Sonntag, 19. April 2015

117 Jodler


Ich war recht zufrieden, als ich an diesem Sonntagmorgen aufgestanden war. Ich hatte eine gute Nacht, war ausgeschlafen, meine Frau begann schon, das Frühstück herzurichten, ich goß die Blumenkisterl am Fenster – meine kleine Wiese, wo gerade der Löwenzahn herrlich gelb blühte – bereitete die Wäsche für die Waschmaschine, stopfte die Vierziggrädige hinein, gab die Kugel mit dem Waschmittel dazu und schaltete die Maschine ein. Dann trug ich Teller, Tassen und Besteck zum Eßtisch, legte noch dieses und jenes dazu und dachte mir dann: „ich könnte den Radio aufdrehen!“

Das mache ich selten. Von meinem Job im Callcenter her sind meine Ohren die meiste Zeit über zugedröhnt und ich bin froh, wenn es still ist. Aber heute hatte ich Lust, mich etwas berieseln zu lassen und drehte das Radio auf. Aber es ging nicht. „Aha, den Stecker einstecken“. Es ging trotzdem nicht. „Dann werden die Lautsprecher am Plattenspieler angeschlossen sein“, denke ich mir, aber ich bin zu faul, um das wieder umzustecken.

Meine Frau holt ihr Küchentransistorradio ins Wohnzimmer, jetzt – sozusagen im Tageslicht – sieht man erst, wie mitgenommen das Gerät von den Küchendämpfen ist. Ich stecke es an und es ertönt irgendsoein hysterischer Sender. Und auch wenn ich den einen oder anderen Song mögen könnte, ich mag nicht diesen überdrehten Tonfall der Ansagen und der unvermeidlichen Werbeeinschaltungen und suche einen anderen Sender. Das geht nicht so leicht, denn das Radio hat einen Wackelkontakt und die aufgefundenen Sender kippen gleich wieder weg.
Endlich finde ich einen, der „hält“ und es erklingt ein echter, langsamer Jodler. „Gut“, denke ich mir, „bleiben wir dabei“ und frage noch meine Frau, ob es auch für sie okey ist.

Binnen Sekunden bin ich von diesem Jodler erfaßt und ich beginne zu weinen. So plötzlich, daß ich selber überrascht bin. Innerlich sehe ich das Elternhaus vor mir, meine Eltern und das Radio in der Küche am Brett an der Wand, aus dem Volksmusik klingt. Der Schmerz trifft mich unvorbereitet und tief: das wird es nie mehr geben!

Meine Mutter ist vor zwei Jahren, mein Vater vor zweieinhalb Jahren gestorben, aber der Schmerz, den ich jetzt empfinde, ist so frisch, als würde ich es erst jetzt begreifen: meine Eltern sind tot.
Ich werde nie mehr in ihr Haus, in ihre Welt eintreten und dort ihre Volksmusik hören und die belanglosen Worte wechseln, die man halt so spricht, wenn man zu jemandem eine eher zurückgenommene, zurückhaltende Beziehung hat.

Gerade war ich noch in Gedanken bei einem Text, den ich in Arbeit hatte, ob der gut ist oder schlecht, was ich ändern könnte, mit tagträumerischen Abschweifungen, in denen ich einen Verlag finde, als Schriftsteller leidlich erfolgreich bin, davon leben kann und dafür Anerkennung finde. Trotz dieser Ausschweifungen, die ich ja durchaus „kritisch“ sehe, hielt ich mich an diesem zufriedenen Sonntagmorgen für einen nüchternen, gefaßten, halbwegs bewußten Mann, der seine Stärken und Schwächen einigermaßen kennt, ebenso seine Versuchungen und Fallen und seine „Probleme“. Und plötzlich sitze ich da und heule wie ein Kind um meine Eltern.

Ich versuche mich zu beherrschen, denn es ist mir meiner Frau gegenüber doch etwas peinlich. Inzwischen spielen sie im Radio Blasmusik, die ich eigentlich nicht mag. Aber auch sie hält meine visionäre Erinnerung an meine Eltern und ihr Haus aufrecht und wieder treibt es mir die Tränen in die Augen. Ich sehe alles vor mir, die geräumige Küche, den Herd, den Tisch mit der Eckbank, die Bilder darüber an der Wand. Meine Mutter hantiert am Herd, mein Vater holt Äpfel aus dem Keller oder ein Bier. Ich bin gerade angekommen und wir setzen uns zum Essen an den Tisch.

„Bauernjazz“ sage ich mit freundlichem Spott zu meiner Frau, aber doch im Versuch, wieder die Oberhand zu gewinnen – durch intellektuelle Überheblichkeit. Der weitere Verlauf der Sendung hilft mir dabei, denn jetzt kommt der reine Kitsch. Auch die Stimme des Moderators klingt manieriert, so als fehlte ihr der Sitz im Leben, das sie hier repräsentieren will.
Nur ein Lied kann mich noch echt berühren.

Im Nachhinein tut es mir leid, daß ich meinen Tränen nicht einfach freien Lauf gelassen habe. Was will ich aufrecht erhalten? Es kann nur etwas Fragwürdiges sein, wenn es den Schmerz verdrängen muß.




©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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