schmerz trifft mich unvorbereitet und
tief: das wird es nie mehr geben!
Meine Mutter ist vor zwei Jahren, mein
Vater vor zweieinhalb Jahren gestorben, aber der Schmerz, den ich
jetzt empfinde, ist so frisch, als würde ich es erst jetzt
begreifen: meine Eltern sind tot.
Ich werde nie mehr in ihr Haus, in ihre
Welt eintreten und dort ihre Volksmusik hören und die belanglosen
Worte wechseln, die man halt so spricht, wenn man zu jemandem eine
eher zurückgenommene, zurückhaltende Beziehung hat.
Gerade war ich noch in Gedanken bei
einem Text, den ich in Arbeit hatte, ob der gut ist oder schlecht,
was ich ändern könnte, mit tagträumerischen Abschweifungen, in
denen ich einen Verlag finde, als Schriftsteller leidlich erfolgreich
bin, davon leben kann und dafür Anerkennung finde. Trotz dieser
Ausschweifungen, die ich ja durchaus „kritisch“ sehe, hielt ich
mich an diesem zufriedenen Sonntagmorgen für einen nüchternen,
gefaßten, halbwegs bewußten Mann, der seine Stärken und Schwächen
einigermaßen kennt, ebenso seine Versuchungen und Fallen und seine
„Probleme“. Und plötzlich sitze ich da und heule wie ein Kind um
meine Eltern.
Ich versuche mich zu beherrschen, denn
es ist mir meiner Frau gegenüber doch etwas peinlich. Inzwischen
spielen sie im Radio Blasmusik, die ich eigentlich nicht mag. Aber
auch sie hält meine visionäre Erinnerung an meine Eltern und ihr
Haus aufrecht und wieder treibt es mir die Tränen in die Augen. Ich
sehe alles vor mir, die geräumige Küche, den Herd, den Tisch mit
der Eckbank, die Bilder darüber an der Wand. Meine Mutter hantiert
am Herd, mein Vater holt Äpfel aus dem Keller oder ein Bier. Ich bin
gerade angekommen und wir setzen uns zum Essen an den Tisch.
„Bauernjazz“ sage ich mit
freundlichem Spott zu meiner Frau, aber doch im Versuch, wieder die
Oberhand zu gewinnen – durch intellektuelle Überheblichkeit. Der
weitere Verlauf der Sendung hilft mir dabei, denn jetzt kommt der
reine Kitsch. Auch die Stimme des Moderators klingt manieriert, so
als fehlte ihr der Sitz im Leben, das sie hier repräsentieren will.
Nur ein Lied kann mich noch echt
berühren.
Im Nachhinein tut es mir leid, daß ich
meinen Tränen nicht einfach freien Lauf gelassen habe. Was will ich
aufrecht erhalten? Es kann nur etwas Fragwürdiges sein, wenn es den
Schmerz verdrängen muß.
©Peter
Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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